Читать книгу Frauenstimmrecht - Brigitte Studer - Страница 14
Оглавление1893 erhielten die Frauen Neuseelands das Wahlrecht. Einige amerikanische Gliedstaaten waren vorausgegangen; die ersten Staaten Europas führten es nach der Jahrhundertwende ein, 1906 zuerst Finnland, dann, nach dem Ersten Weltkrieg, gab es eine grosse Welle, nach dem Zweiten Weltkrieg eine kleinere, in der fast alle folgten. International noch kaum beachtet, hatten die zu Grossbritannien gehörenden Pitcairninseln das Frauenstimmrecht bereits 1838 eingeführt. Nur in der Schweiz dauerte es bis 1971; so spät erst wurde den Schweizerinnen der Status von politischen Rechtssubjekten gewährt.1
Der formale Ausschluss der Frauen aus der Politik ging der Legitimation dieses Ausschlusses voran. Benötigte die Französische Revolution vier Jahre, bevor sie die Frauenklubs schloss und die Jakobiner-Frauen damit aus der neu konstituierten öffentlichen Sphäre verbannten, erledigten dies die eidgenössischen Verfassungsgeber 1848 still und diskussionslos. Sie etablierten ein universelles Männerstimmrecht, das die kommenden 123 Jahre den Schweizer Stolz begründete, die «älteste Demokratie der Welt» geschaffen zu haben – eine Demokratie, die mit anderen inkommensurabel war. Für die Schweiz, meinen Brigitte Schnegg und Christian Simon, waren zur Zeit der Helvetischen Republik die grossen Kämpfe der Frauen bereits stellvertretend in Frankreich entschieden worden, die Männer waren gewarnt.2 Die entstehende bürgerliche Gesellschaft distanzierte sich von der in ihren Augen verweichlichten aristokratischen Gesellschaftsordnung und ihren geschlechtergemischten Geselligkeitsformen, wie sie in der Schweiz auch die urbanen patrizischen Oberschichten in Bern, Neuenburg, Genf und Lausanne pflegten. Das Geschlecht galt nun für das politische Partizipationsrecht als ausschlaggebend. Die schweizerische Aufklärung, angeführt vom Zürcher Kreis um Johann Jakob Bodmer, orientierte sich an den alten Schweizer Tugenden Wehrhaftigkeit, Sparsamkeit, Sittenstrenge, von Rousseau idealisiert und auch von den französischen Republikanern zum Vorbild gemacht. Neu kam die Vernunft hinzu, wie die Politik eine Männersache. Weiblichkeit galt als deren Gegensatz. Die Frauen hatten im Haus zu wirken, da konnten sie als Gattin und Mutter schalten und walten. Die Vertretung gegen aussen der als arbeitsteilige wirtschaftliche Einheit funktionierenden Familie fiel hingegen dem Mann zu. Er verkörperte das bürgerliche Rechtssubjekt. Wie Carole Pateman gezeigt hat, war die Geschlechterdifferenz für die Bildung der neuen politischen Öffentlichkeit im Liberalismus konstitutiv.3
Das ganze 19. Jahrhundert und beinahe das ganze 20. Jahrhundert bemühten sich Theoretiker, den Ausschluss der Frauen zu legitimieren. In einem kaum enden wollenden Redeschwall juristischer, philosophischer, literarischer und medizinischer Stellungnahmen und Schriften erklärten sie, dass diese Organisation der Gesellschaft der Geschlechternatur entspreche. Paradigmatisch formulierte es der Schweizer Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli: «Der Staat ist entschieden männlichen Charakters.» Im Endeffekt wurde ein soziales Konstrukt – die polarisierte bürgerliche Geschlechterordnung – naturalisiert. Dabei schrieben diese Theoretiker nicht nur gegen die seit der Aufklärung ertönenden feministischen Stimmen an, etwa einer Mary Wollstonecraft, sondern auch gegen einzelne Vertreter ihres eigenen Geschlechts, etwa einen Marquis de Condorcet, der sich zum Prinzip der Gleichheit aller Menschen bekannte und die politische Rechtlosigkeit von Frauen aufgrund einer wie auch immer verstandenen biologischen Differenz ablehnte.
Einigkeit herrschte im 19. Jahrhundert aber nur in Bezug auf das Verständnis der Geschlechterordnung, das die erst raren dissidenten Stimmen noch nicht zu erschüttern vermochten; sie dienten freilich als Warnung, dass dies nicht immer so bleiben könnte. Der Streit um politische Ordnungen hingegen, zwischen direkter Demokratie und Elitenherrschaft, zwischen Republikanismus und Liberalismus, zwischen Konservatismus und Radikalismus, zwischen Landsgemeinde und Parlamentarismus, zwischen Gemeindeautonomie und Zentralismus, löste sich nie ganz auf, auch wenn sich diese Elemente in der entstehenden eidgenössischen politischen Kultur allmählich vermischten. Es herrschte jedenfalls die Vorstellung vor, dass die politische Vertretung dem Familienhaupt zukam, und dieses war legal und habituell männlich. Frauen standen in vielen Kantonen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter der männlichen Vormundschaft, die verheirateten mit dem Zivilgesetzbuch von 1912 de facto sogar bis 1988. Der Rückgriff auf eine mythologisierte Schlachtengeschichte, alimentiert durch die Offizialisierung der heroischen Vergangenheit, waren der Sicherung eines männerbündischen Gemeinwesens ebenso förderlich wie das Aufblühen einer exklusiven Männersoziabilität in patriotischen Vereinen, Berufsorganisationen und nicht zuletzt in der Milizarmee.4 Zum Ursprung und Kern des Schweizer Nationalkonstrukts wurde die Landsgemeinde stilisiert. Bis weit ins 20. Jahrhundert galt sie fälschlicherweise selbst Feministinnen als das Modell, das hinter der Verfassung des Bundesstaats stand.5 Das verlieh jenen Vertretern der Kantone eine Aura der Unantastbarkeit, wenn sie behaupteten, dass das Frauenstimmrecht mit der Schweizer Demokratietradition und ihren Formen nicht kompatibel wäre. «Wenn Sie uns unsere Landsgemeinden zerstören, zerstören Sie ein Stück Heimat», meinte 1966 ein Glarner Ständerat in Verteidigung seiner «Männergemeinde».6 Erst spät verlor der Erhalt des Schweizer «Männerstaats» – so ein Befürworter des Frauenstimmrechts in derselben Debatte – an Legitimität.7 Das Bekenntnis zur nationalkulturellen Selbstwahrnehmung stellte Gleichstellungsforderungen eine Falle, argumentiert Caroline Arni, bedeutete es doch ein Bekenntnis zu einem politischen Gemeinwesen, das ohne Frauen auskam.8
Der Weg, über die Erweiterung der zugewiesenen Rolle im häuslichen und karitativen Bereich, über die «domestication of politics»,9 Gleichstellung zu erreichen, führte daher nicht weit. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lösten sich einzelne Frauen von dieser Hoffnung, auf lokalpolitischer Ebene und dank ihres moralischen Auftrags zum Ziel zu kommen, und erhoben die Forderung von gleichen politischen Rechten. 1909, im selben Jahr übrigens, als in Frankreich die Union française pour le suffrage des femmes entstand, bildeten die Schweizerinnen dann ihre nationale Interessenorganisation für das «integrale» Stimm- und Wahlrecht, also für dieselben politischen Rechte wie die Männer.
Auch dieser Weg war lang, wie im Folgenden zu zeigen ist. Nicht zuletzt, weil die Ungleichheit der Geschlechter durch die Arbeit der Behörden und Parlamente, Parteien und Gewerkschaften immer wieder neu hergestellt und konsolidiert wurde.10 Dargestellt wird zuerst das politische Handeln der Stimmrechtsaktivistinnen und -aktivisten sowie ihrer Gegnerschaft in Kantonen und Bund. Danach richtet sich der Fokus auf die Akteurinnen und Akteure. Schliesslich wird nach den argumentativen Strategien in dieser langjährigen und virulenten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzung gefragt.