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Vor der Jahrhundertwende bis 1912: die organisationale und politische Konstruktionsphase

In der Schweiz ertönte die Frage der Geschlechtergleichstellung erst nach der Wachstumskrise Ende der 1880er-Jahre wieder zaghaft in der Öffentlichkeit. Die Frauenfrage wurde damals zur sozialen Frage. Das Studium stand Frauen nun an fast allen Schweizer Universitäten offen. Mit der revidierten Bundesverfassung war der Schulbesuch für alle Kinder obligatorisch geworden und kostenlos. 1882 bildeten die Frauen die Hälfte der Belegschaften in den Fabriken. Auch die Frauen aus der Mittelschicht begannen ins Erwerbsleben einzutreten, sei es am unteren Ende als Angestellte der Post oder am oberen wie Marie Heim-Vögtlin, die 1874 als erste Frau eine Praxis für Gynäkologie eröffnete.

Das Werden einer Forderung

Es waren aber vorerst immer noch einzelne, isolierte Stimmen, die sich zu Wort meldeten. Von der restlichen Schweiz unbeachtet, hatten 1892 anlässlich der kantonalen Verfassungsrevision vier Tessiner Grossräte beantragt, das Frauenstimmrecht einzuführen – erfolglos.30 Als erster Intellektueller verteidigte der Lausanner Philosophieprofessor Charles Secrétan (1815–1895) in seiner 1885 publizierten Schrift «Le droit de la femme» mit ähnlicher Argumentation wie Marie Goegg-Pouchoulin die politische Gleichheit. Der Zugang zu den politischen Rechten würde den Frauen ermöglichen, ihre Interessen zu verteidigen und mache die Frau erst zur juristischen Person. Am 1. Januar 1887 forderte die Bündner Aristokratin Meta von Salis (1855–1929) in einer Zeitung der Demokraten, der Züricher Post, das Frauenstimmrecht aus Gerechtigkeitsgründen. Wie neu und provokatorisch das Anliegen damals tönte, zeigt der Titel «Ketzerische Neujahrsgedanken einer Frau» sowie der redaktionelle Kommentar, dass es sich um eine Zuschrift handle und man diese aus Gründen der Meinungsfreiheit veröffentliche.31 Von Salis erfuhr aber bald, dass es Wege gab, unliebsame Frauen mundtot zu machen. Für ihre Stellungnahme für die Ärztin Caroline Farner wurde sie wegen Ehrverletzung angeklagt, worauf sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog. Anders Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), die erste Juristin der Schweiz und im deutschsprachigen Raum: Sie gründete in Zürich 1893 die Zeitschrift Frauenrecht und den progressiven Frauenrechtsschutzverein. Nach Abschluss ihres Studiums 1887 war sie wegen ihres fehlenden Aktivbürgerrechts nicht zur Advokatur zugelassen worden. Sie reichte beim Bundesgericht Rekurs ein, scheiterte jedoch mit ihrer Klage, wonach Art. 4 BV «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich» sich auf die politische Gleichberechtigung der Frauen beziehen liesse.32 Dieser BGE schuf einen folgenreichen Präzedenzfall.33

Die Forderung des Frauenstimmrechts war Ende des 19. Jahrhunderts noch umstritten, auch international. Selbst der International Council of Women, die erste Frauenorganisation, die sich ab 1888 transnational für die Menschenrechte der Frauen einsetzte, vermied es in den ersten 15 Jahren seiner Existenz, zu den politischen Rechten der Frauen Stellung zu nehmen.34 1899 wurde das Thema sogar kontrovers traktandiert. Das führte zur Spaltung und 1904 zur Gründung der International Woman Suffrage Alliance (IWSA), der Speerspitze des transnationalen Stimmrechtskampfs.

Der erste Schweizerische Kongress für die Interessen der Frau, der 1896 in Genf stattfand, traktandierte das Frauenstimmrecht noch gar nicht. Mehrere Redner behandelten das Thema gleichwohl. Die beiden Genfer Professoren Louis Wuarin (1846–1927) und Louis Bridel (1852–1913) sprachen sich beide für die Einführung des Frauenstimmrechts aus, allerdings mit jeweiligen Vorbehalten. Wuarin meinte, die Frauen müssten es sich zuerst durch Dienstleistungen an der Allgemeinheit verdienen; Bridel erwartete zwar eine moralische Besserung der Gesellschaft, plädierte aber für ein etappenweises Vorgehen in der Gleichstellungspolitik, beginnend bei der zivilrechtlichen Gleichstellung bis hinauf zur politischen.35 Der Kongress in Genf skizzierte einige der Pfade, die in den folgenden Jahrzehnten beschritten werden sollten: zum einen den meritokratischen Weg über den weiblichen Leistungsbeweis, zum anderen das schrittweise politische Vorgehen. Er zeigt im Übrigen die Rolle transnationaler Vorbilder für den politischen Lernprozess des Schweizer Feminismus auf. Die Organisatorinnen Julie Ryff (1831–1908), Helene von Mülinen (1850–1924), Emma Boos-Jegher (1857–1932), Pauline Chaponnière-Chaix (1850–1934) und Camille Vidart (1854–1930) folgten dem Muster der amerikanischen Feministinnen und ihrem Woman’s Building an der Weltausstellung von Chicago im Jahr 1893, zu deren Anlass diese den Weltkongress der Frauen durchführten. Auch die Schweizerinnen liessen ihren Kongress örtlich und zeitlich mit einem Grossereignis zusammenfallen und profitierten so von der öffentlichen Aufmerksamkeit, welche die Schweizer Landesausstellung generierte. Eduard, der Mann von Emma Boos-Jegher, der die Chicagoer Ausstellung besucht hatte, diente als transatlantischer Ideenübermittler.

Die Gründung einer nationalen Stimmrechtsorganisation am 28. Januar 1909 ging ebenfalls auf einen internationalen Impuls zurück. Bis dahin existierten einzig kantonale respektive lokale Verbände, beginnend 1905 in den Städten Neuenburg und Olten, 1907 in Genf und Lausanne, gefolgt 1908 von Gruppierungen in den Städten Bern und La Chaux-de-Fonds. In Zürich bestand seit 1893 der Frauenrechtsschutzverein, der 1896 mit dem Schweizerischen Verein für Frauenbildungsreform zur Union für Frauenbestrebungen fusionierte. Erst auf Einladung der Präsidentin der IWSA, Carrie Chapman Catt, an den internationalen Kongress vom Juni 1908 in Amsterdam formierten die Schweizerinnen den gemischtgeschlechtlichen Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht (SVF) mit 765 Mitgliedern.

In der Schweiz erhob 1897 mit Carl Hilty (1833–1909) erstmals ein gewichtiger Vertreter der Elite seine Stimme zugunsten des Frauenstimmrechts. In dem von ihm gegründeten «Politischen Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft» schlug der Professor des Bundesstaatsrechts und Völkerrechts an der Universität Bern, der bald darauf Vertreter der Eidgenossenschaft an der ersten Haager Friedenskonferenz und Mitglied des internationalen Schiedsgerichtshofs in Den Haag war, einen Verfassungsartikel vor, der allerdings den Kantonen die letzte Entscheidung vorbehielt.36 Hilty kritisierte zwar die herrschende Geschlechterordnung klar und deutlich als Machtausübung der Männer, die Frauen lieber ausgeschlossen haben wollten, doch in Bezug auf die politische Taktik blieb er zurückhaltend. Mit seinen föderalistischen Rücksichten legitimierte er ein etappenweises Vorgehen.

Partielle Rechte oder integrales Stimmrecht?

Die Forderung des Frauenstimmrechts gewann nach der Jahrhundertwende an Legitimität, beschränkte sich aber vorerst noch auf partielle Rechte. Die erste Abstimmung, am 4. November 1900 im Kanton Bern, war dank Eingaben durch den Berner Lehrerinnenverband und die Christlich-Soziale Vereinigung vom Regierungsrat veranschlagt worden, sie bezog sich aber nur auf die Wahl von Frauen in die Schulkommissionen. Fast siebzig Prozent der stimmberechtigten Männer lehnten ab. Der Berner Jura zeigte sich dem Anliegen gegenüber freundlicher gesinnt. Der Bezirk Freibergen stimmte sogar mit 632 zu 407 Stimmen zu.37

Während die bürgerliche Frauenbewegung um die Jahrhundertwende erst moderate Anliegen wie das passive Wahlrecht für die Schul- und Armenbehörden anvisierte, begann die Arbeiterbewegung nach und nach, das Frauenstimmrecht zu befürworten und engagierte sich allmählich auch dafür. Als erste Schweizer Organisation sprach sich 1893 der Schweizerische Arbeiterinnenverband (SAV) für das integrale Frauenstimmrecht aus. Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) folgte 1904, die österreichische war bereits 1892 vorausgegangen. Am Kongress von Stuttgart 1907 wurden alle Parteien der Sozialistischen Internationale auf die Verteidigung der Forderung verpflichtet. Doch erst am Parteitag von 1912 folgten auf Druck von weiblichen Mitgliedern auch Taten seitens der Schweizer Parteigenossen.38 So reichte der St. Galler sozialdemokratische Grossrat Johannes Huber noch im selben Jahr die erste Motion zugunsten des Frauenstimmrechts ein.39 Gleichzeitig folgten die Arbeiterinnenvereine dem Beschluss der Sozialistischen Internationale und traten als Organisation aus dem Bund Schweizerischer Frauenvereine (BSF) aus, denn «sozialistische Frauenvereine dürfen nicht Kollektivmitglied bürgerlicher Frauenvereine sein».40 In Bezug auf die Frauenstimmrechtsvereine fehlte ein solcher Konsens. Als das Thema am Parteitag 1913 nochmals auf die Traktandenliste kam, wurde der Antrag, dass die Sozialdemokratinnen aus den «bürgerlichen» Stimmrechtsvereinen austreten sollten, abgelehnt. Eine Abgrenzung gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung blieb zwar bestehen, doch eine Zusammenarbeit war in Bezug auf das Frauenstimmrecht von Fall zu Fall möglich.41

Mit dem SAV, der SP und dem SVF, der nur Sektionen aufnahm, die sich für das integrale Frauenstimmrecht aussprachen, stand nun die Forderung nach politischer Gleichstellung der Frauen mit den Männern im Raum. Mittlerweile hatten mit Finnland 190642 und Norwegen 1913 auch zwei europäische Länder den Frauen das integrale Wahlrecht gewährt. Bis dahin drehten sich die Debatten fast ausschliesslich um beschränkte politische Rechte wie das passive Wahlrecht oder ein partielles Stimm- und Wahlrecht in Schul- oder Armenkommissionen oder kirchlichen Angelegenheiten. Auf diesem Gebiet – und nur diesem – waren erste rechtliche Erfolge zu verzeichnen (passives Wahlrecht in die Schulkommissionen in Genf; Armenpflege im Wallis 1898; Schulbehörden in Basel-Stadt 1903, St. Gallen 1905, Waadt 1906, Neuenburg 1908 etc., siehe Karten 13, S. 191193). In der Praxis wurden aber nur wenige Frauen gewählt. In Genf wurde 1914 das aktive und passive Wahlrecht für die gewerblichen Schiedsgerichte durch eine Initiative sogar wieder abgeschafft.

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