Читать книгу Der Reeder - Brigitte Tholen - Страница 6

Оглавление

Kapitel 3

Kriminalkommissar Rau warf eine dünne Akte auf den Schreibtisch und fluchte. "Dieses Scheiß-Wetter geht mir auf den Geist. Meine Frau geht mir auf den Geist. Jetzt auch noch dieser verdammte Mordfall! Ich frage Sie, meine Liebe, was hat das Leben noch so auf Lager für mich?"

Michaela Kröger wusste nicht genau, ob die Frage ihres Vorgesetzten rhetorisch gemeint war oder ob sie darauf antworten sollte.

Vor einem Dreivierteljahr war sie von der Oldenburger Sitte zum Morddezernat nach Leer gewechselt und hatte es noch nicht bereut. Sie träumte davon, einmal diese Abteilung zu leiten, und hängte sich voller Eifer in jeden Fall.

Leider hatte sie nichts Neues zu berichten. Sie hielt eine Akte in der Hand und las vor: "Das Opfer war einen Meter und sechsundsiebzig groß, das Körpergewicht betrug achtzig Kilo. Sein Alter: Mitte dreißig. Er hatte einen Ehering am Finger, ist also wahrscheinlich verheiratet. Keinerlei Schriftstücke oder Papiere, die Aufschluss über seine Familie geben könnten. Keine Geldbörse oder Brieftasche in seinem Anzug. Kein Telefon. Nur der Name Meißner an der Tür. Ich habe im ganzen Haus nachgefragt, aber niemand konnte mir sagen, ob er Freunde oder eine Freundin hatte. Wäre der Zeitschriftenwerber nicht so neugierig gewesen, wer weiß, wann wir den Toten entdeckt hätten. Die Wohnungstür stand ein Stück offen. Ich sage Ihnen, wer total anonym leben will, der sollte in dieses Haus ziehen."

"Wieso?"

"Ein Single-Haus. Keine Ehepaare. Die Wohnungen werden möbliert vermietet, sehen alle gleich aus. Wahrscheinlich im Hauruck-Verfahren fertig gestellt. Alle gleich tapeziert, alle gleich geschmacklos eingerichtet, bis auf die Wohnung des Opfers."

Kommissar Rau sah seine Assistentin finster an.

"Sind Sie jetzt unter die Innenarchitekten gegangen oder was? Sagen Sie mir lieber, ob die Spurensicherung schon was gefunden hat."

Michaela zuckte die Achseln. "Nada, nichts. Der Mörder muss eine Generalreinigung in der Wohnung durchgeführt haben." Sie liebte es, einige spanische Wörter einzustreuen, die sie im letzten Urlaub auf Mallorca gelernt hatte.

"Das Tatwerkzeug, ein Rasiermesser mit goldenem Griff und Ziselierungen war ebenfalls blitzblank und ohne Fingerabdrücke. Die ungefähre Todeszeit ist vom dritten auf den vierten April, also gestern, zwischen Mitternacht und ein Uhr. Das Labor hat uns bis jetzt nur mitgeteilt, dass man einzelne schwarze Haare gefunden hat. Lang. Das deutet auf eine Frau als Täter hin, aber wer kann das heute schon genau sagen. Meine Güte", Michaela feixte, "hoffentlich wurde sein gutes Stück erst nach dem Tode abgeschnitten."

Kommissar Rau stapelte einige Papiere vor sich auf den Schreibtisch und grollte: "Bewegen Sie Ihren hübschen Hintern in Richtung Einwohnermeldeamt. Wir müssen erfahren, wer dieser Mann ist und woher er kommt."

Kommissar Rau lächelte grimmig, als die Tür hinter seiner Assistentin laut zuschlug. Wenigstens hatte er etwas von seinem Frust abgeben können. Sein Gesicht lockerte sich etwas. Er stand auf, trat ans Fenster und sah auf den Autoverkehr. Die Turmuhr-Glocke von der nahen Kirche schlug gerade zwölf. Sein Blick wanderte ohne viel Hoffnung zum wolkenverhangenen Himmel. Es hatte sich eingeregnet und würde so schnell nicht wieder aufhören. Er fröstelte.

Und jetzt auch noch dieser Mord. Es gab keinerlei Anhaltspunkte. Er fühlte eine Blockade in seinem sonst so regen Verstand.

Wie lange hatte er schon keinen richtigen Urlaub mehr gemacht? In der wenigen Freizeit, die ihm blieb, schleppte ihn seine Frau ins Theater oder zu Freunden. Viel lieber würde er mal wieder einen guten Kriminalroman lesen und sich über seine fiktiven Kollegen amüsieren oder seinem Hobby, dem Malen, nachgehen.

Es nutzte alles nichts. Die hängenden Schultern strafften sich. Er musste jetzt und hier einen Fall lösen. Vorher wollte er noch schnell bei der Internetauktion nachschauen. Es waren alte Kriminalistik-Bücher angeboten worden. Seit einigen Tagen steigerte er mit und lauerte darauf, dass er die interessanten Bände bekam. Heute wurde die Auktion geschlossen, und er hoffte, dass niemand ihn überboten hatte. Rasch rief er im Computer die Site auf. Die Verbindung kam sekundenschnell zustande. Nach Eingabe seines Passwortes gelangte er in den gesicherten Bereich. Gott sei Dank, bis jetzt hatte ihn noch niemand übersteigert. Wenn er Glück hatte, würde der Auktionator ihm schon morgen eine Mail schreiben.

Er verließ die Site und schaltete zufrieden den Computer aus.

Jetzt wollte er sich die Wohnung des Opfers noch einmal ansehen. Vielleicht war etwas übersehen worden. Wenn er es sich genau überlegte, musste die Wohnung in der Rathausstraße eine Zweitwohnung sein. Es war nur wenig Kleidung im Schrank gefunden worden, die aber nicht der Größe des Opfers entsprach. Keinerlei Papiere. War der Tote vielleicht gar nicht Meißner? Der Anruf bei dem Vermieter in Bremen blieb erneut erfolglos. Hoffentlich war er nicht ausgerechnet jetzt in Urlaub. Bevor Rau ging, rief er beim Labor an und bat um einen schnellstmöglichen Bericht.

* * *

Er drosselte die Geschwindigkeit und schaltete vom vierten in den zweiten Gang. Langsam rollte der Audi aus. Direkt vor dem Haus fand er einen Parkplatz. Einige Minuten blieb Kommissar Rau noch im Auto sitzen und betrachtete die Umgebung. Sein routinierter Blick nahm jede Kleinigkeit wahr. Rechts war das "Single-Haus", wie die Kröger es genannt hatte, in dem der Mord geschehen war. Es war mit rotem Backstein verklinkert und machte einen gepflegten Eindruck. Er wusste, dass es sechs Wohnungen hatte. Nach seinen Informationen waren alle Mieter berufstätig und wahrscheinlich außer Haus.

Die Fenster zur Straße waren auf Kippvorrichtung geöffnet. Nur das Fenster des Tatorts war geschlossen. Gardinen, alle im gleichen Muster, versperrten neugierigen Blicken die Sicht in die Räume.

Er wollte gerade seine Augen auf die andere Straßenseite richten, als er bemerkte, dass sich eine der Gardinen bewegte. Eine schmale Hand kam zum Vorschein und schloss das Fenster.

Also war doch jemand im Haus. Rau überlegte.

Zweiter Stock links. Die Apothekenhelferin. Frau Ullrich, geb. Hartmann. Geschieden.

Bevor er ausstieg, richtete er noch einmal kurz seinen Blick auf die andere Straßenseite. Zwei seiner Leute führten dort eine Befragung durch. Er würde erst einmal mit Frau Ullrich sprechen und anschließend den Tatort alleine auf sich wirken lassen.

Schwerfällig quälte er sich aus dem Auto, stieß mit dem Knie gegen die Lenksäule und fluchte. Mit seinen fast zwei Metern hatte er immer Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen.

Langsam schlenderte er auf das Haus zu. Der Himmel hatte vorübergehend die Schleusentore geschlossen. Es roch nach nassem Asphalt und die Luft war feuchtkalt. Fröstelnd zog er seine Schultern hoch.

Eine vollschlanke Mittdreißigerin, brünett, überquerte die Straße und lief dicht an Rau vorbei. Eine leichte Alkoholfahne wehte ihm um die Nase.

Er beobachtete, wie sie vor dem "Single-Haus" stehen blieb und die Haustür aufschloss. Gerade noch schaffte er es, die Tür aufzuhalten, bevor sie wieder ins Schloss fiel. Er lauschte. Die Schritte gingen zum ersten Stockwerk.

Interessant. Das musste die Wohnung von Duis sein. Einem Vertreter für Baustoffe. Während der Hausbefragung hatte niemand bei ihm aufgemacht.

Hauptkommissar Rau überlegte kurz.

Ullrich oder die Brünette zuerst? Seine Instinkte waren für brünett.

Das Treppenhaus unterschied sich in nichts anderen Miethäusern in der Stadt. Auf blanken Messingschildern waren Namen angebracht. Im ersten Stock stand rechts Meißner, links Duis. Vor der linken Tür blieb er stehen. Lauschte und klingelte, als er nichts hörte. Wenig später wurde die Tür aufgerissen. Braune Augen musterten ihn neugierig. Der rot geschminkte Mund lächelte ihn fragend an.

Man merkt ihr den Alkohol nicht an, dachte Rau und zeigte seinen Ausweis.

"Mein Name ist Kommissar Rau. Ich habe ein paar Fragen zum Tod ihres Nachbarn. Wenn ich kurz hereinkommen darf?"

Die Brünette sah ihn verwundert an und trat zur Seite. Erneut roch er den Alkohol, als er an ihr vorbei die Wohnung betrat. Im kahlen, ungemütlich wirkenden Wohnzimmer bat sie ihn, Platz zu nehmen. Sie selber lehnte sich mit dem Rücken an die hohe Fensterbank, die bis auf ein vertrocknetes Alpenveilchen leer war.

"Ein Toter, hier im Haus? Wovon sprechen Sie? ... Ich weiß nichts darüber."

"Sind Sie Frau Duis?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin die Freundin. Mein Name ist Sabine Wiegand. Wolfgang, ich meine Herr Duis, ist leider nicht zu Hause. Er besucht einen Lehrgang in Bremen. Wenn er verreist ist, bleibe ich in meiner Wohnung und sehe hier nur nach der Post."

Während sie sprach, rieb sie ununterbrochen ihre Unterarme. Ihr Teint war fahl. Kinn und Wangen hatten bereits eine hängende Tendenz. Mit halbgeschlossenen Augen unterzog er das Zimmer einer Blitzbesichtigung. Auf dem Tisch drei Briefe, eine Schachtel Marlboro daneben. Auf der Couch lagen zerfledderte Zeitschriften. Ein grob gestrickter Männerpullover lag über der Lehne.

Kommissar Rau hob den Kopf und sah Sabine Wiegand direkt in die Augen.

"In der Wohnung gegenüber ist ein Toter gefunden worden. Kannten Sie Herrn Meißner?"

Frau Wiegands Augenlider flatterten für den Bruchteil einer Sekunde. Ihr Blick richtete sich auf einen Punkt an der kahlen Wand.

"Mein Gott, das ist ja schrecklich. Nein, ich kannte ihn nicht. Das heißt, nicht näher. Vorgestern bin ich ihm im Hausflur begegnet. Wolfgang glaubt, dass er in Wirklichkeit gar nicht hier wohnt, weil er immer nur für einige Stunden, höchstens für ein, zwei Nächte bleibt. Wahrscheinlich ein reicher, frustrierter Ehemann, der sich hier sein Vergnügen holte. Arrogant war er. Grüßte nur kurz. Ich weiß nicht, worauf der sich was einbildete."

"Woher wissen Sie, dass es Meißner war?"

"Was..? Wieso?" Verwirrt sah sie ihn an. "Na, weil er die Wohnungstür aufgeschlossen hat."

"Bekam er hin und wieder Besuch?"

Sie stieß sich mit beiden Händen von der Fensterbank ab. "Keine Ahnung. Ich achte nicht darauf, wer bei wem zu Besuch ist. "

Rau spürte den Ärger in ihren Worten. Ganz ruhig fragte er: "Haben Sie eine Frau bei ihm gesehen, als er vorgestern kam?"

Sie verzog abfällig ihren Mund.

"Ja, genauso hochnäsig wie er. Ich sah sie kurz, als sie mit ihm ins Haus kam. Ich wollte gerade Wolfgangs Wohnungstür aufschließen. Mein Gott, sie sah aus wie ein Flittchen. Ich dachte noch, der muss es aber nötig haben. Holt sich was von der Straße. Nicht mal angesehen hat sie mich. Einfach den Kopf zur Seite gedreht. Schwarze Lack-Stiefel mit hohem Schaft. Der grüne Rock war nicht viel länger als ihr Gürtel breit. Die weiße Bluse war voller Schlitze, durch die man ihre nackte Haut sehen konnte. Die langen, schwarzen Haare hatten ihr Gesicht verdeckt. Man konnte es nicht richtig erkennen ..." Frau Wiegand unterbrach ihren Redestrom und sah den Kommissar nachdenklich an. "Irgendwie wirkte sie unecht", meinte sie dann. Ihre Stirn zog sich in Falten, und wieder ging ihr Blick auf einen imaginären Punkt hinter dem Beamten. Dann zuckte sie die Achseln. "Ich weiß gar nicht, warum mir das jetzt plötzlich auffällt."

Rau spürte es in seiner Jagdseele kitzeln. Ruhig bleiben, dachte er. Sie jetzt nur nicht verunsichern.

Und schon sprach sie weiter. "Wenn ich darüber nachdenke, wirkte alles an ihr unecht. War sie es vielleicht, die ihn getötet hat?"

"Das kann man nicht so einfach sagen. Ich müsste schon etwas mehr über sie wissen. Wie oft haben Sie die Frau denn gesehen?"

"Nur einmal."

"Könnten Sie die Frau so beschreiben, dass unser Polizeizeichner ein Bild im Computer erstellen kann?"

"Nein, ich sagte ja bereits, dass die Haare vor dem Gesicht waren. "

"Kam sie mit dem eigenen Auto?"

"Weiß ich nicht".

"An welchem Tag haben Sie sie gesehen?"

"Na, ich sagte doch schon, vorgestern. Wolfgang ist am 3. April vormittags nach Bremen gefahren. Genau. Und ich kam abends hierher, weil ich meine Blutdruck-Tabletten vergessen hatte."

"Wieviel Uhr war das ungefähr?"

Diesmal kam ihre Antwort prompt. "Fünf Minuten vor 23.00 Uhr. Meine Armbanduhr fing an zu piepsen. Ich hatte den Alarm eingestellt, damit ich den Film Die Verblendeten nicht verpasse".

Rau hob die Brauen. Hatte sie die Mörderin gesehen?

"Wie groß war die Frau? War sie schlank oder eher mollig?"

Frau Wiegands Augen bekamen Glanz und waren nicht mehr nur auf einen Punkt fixiert. Die Aussicht, vielleicht Zeugin in einem Mordfall zu werden, schien sie anzuregen.

"Sie war etwas größer als ich, vollbusig, aber mit schmaler Taille."

"Wie alt ungefähr?"

"So etwa dreißig, vielleicht ein wenig älter. Hätte ich das Gesicht besser sehen können, wäre es leichter zu sagen."

"Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?"

Sie zuckte die Schultern. "Nein, ihn selber sah ich ja auch nur dieses eine Mal. Ein unsympathischer Typ".

"Gut". Kommissar Rau stand schwerfällig auf. Aus der Brieftasche zog er eine Visitenkarte und reichte sie ihr.

"Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, rufen Sie mich an. Ihrem Freund richten Sie bitte aus, dass er bei uns im Kommissariat vorbeikommen soll."

Frau Wiegand nickte und begleitete ihn zur Wohnungstür.

Als Rau die Treppe hoch zu Frau Ullrich ging, fragte er sich, was für ein Typ Wolfgang Duis wohl war. Der Wohnung hatte er jedenfalls seinen Stempel noch nicht aufgedrückt. Alles viel zu unpersönlich, als Besucher hatte man den Eindruck, da zieht jemand gerade ein oder schon wieder aus. Frau Wiegand hatte auch keinerlei Ambitionen gezeigt, alles ein wenig wohnlicher zu machen.

Vor der Tür von Frau Ullrich blieb er stehen und klingelte. Alles blieb ruhig. Er versuchte es erneut. Nichts. Sie musste in der Zwischenzeit das Haus verlassen haben. Auch gut. Sie lief ihm nicht davon. Er würde jetzt erst einmal den Tatort aufsuchen. Er ging die Treppenstufen wieder hinunter, entfernte das Siegel und betrat die Wohnung. Stickige Luft schlug ihm entgegen. Herr Meißner hatte zwar nur einige Monate hier gewohnt, aber im Gegensatz zu Duis die Wohnung ein wenig freundlicher gestaltet.

Farben wie Blau, Grün und Gelb wiederholten sich in Teppichläufern, modernen Bildern und Accessoires. Das Wohnzimmer war aufgeräumt und nur einige Rückstände der Spurensicherung waren noch sichtbar. Er ging weiter zum Schlafzimmer. Vor dem großen Messingbett blieb er stehen. Die Laken und das Bettzeug waren entfernt und längst im Labor. Nur auf der Matratze waren noch Blutflecken zu erkennen. Langsam setzte er sich aufs Bett. Hier hatte der Tote seinen letzten Atemzug getan. Kommissar Rau versuchte ein Gefühl für die letzten Minuten des Opfers zu bekommen. Seine Blicke wanderten langsam zu den Messingstäben. War das ganze vielleicht ein Unfall während eines Sado-Maso-Spiels? Aber wieso dann dieser Ausraster mit dem Rasiermesser? Hatten sie versucht, den letzten "Kick" zu bekommen? Rau schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht daran. Gerade bei dieser Art von Sexpraktiken waren die Beteiligten sehr auf Sicherheit bedacht. Es könnte auch ein Ritualmord gewesen sein.

Als Fesseln hatte man Baumwollseile, circa einen Zentimeter dick, benutzt. Sie waren weich und ließen sich schlecht lösen. Rau hatte gesehen, wie die Enden sich bereits aufgedröselt hatten. Zu kaufen waren solche Seile in jedem Baumarkt oder Segelbedarfsgeschäft. Das würde also nicht weiterhelfen.

Man hatte die Fesselung mit mehreren Wicklungen gemacht, aber zu eng angezogen. Hautabschürfungen an Hand- und Fußgelenken des Opfers zeigten das.

Vielleicht hatten sie es das erste Mal gemacht. Ein Unfall?

Nein, Rau war sich sicher. Das war geplanter Mord. Und zwar eiskalt geplant. Das Labor hatte schwarze Haare gefunden. War die Frau, die Duis Freundin gesehen hatte, die Täterin?

Er seufzte. Es war einfach noch zu früh, um irgendetwas sagen zu können. Langsam erhob er sich vom Bett und sah auf seine Armbanduhr. Sechzehn Uhr und zehn Minuten. Es wurde Zeit, zurückzufahren und zu sehen, was die anderen erreicht hatten. Er verließ die Wohnung. Sorgfältig klebte er ein neues Siegel auf die Tür und versah es mit seinem Namen.

* * *

Rau war froh, endlich Feierabend zu haben. Bei der Befragung, die seine Mitarbeiter durchgeführt hatten, war nicht viel herausgekommen. Die Kröger konnte beim Einwohnermeldeamt ebenfalls nichts erfahren. Ein Meißner war unter dieser Adresse nicht gemeldet. Eine Vermisstenanzeige, auf die die Beschreibung des Opfers passte, hatte auch niemand aufgegeben.. Morgen war Kleinarbeit und die unselige Büroarbeit am Computer fällig. Fingerabdruckvergleich, war der Tote vorbestraft? Dann hätten sie wenigstens seine Identität. Und so weiter.

Rau gähnte und fuhr sich müde über die Augen. Sein Magen knurrte inzwischen wie eine tollwütige Dogge. Er nahm den blauen Parka vom Kleiderständer und verließ das Büro. Auf dem Vorplatz des Polizeigebäudes stand sein Wagen. Seitdem die Behörden sparen mussten, wurden kaum noch Dienstfahrzeuge angeschafft. Deshalb fuhr er mit seinem fünf Jahre alten Audi, der schon so manche Festnahme erlebt hatte. Für seine Frau hatte er einen kleinen Corsa gekauft, mit dem sie ständig unterwegs war. Rau wunderte sich immer wieder, wie sie es schafften, mit seinem Gehalt auszukommen. Er fuhr Richtung Fußgängerzone und bog dann vorher links in die Neue Straße ein. Vor einem Zweifamilienhaus hielt er an, wo sie das Erdgeschoss mit herrlichem Blick zum Hafen gemietet hatten.

In diesem Moment sah Rau, wie ein Küstenmotorschiff auslief, die hohen Masten waren weithin sichtbar. Es war die "Emsstrom", ein Containerschiff, mit einem Arbeitskran in der Mitte. Die Ankerwinde stand ziemlich weit vorne. Um über die vier Lagen Container noch etwas sehen zu können, hatte der Kapitän die Steuerhausbrücke hochgefahren. "Fünfzehn Meter über der Wasserlinie", schätzte der Kommissar.

Die vielen Touristen, die sich das Schauspiel ansahen, störten ihn nicht. Im Gegenteil, oft saß er am Sonntagnachmittag auf einer Bank und unterhielt sich mit ihnen. Rau war in dieser Stadt, dem Tor Ostfrieslands, wie man sie nannte, geboren worden. Und er war stolz darauf. Nach Hamburg war sie mit acht Reedereien die zweitgrößte Reedereistadt. Schiffe aus den Niederlanden, England und aus Russland frequentierten den Hafen. Er hätte sich niemals vorstellen können, woanders zu leben. In der wenigen freien Zeit saß er manchmal hier und malte. Es war eine beruhigende Tätigkeit nach einem langen Arbeitstag. Die Bilder stapelten sich in einer alten Mappe. Wahrscheinlich würde nie jemand seine Aquarelle zu sehen bekommen.

Er schloss den Wagen ab. Vom Rathaus schlug die Uhr siebenmal. Als er die Wohnungstür aufstieß, telefonierte seine Frau gerade.

"Klar, du kannst auf mich zählen, ich helfe dir. Okko kommt gerade rein, ich will mich schnell um das Abendbrot kümmern. Also, bis dann, tschüss, Marlies."

Rau hatte sich bereits den Parka ausgezogen und goss sich in der Küche ein Glas Mineralwasser ein, als seine Frau zu ihm kam. Sie sah ihn fragend an: "Macht es dir etwas aus, wenn ich gleich noch mal fortgehe? Marlies hat so viel Papierkram für unsere Frauenpartei zu erledigen. Ich habe ihr versprochen zu helfen."

Rau nahm einen Schluck Mineralwasser und brummte dann: "Selbst wenn ich etwas dagegen hätte, du hast es ihr ja bereits versprochen."

Frau Rau reckte ihre schmale Gestalt und ihre Stimme wurde einen Ton höher. "Ich beschwere mich auch nicht, wenn du oft nächtelang mit deiner Arbeit oder dem Computer beschäftigt bist. Ich habe mich nun einmal für die Frauenpartei aufstellen lassen. Ein Grund dafür war, dass ich außer meinem Haushalt auch noch eine Beschäftigung haben wollte, die mich herausfordert. Du hast schließlich deinen Beruf und willst nicht, dass ich arbeite. Eine Frau gehört für dich noch immer hinter den Herd."

Rau setzte sich müde auf einen Stuhl. "Irene, ich habe nichts dagegen, dass du dich noch anderweitig betätigst. Aber dieses blöde Emanzentheater mag ich einfach nicht mehr hören. Du kannst dich doch bei mir wirklich nicht beklagen."

Das hätte er besser nicht sagen sollen. Frau Raus Augen wurden riesengroß und sie schnappte hörbar Luft, bevor sie zu einer wütenden Erwiderung ansetzte.

"Unser Emanzentheater ist leider bitter nötig. Ihr sprecht uns einfach logisches Denken ab und schreibt uns vor, wie wir zu handeln haben. Ha, dass ich nicht lache."

"Ich weiß, ich weiß. Adam hat schließlich in den Apfel gebissen", murmelte er. Bevor sie weiterreden konnte und möglicherweise kein Ende mehr fand, hob Rau abwehrend die Hand und unterbrach seine Frau barsch: "Bei mir wird es langsam Zeit, dass ich mein Abendessen bekomme. Ich will es mir auch wohl selber machen. Aber lass mich jetzt mit so einem Unsinn in Ruhe. Ich bin müde. Ich habe schon genug Ärger im Dienst und will mich ausruhen. Ich bin wirklich müde, und wenn du etwas sensibler wärst, dann müsstest du das spüren. Bitte!"

Wäre dieses "Bitte" nicht gewesen, hätte Irene sicherlich nicht aufgehört. So aber wurden ihre Augen milder, und sie schien erst jetzt zu bemerken, wie ausgelaugt und angespannt ihr Mann war. Sie ging zu ihm, legte einen Arm um seine Schulter und drückte ihn.

"Ich weiß Okko, es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wir werden uns mal an einem ruhigen Abend darüber unterhalten. Geh schon mal ins Esszimmer, dein Essen kommt gleich. Möchtest du einen Strammen Max?"

Dankbar darüber, einem längeren Ehestreit aus dem Weg gegangen zu sein, nickte er und ging hinüber ins andere Zimmer. Er musste zugeben, dass Irene ein gutes Händchen für häusliches Interieur hatte. Das rötliche Holz der Kirschbaummöbel war harmonisch mit warmen Grüntönen der Tischdecke und der Übergardinen abgestimmt. Das Esszimmer war ins Wohnzimmer integriert. Von hier aus konnte man die Nachrichten im Fernseher bequem verfolgen.

Der Stramme Max schmeckte hervorragend. Das kühle Bier brachte ihm das erste Mal seit Stunden ein Gefühl der Entspannung. Seine Frau hatte die Tageszeitung auf den Tisch gelegt. Bereits mit dem Mantel bekleidet, stand sie jetzt vor ihm. Zärtlich küsste sie ihn auf die Wange.

"Warte nicht auf mich. Es kann später werden."

Rau war bereits nach zehn Minuten mit der Zeitung auf dem Bauch eingeschlafen.

Der Reeder

Подняться наверх