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ОглавлениеKapitel 5
Kriminalkommissar Rau schluckte hungrig den Rest seines Brötchens hinunter. Mit der linken Hand suchte er die Telefonnummer vom Besitzer des Single-Hauses. Nach dem vierten Klingeln meldete sich Herr Hartmann. Die Wohnung sei seit einem Dreivierteljahr als Zweitwohnsitz an einen Herrn Meißner aus Brake vermietet, antwortete er auf die Frage des Kommissars. Rau teilte dem erstaunten Vermieter mit, dass man in der Wohnung eine Leiche gefunden habe. Man könne noch nicht mit Gewissheit sagen, ob es wirklich Herr Meißner sei. Rau bat Herrn Hartmann deshalb um eine Personenbeschreibung. Der überlegte einen Augenblick und beschrieb Herrn Meißner dann als mittelgroß, mit dunklem Haar und eher ein wenig dicklich.
Die Beschreibung passte zwar, aber sie konnte auch auf andere Personen zutreffen.
Rau versicherte dem Vermieter, man werde ihm Bescheid geben, und legte den Hörer auf die Gabel. Er stand auf, öffnete die Tür zum Nebenzimmer und rief: "Kommen Sie, Frau Kröger, wir fahren nach Brake."
Rau war bereits auf dem Flur, als seine Assistentin auftauchte.
"Haben wir eine Spur?"
"Wir wissen jetzt, wo Meißner seinen Hauptwohnsitz hat. Kennen Sie sich in Brake aus?"
"Nee", Michaela zuckte die Achseln. "Bin ich nie gewesen."
"Macht nichts, wir werden es schon finden."
Sie waren inzwischen vor dem Auto angekommen. Rau öffnete die Tür und quälte sich hinters Steuer. Michaela mit ihren knapp einen Meter siebzig hatte diese Probleme nicht. Sie lehnte sich entspannt zurück und freute sich, für kurze Zeit dem Bürokram entronnen zu sein.
Die Fahrt ging erst auf die Autobahn Oldenburg. Nördlich von Oldenburg weiter Richtung Brake-Nordenham. Die Straße war frei. Sie kamen gut voran.
Rau, dessen Laune sich gebessert hatte, wollte wissen: "Na, Frau Kröger, was macht denn Ihr Freund?"
"Justin ist in Marbella. In zwei Tagen kommt er zurück."
"In Spanien ist er? Na, da wären wir auch lieber im Moment, nicht wahr? Stattdessen müssen wir uns mit diesem Fall quälen. Warum macht er denn schon so früh Urlaub?"
"Justin fährt drei bis viermal im Jahr. Seine Eltern haben doch das Modehaus Wirner in der Fußgängerzone, er arbeitet auch da. Sie haben eine Finka in der Nähe des spanischen Hafens gekauft. Tolle Gegend. Ich habe Bilder gesehen. Irgendwann werde ich zusammen mit ihm dahinfahren. Jetzt habe ich ja keinen Urlaub gekriegt."
Rau grinste. "Ihr Justin scheint ja gut betucht zu sein. Vielleicht brauchen Sie bald nicht mehr zu arbeiten."
Michaelas Stirn rötete sich. " Ich kann mein Geld selber verdienen und brauche niemanden, der mich versorgt. Justin weiß das. Schlimm ist nur, dass er mich dauernd auf irgendwelche Schickimicki-Partys schleppen will. Ich kann diese arroganten Neureichen da überhaupt nicht ausstehen."
Rau sah Michaela von der Seite an. "Na, spricht da nicht ein wenig der Neid mit?"
"Nun, vielleicht. Neid spielt sicherlich eine Rolle", meinte sie ehrlich, "aber was mich stört, ist die Oberflächlichkeit dieser Leute. Sie sind nur auf Äußerlichkeiten aus. Übersatt, es gibt kaum etwas, was die nicht schon genossen hätten. Seien es Delikatessen, Reisen, Sex. Das Letzte muss immer ausfallender und perverser sein. Sonst kriegen die Machos keinen Ständer mehr. Und die Frauen … Na ja, wenn man den Gesprächen zuhört, kann man nur den Kopf schütteln."
"Na, na, Frau Kröger."
"Stimmt doch."
Das Gespräch verstummte. Rau konzentrierte sich auf die Fahrt, während Michaelas Gedanken sich weiter um Justin drehten.
"He, Kollegin! Schlafen Sie?" Raus Stimme riss sie nach einiger Zeit zurück in die Wirklichkeit. Sie hatten Brake erreicht. Große Silos und Kräne in einiger Entfernung deuteten auf den Hafen hin. Der Kommissar fädelte sich Richtung Innenstadt ein.
"Ich halte gleich, bei der ersten Gelegenheit. Dann fragen Sie mal einen Passanten nach der Deichstraße."
Rau ging vom Gas und ließ den Wagen an den Gehsteig rollen. Hinter einem weißen Mercedes kam er zum Stehen. Michaela kurbelte die Fensterscheibe herunter und sprach einen jungen Mann an, der sich zu ihrem Glück in Brake auskannte. Die Adresse war ganz in der Nähe. Sie brauchten nur noch zweimal links und einmal rechts abzubiegen.
Das Haus Nummer vierundzwanzig lag ein wenig abseits der Straße. Sie fuhren eine lange, gepflasterte Auffahrt hoch. Der Rasen zu beiden Seiten war erst vor kurzem gemäht worden. Kleine, runde Beete waren dicht gefüllt mit gelben und roten Tulpen. Rau hielt vor zwei geschlossenen Garagen. Dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen und einige dicke Tropfen kündeten den ersten Aprilschauer des Tages an Der Geruch salziger Luft drang von der Weser herüber.
Das Gebäude war im Landhausstil errichtet. Eine Steintreppe führte zu einer grünen, breiten Eingangstür. Es war ruhig im Haus. Rau drückte auf die Klingel und eine harmonische Melodie war kurz zu hören. Leise Schritte näherten sich, und die Tür wurde von einer kleinen, etwas molligen Frau geöffnet.
"Ja bitte?"
Verwundert sah sie die beiden Beamten an. Rau zog seinen Ausweis aus der Jacke und hielt ihn kurz hoch. "Kommissar Rau und meine Assistentin Kröger aus Leer. Sind Sie Frau Meißner?"
Erschrocken ging sie einen Schritt zurück. Ihr blasses Gesicht wurde feuerrot und mit weit aufgerissenen Augen sah sie Rau an. Zögernd nickte sie.
"Bitte kommen Sie herein." Sie ließ die beiden eintreten. Durch den Flur folgten sie ihr in ein riesiges Wohnzimmer. Rau fiel ein als Erstes ein Steinway-Flügel ins Auge. Ein blank geputztes Saxophon lag auf einem Nebentisch.
Frau Meißner bat die beiden, in einem der dunkelgrünen Ledersessel im englischen Stil Platz zu nehmen.
"Was haben wir mit der Kriminalpolizei zu tun?" Frau Meißner machte einen ziemlich konsternierten Eindruck. "Ist etwas... ist meinem Mann etwas passiert?" Unruhig wanderten ihre Augen von Michaela zu Rau.
"Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?"
Frau Meißner machte einen Schritt rückwärts und tastete mit den Händen nach einem Sessel. Mit angstgeweiteten Augen und blassem Gesicht setzte sie sich und versuchte zu antworten. Erst nach einigen Anläufen gelang es ihr. "Heute Morgen, wieso? Was ist passiert? So reden Sie doch endlich!"
Rau atmete geräuschvoll aus.
"Frau Meißner, beruhigen Sie sich. Wenn Sie Ihren Mann heute Morgen gesehen haben, brauchen Sie sich um ihn keine Sorgen zu machen ... Ihr Mann hat in der Rathausstraße in Leer eine Wohnung gemietet. Dort wurde gestern eine männliche Person ermordet aufgefunden. Haben Sie eine Vorstellung, wer der Tote sein könnte? Wir haben keinerlei Papiere bei ihm gefunden."
Frau Meißner hatte sich ein wenig erholt. Jetzt, da es nicht um ihren Mann ging, war sie erleichtert. Sie schüttelte den Kopf.
"Es tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung. Die Wohnung wird nur selten benutzt. Ist eingebrochen worden?"
"Nein, eingebrochen wurde nicht."
Rau sah keine Notwendigkeit, die peinliche Situation zu erwähnen, in der die Leiche gefunden wurde. Michaela schaltete sich ein.
"Hat ihr Mann die Wohnung vielleicht hin und wieder Kollegen oder Freunden zur Verfügung gestellt?"
"Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Mein Mann ist immer sehr genau mit seinen Sachen. Letztendlich kann aber nur er Ihnen diese Frage beantworten."
"Wie können wir ihn erreichen?", wollte Rau wissen.
Frau Meißner sah auf die große Standuhr. "Er müsste in einer Viertelstunde kommen. Wenn Sie so lange warten möchten? Ich bringe Ihnen zwischenzeitlich eine Tasse Kaffee."
Die beiden Beamten nickten. Als Frau Meißner sich in die Küche zurückzog, platzte Michaela heraus: "Mensch, Chef, wer hätte gedacht, dass der Tote gar nicht Meißner ist? Ein schöner Schlamassel"
Sie wollte weiterreden, aber Frau Meißner kam mit einem Tablett zurück. Mit geübten Bewegungen verteilte sie die Tassen, stellte Gebäck auf den Tisch und schenkte Kaffee ein. Dann setzte sie sich wieder. Die Tasse in der Hand, rührte sie unablässig den Löffel im Kreis.
"Wie ist denn dieser arme Mensch umgebracht worden?"
Michaela sah ihren Chef von der Seite an und war froh, dass nicht sie antworten musste.
"Ihm ist die Kehle durchgeschnitten worden."
Frau Meißner ließ vor Schreck den Löffel los und fuhr sich mit der rechten Hand an den Hals.
"Das ... das ist ja furchtbar."
Michaela wollte gerade etwas sagen, als man von der Auffahrt her einen Wagen vorfahren hörte.
Frau Meißner stellte vorsichtig ihre Tasse auf den Mahagoni-Tisch und eilte zur Tür. Man hörte aufgeregtes Geflüster, dann betrat Herr Meißner zusammen mit seiner Frau das Wohnzimmer. Er war der gemütliche Typ. Sein dichtes Haar war dunkelblond. Nur an den Schläfen und am Stirnansatz begannen sie bereits zu ergrauen. Sein Gesicht war leicht gebräunt. Kluge, dunkelgrüne Augen waren auf die beiden Beamten gerichtet.
"Meine Frau hat mir bereits alles erzählt. Ich bin zutiefst beunruhigt. Der einzige Mensch, der außer uns noch einen Schlüssel hat, ist ein guter Bekannter von mir. Harald Römer"
Rau erhob sich, zog eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus der Tasche und reichte sie ihm. Meißner schluckte und gab das Foto schnell zurück.
"Ja, das ist er. Ich begreife nicht ... Wann ist das passiert? Haben Sie den Mörder schon?"
Rau schüttelte bedauernd den Kopf. "Wir stehen noch ganz am Anfang. Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand wurde das Opfer in der Nacht zum 4. April zwischen Mitternacht und ein Uhr ermordet. Wie gut kannten Sie den Toten?"
Das Ehepaar Meißner hatte inzwischen auf der Couch Platz genommen, so dass sich auch Rau wieder setzte.
"Ich bin Schiffsmakler. Die Römers haben eine Reederei in Leer, und so hatte ich oft geschäftlich mit Harald zu tun. Hin und wieder haben wir abends ein Bier miteinander getrunken."
Rau hatte aufgehorcht, als Meißner von der Reederei sprach. Richtig, fiel es ihm ein. Römer ..., der Name war ein Begriff in Leer. Hatte er nicht vor ein paar Tagen noch etwas über die Tochter gehört? Es fiel ihm im Augenblick nicht ein. Er schob die Gedanken beiseite und fragte: "Seit wann haben Sie die Wohnung?"
"Seit November letzten Jahres. Da ich oft mehrere Tage in Leer zu tun habe, ist es für mich bequemer, dort zu übernachten. Ich halte nicht viel von Hotels, also mietete ich diese Wohnung an."
Rau sah ihn nachdenklich an. "Aber wieso haben Sie Herrn Römer einen Schlüssel gegeben?"
Herr Meißner zog ein verlegenes Gesicht. "Nun ja, er bat mich eines Abends darum."
"Wieso?"
Herr Meißner wand sich. "Meine Güte, mir war das egal. Er war ein guter Bekannter, dem ich einen Gefallen tat. Alles andere interessierte mich nicht."
Kommissar Rau ahnte, dass Meißner in Gegenwart seiner Frau nicht weiter darüber sprechen würde, daher fragte er nur: "Haben Sie außer Herrn Römer noch jemanden einen Schlüssel gegeben?"
"Nein. Ich hatte zwei Schlüssel. Einen habe ich hier an meinem Bund."
"Ist Harald Römer verheiratet?"
"Ja."
Michaela hatte ihr Notizbuch gezückt und die meisten Worte mit stenographiert. Rau trank den Rest seines Kaffees und stand auf. "Wir haben ein Rasiermesser mit goldenem Griff gefunden. Gehört es Ihnen?"
Meißner schüttelte den Kopf. "Nein, ich rasiere mich nur elektrisch."
"Ich danke Ihnen für die Informationen. Routinemäßig muss ich Sie beide noch fragen, wo Sie Dienstagnacht zwischen elf Uhr dreißig und ein Uhr waren."
Frau Meißner sah ihn empört an. "Aber das ist doch lächerlich. Warum sollten mein Mann oder ich etwas mit dem Mord zu tun haben?"
"Wie ich vorhin schon sagte, reine Routine. Ihr Mann besitzt den Schlüssel zur Wohnung, und Sie hatten die Möglichkeit, ihn sich zu besorgen."
Herr Meißner legte beruhigend den Arm um seine Frau. "Clara, wir haben ja nichts zu befürchten. Dienstagnacht waren wir gemeinsam hier zu Hause. Wir haben uns den "K1-Report" auf Kabel eins angesehen und sind anschließend ins Bett gegangen."
Frau Meißner nickte. "Ja, das stimmt."
"Gut.". Rau reichte beiden die Hand. "Das war's fürs Erste. Ich bedanke mich. Sie hören von uns, wenn die Wohnung wieder freigegeben wird."
Das Ehepaar brachte die Beamten zur Haustür und verabschiedete sich. Rau schloss gerade den Wagen auf, als von der Straße ein Auto die Auffahrt hochkam. Ein blaues BMW Cabrio fuhr bis zur Garage. Die beiden Beamten beobachteten interessiert, wie ein schwarzhaariger junger Mann ausstieg, neugierig in ihre Richtung sah und auf das Haus zuging.
Michaela pfiff leise durch die Zähne. "Que bonito!". Mit der rechten Hand wischte sie sich imaginären Schweiß von der Stirn.
Rau hatte bereits die Autotür geöffnet und meinte lachend: "Kriegen Sie sich wieder ein. Die Pflicht ruft. Übrigens hat mich vorhin das Labor angerufen, die haben den Bericht jetzt fertig."
Auf der Rückfahrt meinte Michaela nachdenklich: "Harald Römer. Reederei. Das wird ein Fressen für die Schreiberlinge."
Rau nickte nachdenklich. "Sie sagen es. Wir werden nur den Mord, aber nicht die Details an sie weitergeben. Als Erstes fahren wir jetzt zu Frau Römer. Sie muss mitkommen und ihren Mann identifizieren. Alles andere wird sich ergeben. Rufen Sie kurz im Kommissariat an und lassen sich die Adresse von den Römern geben."
Während Michaela telefonierte, ließ Rau seinen Gedanken freien Lauf. Hatten Mörder und Opfer sich nur zufällig kennen gelernt? Aber warum war der Penis abgeschnitten worden? Das sah doch ganz so aus, als spielte der Hass auf Männer eine Rolle. Andererseits war es vielleicht genau das, was man glauben sollte. Ein Ablenkungsmanöver. Morgen musste er unbedingt im Computer nach ähnlichen Fällen suchen lassen. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Michaela Kröger ihn ansprach.
"Ich hab die Adresse, es ist etwas außerhalb von Leer. In der Wiesenstraße. Das ist die Gegend mit den alten Villen."
"Na dann mal los", brummte Rau.
Michaela sah ihn an und meinte: "Chef, glauben Sie, dass Meißner nicht weiß, wozu der Römer die Wohnung benutzt hat? Das ist doch glatt gelogen."
Rau nickte. "Klar, nur wollte er es nicht vor seiner Frau sagen. Die könnte vielleicht auf die Idee kommen, dass er die Wohnung auch für Schäferstündchen nutzen könnte."
"Ich bin gespannt, was der Römer für eine Frau hat."
"Das bin ich auch", sagte Rau nachdrücklich.