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Schlafanzug und schwarze Füße

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Maggie saß im Schlafanzug, barfuß auf ihrer Schaukel. Unter ihr zeugte eine kleiner werdende, ausgetretene Erdfläche von den vielen Stunden, die sie in diesem Sommer bereits auf der Schaukel verbracht hatte; fast ausnahmslos gemeinsam mit ihrem Vater. Er war es auch gewesen, der ihr die Schaukel im letzten Jahr gebaut hatte. Kein fertiger Bausatz hatte seinen hohen Ansprüchen, im wahrsten Sinne des Wortes, genügt, weswegen die Schaukel eine Eigenkonstruktion von gigantischem Ausmaß geworden war. Kein Kind in der Nachbarschaft hatte eine ähnlich hohe Schaukel. Kein anderes Kind hatte einen Vater, der es auch nach Stunden nicht leid wurde, unermüdlich Anschwung zu gegeben.

Doch langsam aber sicher eroberte sich das Gras die kahle Stelle zurück. Die Schaukel stand still. Das Lachen in Haus und Garten war verstummt. Außerdem war die vormals gepflegte Rasenfläche um Maggie herum, zu einer kniehohen Wiese gewachsen. Wildblumen, wie der leuchtend gelbe Löwenzahn und die Butterblume hatten sich ungehindert ausbreiten können. Hin und wieder ließ sich ein Gänseblümchen zwischen den langen Halmen erahnen. Noch vor wenigen Wochen hätte sie einen Heidenspaß an der Blumenpracht gehabt und sie zum Pflücken schönster Sträuße animiert, doch nun löste der Anblick Traurigkeit in ihr aus, machte er doch das Fehlen ihres Vaters nur allzu deutlich.

Maggie ließ den Kopf hängen, so dass ihr Gesicht hinter den langen blonden Zotteln verschwand. Mit den nackten Zehenspitzen wühlte sie betrübt in der schwarzen Erde.

Seit der Beerdigung ihres Vaters musste sie nun immer, wenn sie auf der Schaukel saß, an die Worte einer alten Frau denken, die ihr dort begegnet war. Liebevoll hatte die ihr über den Kopf gestrichen und ihr versichert, dass ihr Vater von nun an vom Himmel aus auf sie aufpassen würde. Sie war verwirrt gewesen und gleichzeitig voller Hoffnung. Gerade da die anfängliche Zuversicht, er würde doch noch zu ihr zurückkehren, zunehmend schwand. Aber was genau konnte es bedeuten, er ist im Himmel und passt von dort aus auf sie auf? Später hatte sie ihre Mutter dazu befragt, in dem Glauben, sie könne ihr mehr darüber erzählen. Ihre Mutter hatte sie jedoch nur unsanft an die Seite geschoben, sie solle sie mit solchem Quatsch in Ruhe lassen, Papa sei weder hier, noch irgendwo anders und er würde auch niemals mehr wiederkommen. Maggie hatte unsägliche Angst, ihre Mutter könne mit der Behauptung recht behalten. Doch wenn sie auf der Schaukel saß, flackerte erneut ein kleiner Hoffnungsschimmer auf, denn nirgendwo war sie dem Himmel näher, als auf dem Schaukelbrett. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihr nur allzu oft so kräftig Schwung gegeben hatte, bis er jubelnd gerufen hatte Meine kleine Maggie fliegt bis zum Himmel! Maggie kullerten dicke Krokodilstränen die Wangen runter. Verzweiflung machte sich in dem schmächtigen Kinderkörper breit. Nicht zum ersten Mal versuchte sie mit aller Kraft ihre Unterschenkel hin und her zu bewegen, doch trotz aller Anstrengungen geriet die Schaukel nur minimal ins Schwanken, so sehr sie sich auch mühte. Wie sollte sie es jemals schaffen, ohne den Anschwung ihres Vaters, bis zum Himmel zu schaukeln?

Noch eine ganze Weile hatte Maggie alles versucht, um dem Himmel, und damit ihrem über alles geliebtem Vater, ein Stückchen näher zu kommen, doch ohne Erfolg. Schließlich gab sie für den Moment auf. Ganz sicher würde sie es wieder versuchen. Doch nun saß sie wieder nur da, mit hängendem Kopf, das Gesicht hinter den blonden Zotteln versteckt.

Von Uhrzeiten hatte Maggie noch keine Vorstellung, aber es war schon lange her, dass sie aufgestanden war. Und was sie ganz sicher wusste war, dass sie großen Hunger hatte. Mehrfach hatte sich ihr Bauch bereits mit einem lauten Grummeln bemerkbar gemacht, so dass es sich schließlich nicht mehr ignorieren ließ. Mit einem Satz sprang sie von der Schaukel und lief zum Haus. Unentschlossen blieb sie in der Öffnung der Terrassentür stehen und lauschte ins Innere. Nichts war zu hören. Wenn ihre Mutter noch schlief, würde es besser sein, sie nicht zu wecken. Maggie tapste mit ihren nackten, schwarzen Füßen in die Küche. Sie schob sich mit einiger Mühe einen der hölzernen Küchenstühle an die Arbeitsfläche heran, um so an den Brotkorb zu gelangen, der darauf stand. Als sie den Deckel anhob stellte sie enttäuscht fest, dass er leer war. Ihre Suche nach etwas Essbarem führte sie als nächstes zum Regal, in dem eine Dose mit Müsli stand. Das Sichtfenster verriet ihr, dass sich darin zumindest noch ein kleiner Rest befand. Sie klemmte sich die cremefarbene Metalldose unter den Arm und marschierte damit zum Kühlschrank. Glücklicherweise wurde sie auch dort fündig. Aus der Kühlschranktür nahm sie den letzten angebrochenen Milchkarton. Beides stellte sie auf die Ablagefläche. Und wieder nahm sie sich den Stuhl zur Hilfe, schob ihn ein kleines Stückchen weiter, kletterte erneut darauf und hinterließ weitere schwarze Fußabdrücke auf der weißen Sitzfläche. Auf Zehenspitzen stehend gelangte sie gerade so an die hinten im Oberschrank stehenden Müslischalen. Mit ein bisschen Stolz, brachte sie ihre Ausbeute zum Küchentisch und ergänzte sie noch um einen Löffel. Die kurze Zeit, seit dem Tod ihres Vaters, hatte sie schon jetzt deutlich schneller groß werden lassen. Entsprechend selbstverständlich öffnete sie die Dose mit Schraubverschluss, schüttete den überschaubaren Inhalt komplett in ihr Schälchen und kippte einen guten Schuss Milch dazu; fast ohne zu kleckern. Maggie griff nach ihrem Löffel und schon verschwand der erste Bissen in ihrem Mund. Doch statt des ihr bekannten Geschmacks nach frischer Milch und Honig, schmeckte sie nur eine scharfe Säure, die sie sofort veranlasste, den gesamten Inhalt angeekelt wieder auszuspucken. Es war, als hätte es das kurze Hoch, das die erfolgreiche Zubereitung des Frühstücks in ihr ausgelöst hatte, nie gegeben. Und obendrein meldete sich nun erneut ihr Bauch mit einem lauten Knurren, als wolle auch der sich noch beschweren.

Maggie überlegte kurz, bis sie schließlich aus Mangel an Alternativen zum Schlafzimmer ihrer Mutter huschte. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Das Zimmerinnere lag im Halbdunkeln. Die dichten, zugezogenen Vorhänge ließen den herrlichen Sonnenschein von draußen nur erahnen. Und obwohl sie sich nur sehr langsam zum Bett bewegte, stieß sie mit dem Fuß gegen eine der zahlreichen leeren Flaschen, die dort verteilt standen, so dass diese umkippte. Trotz des Teppichbodens verursachte der Fall ein lautes, klirrendes Geräusch, da die Flasche mehrere der umstehenden mit sich riss. Erschrocken blieb Maggie stehen und wartete auf eine Reaktion ihrer Mutter. Als sie schon dachte, die würde ausbleiben, regte sich schließlich doch etwas unter der dünnen Bettdecke.

„Was machst du hier mitten in der Nacht für einen Krach?“, schnauzte ihre Mutter vorwurfsvoll und drückte ihren Kopf noch tiefer ins Kissen, um gegen erneute Störungen gewappnet zu sein. Ihr Kopf schien bei jedem weiteren Geräusch zerbersten zu wollen.

„Mama“, stammelte Maggie eingeschüchtert, „wir haben kein Brot mehr und das Müsli schmeckt ganz furchtbar, aber ich hab’ Hunger.“

„Auf meinem Nachttisch steht ein Rest Pizza, den kannst du haben. Und dann raus hier, ich muss noch schlafen!“

Wie ein getretener Hund schlich Maggie um das Bett herum, darauf bedacht, keinen weiteren Lärm zu verursachen. Sie nahm das Stück Pizza samt Karton und verließ das Zimmer. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete sie erleichtert auf. Sie ging zurück in die Küche und stellte die Pappschachtel auf den Küchentisch. Ein drittes Mal nahm sie sich nun den Küchenstuhl zur Hilfe, um sich ein Trinkglas aus dem Schrank zu holen. Bevor sie sich an den Tisch setzte, füllte sie das Glas mit Leitungswasser.

Um 12.30 Uhr saß Maggie schließlich alleine am Küchentisch, um einen kleinen, kalten Rest Pizza vom Vortag aus einem Pappkarton zum Frühstück zu essen; dazu ein Glas mit Leitungswasser.

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