Читать книгу Sommer, Sonne, Strand und Er - Britta Bley - Страница 6

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Anders als am Vortag, war noch kein einziges Blatt im Papierkorb gelandet. Stattdessen hatte Leni in mehreren Stunden bereits einen ganzen Stapel Skizzen angefertigt, mit denen sie obendrein auch noch rundherum zufrieden war. Ihr Blick wanderte auf die große Sammelmappe, die an ihren Schreibtisch gelehnt stand, in der sie ihre schönsten Werke aufbewahrte. Vielleicht hatte eines der auf dem Schreibtisch liegenden Blätter das Potential in diese Sammlung der Besten aufgenommen zu werden.

Darin befanden sich nun auch wieder die Bilder, die sie zwischenzeitlich aussortiert und für ihre Bewerbungsmappe zusammengestellt hatte, dank derer sie sich einen Platz an einer der renommiertesten Kunsthochschulen des Landes hatte sichern können. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass diese sie auch tatsächlich ausgewählt hatte und das gleich bei ihrem allerersten Versuch. Bei dem zweiten Teil des Auswahlverfahrens, der künstlerisch-gestalterischen Eignungsprüfung, die im Universitätsgebäude durchgeführt wurde, war sie mehreren Studenten begegnet, die sich über viele Jahre hatten bewerben müssen, ehe sie endlich die Chance erhalten hatten, ihr Studium zu beginnen. Wie viele es niemals geschafft hatten, wollte sie sich erst gar nicht ausmalen. Sicherheitshalber schielte sie zu ihrer Pinnwand hinüber. Die ersten Worte, die sie auf dem dort hängenden Brief lesen konnte, reichten aus, um erneut ein tiefes Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit in ihr auszulösen: Wir freuen uns Ihnen mitteilen zu dürfen, dass…. Ein breites, zufriedenes Grinsen lag in Lenis Gesicht, mit dem man sie so nur selten sah. Im Oktober würde sie ihr Studium beginnen. Nur noch gute zwei Monate, die dank des Malens und ihres kleinen Jobs wie im Fluge vergehen würden.

Der kaum zurück liegenden Schulzeit weinte sie keine Träne nach. Sie war nie gerne zur Schule gegangen; hatte die Mitschüler nicht gemocht, was dann irgendwann dazu geführt hatte, dass auch die sie nicht sonderlich gemocht hatten, und das Gefühl der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins gegenüber den Lehrkräften, hatte sie gehasst. Schule war für sie lediglich ein notwendiges Mittel zum Zweck, denn dass sie etwas Künstlerisches hatte studieren wollen, war für sie schon immer klar gewesen, solange sie nur zurückdenken konnte.

Ganz anders als von der Schulzeit erhoffte sie sich von ihrem Kunststudium eine glückliche Zeit. Den größten Teil des Tages würde sie mit dem zubringen, was ihr am meisten Spaß im Leben machte; dem Malen. Außerdem erwartete sie schnell besser zu werden und jede Menge neue Techniken zu erlernen. Und nicht zuletzt freute sie sich auf das Studium der alten Künstler, unter denen es viele gab, die sie aus tiefstem Herzen verehrte. Ansonsten würde sie sich überraschen lassen, was auf sie zukäme.

Das ganze studentische Leben drumherum interessierte sie dagegen wenig bis gar nicht. Bereits das überdrehte Gerede ihrer Mitschüler in den letzten Schulwochen vor den Sommerferien war ihr unheimlich auf die Nerven gegangen. Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass für viele von ihnen das Studienfach gänzlich nebensächlich gewesen wäre. Stattdessen hatten sich die zukünftigen Studenten gegenseitig übertrumpft, was sie alles für wilde Partys feiern würden und prophezeit, was für tolle neue Leute sie kennenlernen würden. Leni hegte die Vermutung, dass ihre Mitschüler hinter dem großspurigen Gebaren nur ihre Angst vor dem Neuen und der Furcht möglicherweise alleine dazustehen, verbergen wollten.

Sie hatte weder vor auf Partys zu gehen, noch legte sie Wert darauf neue Freundschaften zu schließen. Entsprechend hatte sie auch keine Angst vor dem Alleinsein. Ihr Einsiedlertum, wie ihr Vater es nicht ohne Vorwurf nannte, gefiel ihr ausgesprochen gut und sie sah auch keine Veranlassung, in der Zukunft irgendetwas daran zu ändern. Auch die Aussicht, zum ersten Mal in ihrem Leben komplett auf eigenen Beinen zu stehen, verunsicherte sie nicht. Wie man eine Waschmaschine fachgerecht bediente, hatte sie bereits mit zwölf Jahren gewusst. Kochen gehörte dagegen zwar nicht zu ihren Stärken, aber wozu gab es schließlich eine Mensa? Und die wiederum, befand sich nur wenige hundert Meter von ihrer künftigen Studentenbude entfernt.

Was die Unterbringung anging, hatte sie großes Glück gehabt. Sie hatte eines der wenigen, sehr begehrten Zimmer, in einem der Studentenwohnheime ergattern können und das zu einem unschlagbaren Preis. Für das ihr zur Verfügung stehende Geld hätte sie alternativ höchstens noch ein Zimmer in einer WG bekommen und dann hätte sie sich wieder mit anderen arrangieren müssen. Ihr Wohnheimzimmer hatte sogar ein eigenes Badezimmer direkt angeschlossen, das war zwar winzig und glich in seiner Vollplastikausführung eher einer Flugzeugtoilette, hatte sie bei der damaligen Besichtigung amüsiert festgestellt, aber dafür würde sie es mit niemandem teilen müssen. Dieser Luxus traf zwar auf die Küche, die neben ihr fünf weiteren Studenten zur Benutzung zur Verfügung stehen würde, nicht zu, doch schließlich war da ja noch die Mensa, so dass die Aufenthaltsdauer dort vermutlich überschaubar bleiben würde. Und sollte unter den künftigen Mitbenutzern jemand sein, der besonders redselig war und meinte, ihr bereits beim Frühstück seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen, könnte sie notfalls auch auf ihr Zimmer ausweichen. Eigentlich konnte gar nichts schief gehen.

Obendrein, als Sahnehäubchen, würde auch endlich das ganze Schmierentheater für ihren Vater ein Ende haben oder zumindest auf ein Minimum reduziert werden. Fiktive Treffen mit nicht existenten Freunden, bei denen sie der Glaubwürdigkeit halber für mehrere Stunden das Haus verlassen hatte, würde es von da an jedenfalls nicht mehr geben. In Zukunft hoffte sie ihn am Telefon mit wenigen Informationen abspeisen und so die ganze Lügerei deutlich in Grenzen halten zu können. Zumal ihr ganzes Schauspiel nicht einmal dazu gereicht hatte, dass ihr Vater sie für einen völlig normalen, sozial integrierten Teenager hielt. Ständig machte er sich Sorgen, sie könne sich einsam und unglücklich fühlen.

Bei ihren ganzen Überlegungen zog sie erst gar nicht in Betracht, dass sie tatsächlich neue Kontakte würde knüpfen können und sie dann einfach nur bei der Wahrheit bleiben konnte.

Nach dem kleinen gedanklichen Exkurs in die Zukunft, richtete Leni ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre Skizze. Sie schob ihre Unterlippe vor, um eine ihr ins Gesicht gefallene Strähne energisch wegzupusten und so für freie Sicht zu sorgen. Die linke Hand lag noch immer in unveränderter Position mit dem Handrücken auf der Schreibtischplatte, unmittelbar neben ihrem Blatt Papier. Die Vielzahl der auf der Hand verlaufenden Linien und Furchen faszinierte sie immer wieder aufs Neue. Es war für sie ohne Bedeutung, welche die Lebens-, Herz- oder Kopflinie ist. Und erst recht, welche Länge oder Beschaffenheit man welchen Charaktereigenschaften oder gar Zukunftsaussichten zusprach. Leni war es ausschließlich wichtig, eine möglichst detaillierte Abbildung der Wirklichkeit zu schaffen und vielleicht sogar ein bisschen mehr als das. Mit Blick auf ihr Papier stellte sie zufrieden fest, dass ihr dies bereits weitestgehend gelungen war und sie fast fertig war. Es fehlten lediglich noch ein paar Details und einige Schattierungen. Sie begann mit dem größten Schatten in der Handinnenfläche, den die leicht gekrümmten Finger warfen. Schließlich ging sie über zu den Details, wobei sie den kleinen dunklen Rand unter dem Nagel ihres Ringfingers beflissentlich übersah. Mit einem letzten prüfenden Blick verglich sie ihre Hand mit der Abbildung eben dieser. Als diese nach ihr zu greifen schien, legte sie den Bleistift getrost an die Seite. Sie mochte das Bild schon jetzt. Grundsätzlich gefiel ihr die monochrome Darstellung von Bleistiftskizzen.

Leni reckte ihren Rücken, schüttelte ihre Hände aus und drückte der Reihe nach ihre Finger mit Druck gegen die Handinnenflächen, so dass jedes Mal ein fast schon beängstigend lautes Knacken entstand. Anschließend entschied sie sich nach unten zu gehen, um nach ihrem Vater zu schauen. Lediglich beim Frühstück hatte sie ihn kurz gesehen und seither nicht mehr. Vielleicht könnte sie ihn bei der Zubereitung des Mittagessens unterstützen. Außerdem hatte er eine Woche Urlaub und sie wollte ihm ihre Gesellschaft nicht gänzlich vorenthalten. Sie wusste, dass er bereits jetzt gegen die Zeit ansah, in der sie nicht mehr hier sein würde. Mehrfach hatte er betont, wie sehr sie ihm fehlen würde; nicht jedoch ohne unmittelbar hinzuzufügen, wie sehr er sich für sie freute, dass sie sich einen der wenigen Plätze an der Kunsthochschule hatte sichern können. Tatsächlich würde er ihr auch sehr fehlen, dessen war sie sich gewiss. Keine andere Person war hier je für sie von Bedeutung gewesen. Ansonsten würde sie lediglich noch das Meer vermissen.

Kurz überlegte Leni, ob sie die fertige Skizze ihrer Hand mit nach unten nehmen sollte, um sie ihrem Vater zu zeigen. Doch sie entschied sich schließlich dagegen. Er zeigte stets ein höfliches Interesse an ihren Bildern und war ehrlich beeindruckt von ihrem Talent, aber irgendwie fehlte ihm, ganz anders als ihr selbst, der Blick fürs Detail und der für die Kunst im Allgemeinen. Also ging sie ohne, auch wenn er sie vermutlich gleich fragen würde, was sie den Vormittag über gemacht hatte. Spätestens mit dem knarzenden Geräusch der viertletzten Treppenstufe, kündigte sie ihre Ankunft im Parterre an. Entsprechend hatte sie noch nicht einmal den ersten Fuß auf den Flurboden gesetzt, als bereits das freundlich lächelnde Gesicht ihres Vaters aus der Küche um die Ecke schaute.

„Schön, dass du runterkommst, es gibt gleich Essen! Ich habe extra deine Leibspeise gemacht, Quark-Reis-Auflauf mit frischen Erdbeeren.“

Leni schnupperte den verführerischen Duft und wunderte sich, dass der nicht bereits durch sämtliche Ritzen bis hoch in ihr Zimmer gedrungen war und sie auf den Plan gerufen hatte. Nun ebenfalls lächelnd sprang sie von der letzten Stufe, stürmte auf ihren Vater zu und schloss ihn heftig in die Arme.

„Danke Paps, du bist der Beste!“, flüsterte sie und hauchte ihm dabei einen flüchtigen Kuss auf die unrasierte Wange.

Leicht verdutzt von ihrem für ihre Verhältnisse heftigen Gefühlsausbrauch, streichelte er sich über die soeben geküsste Wange. „Wie komme ich denn zu der Ehre?“

„Weil du es verdient hast und weil mir eben einfach danach war“, säuselte Leni und tänzelte an ihrem Vater vorbei in die Küche. Dabei schloss sie die Augen und atmete voller Vorfreude tief durch die Nase. Bevor sie sich jedoch setzte, holte sie zwei Gläser, füllte sie mit eiskaltem Mineralwasser und fügte einen Spritzer Zitronensaft hinzu. Ansonsten war der Tisch bereits fertig gedeckt, so dass es nichts weiter für sie zu tun gab. Die an der Dunstabzugshaube hängende Küchenuhr offenbarte ihr eine verbleibende Zeit von fünf Minuten, bis das Essen fertig sein würde. Nachdem ihr Vater das über den Griff des Backofens hängende Geschirrhandtuch an die Seite geschoben hatte, um sich so mit einem Blick durch die Scheibe einen Eindruck von dem Bräunungszustand des Auflaufes zu verschaffen, setzte er sich beruhigt ebenfalls zu Leni an den Tisch.

„Ich vermute, du hast gemalt; warst du erfolgreicher als gestern?“

Leni musste schmunzeln. Zum einen, weil sie seine Frage so treffend vorhergesehen hatte und zum anderen, weil sie an ihre geglückte Skizze denken musste, die oben auf ihrem Schreibtisch lag.

„Ja, ich habe einige ganz gute Studien von meiner Hand angefertigt, entsprechend musst du meinen Papierkorb heute nicht mehr leeren.“

„Du meinst, du musst deinen Papierkorb heute nicht mehr leeren“, korrigierte er sie neckend.

„Sei nicht so übergenau! Ich hatte damit eigentlich nur zum Ausdruck bringen wollen, dass ich heute ganz zufrieden mit meinen Ergebnissen bin“, forderte Leni und zog die Nase ein wenig kraus.

Erneut dachte sie darüber nach, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen sein könnte, ihre Bilder nicht mit nach unten genommen zu haben. Aber abgesehen davon, dass das Klingeln der Küchenuhr und damit die Aussicht auf den baldigen Verzehr ihrer absoluten Leibspeise alles andere in den Hintergrund rücken ließ, war sie sich sicher, dass er nicht einmal einen Qualitätsunterschied erkennen würde zu Skizzen mit ähnlichem Motiv, von vor einem Jahr. Gedanklich legte sie noch einen drauf: Vermutlich würde sie ihn selbst mit Bildern, die sie zu Grundschulzeiten angefertigt hatte, beeindrucken können und sie ihm als ihre Neusten verkaufen können.

Lenis Vater war aufgestanden, um den dampfenden Auflauf aus dem Backofen zu holen. Mit seinen geblümten Topfhandschuhen, ihre Leibspeise zum Tisch tragend, hätte sie ihn am liebsten direkt ein weiteres Mal geküsst. Stets hatte er versucht ihr Vater und Mutter in einer Person zu sein und sie hatte nie ernsthaft das Gefühl gehabt, dass ihr etwas gefehlt hätte. Und es war nicht zu übersehen, dass er all das, was er für sie tat, gerne machte, auch wenn er es allein tun musste und sie es ihm gewiss nicht immer leicht gemacht hatte. Ein gutes Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden. Und das war für Leni das Wichtigste. Deswegen verlangte es Leni auch nicht danach, mehr über ihre Mutter im Allgemeinen oder deren Tod zu erfahren. Sie wollte ihren Vater nicht drängen über Dinge zu sprechen, die einen tiefen Schmerz in ihm auslösten. Nicht umsonst gab es im ganzen Haus keine Fotografie von ihr und auch sonst nichts, was an sie erinnern würde. Und nie hatte es eine andere Frau im Leben ihres Vaters gegeben.

Leni lief bereits das Wasser im Mund zusammen, als ihr Vater das Essen auf den Tisch stellte. Er drückte ihr den Löffel in die Hand und forderte sie mit einer schwungvollen Armbewegung auf sich zu bedienen, was sie sich nicht zweimal sagen ließ. Nachdem sie sich eine ordentliche Portion genommen hatte, reichte sie den Löffel an ihn zurück. Es fiel ihr schwer die Höflichkeit zu wahren und mit dem ersten Bissen zumindest so lange zu warten, bis ihr Vater sich ebenfalls aufgetan hatte.

„Lass es dir schmecken, mein Schatz!“, gab dieser schließlich das ersehnte Startzeichen.

„Hmm-mmm, das mache ich!“, schmatzte Leni bereits mit vollem Mund.

Im Kopf ergänzte sie die Liste der Dinge, die ihr fehlen würden um den Quarkauflauf.

„Hast du heute oder morgen mal Zeit und Lust mit mir zu Scholz zu fahren? Ich will meinen Urlaub nutzen, um mein Büro zu streichen und einige andere Veränderungen dort vorzunehmen. Ich könnte jemanden mit Geschmack und einem Gefühl für Farben gebrauchen. Anschließend könnten wir noch einen Kaffee trinken gehen.“

„Klar, gern! Wenn es für dich okay ist, würde ich morgen vorschlagen. Heute hatte ich geplant, noch einmal zum Strand zu gehen.“

„Prima, morgen ist ebenso gut! Hab’ ich heute noch einen Tag Zwangspause und kann die Beine ohne schlechtes Gewissen ein wenig hochlegen“, freute er sich mit einem Augenzwinkern.

Während Leni sich einen nicht zu verachtenden Nachschlag auftat überlegte sie, wann sie diesen Entschluss gefasst hatte. Es war, als hätten ihre eigenen Worte sie soeben überrascht.

Leni und ihr Vater schafften es die gesamte Auflaufform zu leeren. Mit runden Bäuchen und ausgestreckten Beinen saßen sie noch eine ganze Weile am Tisch und dödelten miteinander rum.

Schließlich machte Leni sich erneut auf den Weg zum Strand. Ohne weiter darüber nachzudenken, legte sie dieselbe Strecke zurück, wie sie es bereits tags zuvor getan hatte. Irgendwie schien klar zu sein, dass es der gleiche Strandabschnitt sein müsste. Ja, er war ihr liebster Ort und doch gehörte er nur zu einem von vielen, die sie regelmäßig aufsuchte. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals den gleichen Platz an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aufgesucht zu haben. Und doch zog diese kleine Bucht sie nun fast schon magisch an.

Wieder war es ein wunderschöner sonniger Tag, nur deutlich weniger heiß und drückend. Trotzdem trug sie diesmal eine kleine Wasserflasche in einer Umhängetasche bei sich.

Auf den letzten Metern war Leni dankbar, den Weg zu ihrem Strand nun wieder über die Wasserseite antreten zu können und nicht durch das dichte Gehölz zu müssen, das deutliche Spuren an ihren Beinen hinterlassen hatte. Sie zog ihre zwei unterschiedlich farbenen Chucks aus und blickte für einen kurzen Moment auf die glatte Wasseroberfläche, bevor sie sie mit dem rechten Fuß zuerst durchbrach. Unwillkürlich spürte sie, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Und obwohl sich das Wasser nur im allerersten Augenblick kalt anfühlte, klopfte ihr Herz mit jedem Schritt kräftiger gegen die Brust. Als sie die kleine Bucht schließlich einsehen konnte, hielt sie die Luft an und sie meinte, dass das Schlagen ihres Herzens kurzzeitig aussetzte. Erleichtert stieß sie die gestaute Luft geräuschvoll zwischen die Lippen hindurch. Kein Mensch war zu sehen. Neben der Erleichterung machte sich noch ein weiteres Gefühl in Leni breit, das sie sich jedoch unmittelbar, noch ehe sie es näher hätte definieren können, verbot. Langsam bewegte sie sich auf das Ufer zu, unschlüssig, ob sie sich auf den Felsen oder an anderer Stelle in den Sand setzen sollte. Nachdem sie etwas ziellos über den Strand gelaufen war, ließ sie sich unweit des Felsens, fast schon plötzlich, in den Sand fallen. Wieder war es, als hätte sie den Entschluss nicht selbst gefasst; als hätten sie zwei unsichtbare Hände an den Schultern fassend einfach ungefragt nach unten gedrückt.

Leni befreite sich von ihrer Umhängetasche und stellte sie neben sich ab. Irgendetwas war anders als sonst. Sie empfand eine innere Unruhe und wusste nicht recht, was sie nun tun sollte, bis sie sich innerlich bestimmt zur Räson rief. Nie hatte sie etwas am Strand getan, hatte nie das Gefühl gehabt etwas tun zu müssen. Sie war lediglich da gewesen, hatte die Eindrücke auf sich wirken lassen, die Ruhe und Abgeschiedenheit genossen, Inspiration gefunden ohne danach suchen zu müssen. Mit fahrigen Bewegungen öffnete sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche und fischte die Wasserflasche heraus. Weniger, weil sie Durst verspürte, sondern vielmehr um ihren Händen eine Aufgabe zu verschaffen. Für einen kurzen Moment fand sie Ablenkung, als sie erfreut feststellte, dass der Weg bis zum Strand nicht ausgereicht hatte, um die Kühlschrankkälte gänzlich zu vertreiben. Sie hielt sich die schwitzende Wasserflasche an die Stirn, bevor sie sie mit mehreren tiefen Schlucken fast bis zur Hälfte leerte und schließlich wieder in ihrer Tasche verschwinden ließ. Ihre Hände begannen, erneut nach Beschäftigung suchend, im warmen Sand zu graben, während sie in die Weite blickte. Auch die Gedanken im Kopf schienen nicht still stehen zu wollen. Von der wohltuenden Leere, die sich sonst immer von ganz alleine binnen Sekunden eingestellt hatte, sobald sie nur auf die wogende Fläche des Meeres geschaut hatte, war sie weit entfernt. Stattdessen streifte sie durch ihre Schulzeit, durchforstete kritisch ihre Kunstwerke und blickte auf ihr Familienleben zurück. Dabei meinte sie stets den Hauch einer Bedrohung wahrzunehmen. Fast hatte sie das Gefühl, als liefe sie durch ein Labyrinth. Ein Labyrinth, in dem es keine Wände gab, sondern tiefe Abgründe. Die Pfade, auf denen sie sich vorwärtsbewegte, wurden zunehmend schmaler und immer wieder geriet sie in Sackgassen, die sie zum Umkehren zwangen. Ihr wurde schwindelig. Sie geriet zu dicht an den Abgrund. Der Boden unter ihrem rechten Fuß brach ins Nichts. Haltsuchend breitete sie ihre Arme aus. Ihr Atem ging stoßartig.

Erst als Leni ihre Umgebung wieder bewusst wahrnahm, begann sie sich langsam zu beruhigen. Sie drückte ihre Hände ans Herz und atmete tief ein und aus. Schließlich ließ sie ihren Oberkörper erschöpft zurück in den Sand sinken. Was war das eben gewesen?

Sommer, Sonne, Strand und Er

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