Читать книгу Arwila - Bruno Berheide - Страница 5

1 - Die Nebel

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Als sie in ihrer Kammer erwachte, da war es noch dunkel, und durch das offene Fenster sickerte der blaugrüne Schimmer der vergehenden Nacht. Da stand sie auf, zog sich ihr altes, einfaches und über die Zeit verblasstes Gewand über, nahm einen Wollumhang, den sie selbst aus der Wolle ihrer wenigen Schafe gefertigt hatte, schaute sich um, wie zum Abschied oder auch nur um sich zu versichern, dass alles an seinem Platz war und verließ die Hütte. Es war eine kleine Hütte, die einzige dort, an einem einsamen, teils unzugänglichen Strand. Vor der Tür warf ihr eine Böe die dunklen, rostrot schimmernden, tieflangen Haare ins Gesicht. Wolken huschten unter dem dämmernden Himmel in heftiger Eile über sie hinweg. Sie schloss die Tür, nahm den dicken Stein, der gleich daneben lag und schob ihn davor. Sie sah sich um, als wenn sie nach jemandem Ausschau hielt und rief schließlich, die Hände um den Mund zum Trichter geformt, laut und lange anhaltend:

„Varulv!“ Sie wartete, drehte sich in Richtung Wald, rief abermals, wartete noch einmal und stapfte schließlich durch das hohe, scharfe Gras, zwischen den kantigen Steinen hindurch, hin zum Strand, wo das Wasser schäumend zwischen den großen Felsen und über sie hinweg, an die Küste, das Land, über die Steine hinwegrollte. Ihr Schritt war fest, doch keineswegs derb, sondern von einer natürlichen Anmut. Es schien das Selbstverständlichste, so in der Frühe vom warmen Lager aufzustehen und an den Strand zu gehen.

Ihr Blick richtet sich auf das Meer, als erwartete sie dort etwas. Und tatsächlich, als sie schließlich nahe genug war, sah sie ein Schiff dort schaukelnd vor Anker liegen; ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Sein Mast ragte hoch hinaus und wankte mit der Dünung. Die Rah mit dem Segel war niedergeholt und lag auf zwei Ständern, die mittschiffs kopfhoch standen. Sie stellte sich auf einen Stein und lugte zum Schiff hinüber. Viel konnte sie im Dämmerlicht nicht erkennen, denn der Rumpf des Schiffes war dunkel. Und doch sah sie, dass es ein schönes und großes Schiff war. Vor- und Achtersteven ragten weit über Heck und Bug hinaus, die beide spitz zuliefen. Die Steven bogen sich dort weich wie eine Schlange nach innen und mündeten in einer Spirale, wobei der Vorsteven weit höher ragte, als der Achtersteven. Schließlich entdeckte sie am Bug weiß schimmernde Zeichen. Doch wie wunderte sie sich darüber, dass sie diese Zeichen lesen konnte, denn niemals zuvor hatte sie irgendwelche Zeichen oder Schriften gesehen. Und als sie die Zeichen entzifferte und verstand, wie schnellte da ihr Herz hoch, wie bei einem fürchterlichen Schrecken. Denn es war ein Name dort zu lesen, den sie zu kennen meinte, woher aber, das wusste sie nicht. Ganz sonderbar wurde ihr zumute, eine unbekannte Wehmut überfiel sie. Arwila stand dort geschrieben! Und alles schien so zu geschehen, wie es der große Adler, der nur eine Klaue hatte, in der letzten Neumondnacht bei seinem Besuch bei ihr vorhergesagt hatte.

Das war wahrlich ein großer Adler, kein gewöhnlicher - so groß, wie ihn die Welt selten zu sehen bekommt. Woher er gekommen war, wusste sie nicht, das hatte er ihr, trotz ihrer Nachfrage nicht gesagt. Er hatte einfach nur mit seinem scharfen, riesigen, krummen Schnabel an den Laden des kleinen Fensters gepocht, hatte gerufen, hatte in ihrer Sprache zu ihr gesprochen und sie nach jener seltsamen Wurzel gefragt, die sie tags zuvor gefunden und mit heimgenommen hatte. Sie hatte es eigenartig gefunden, dass diese Wurzel so sehr der Klaue eines Adlers glich. Und nun hatte sie erstaunt sehen können, dass diesem Greifvogel sein rechter Fang fehlte. Und sie hatte mit noch größerem Staunen erkannt, dass ihre vermeintliche Wurzel, eben seiner Klaue, mit all ihren scharfen Krallen, sehr, sehr ähnlich war. Verwundert darüber war sie der Nachfrage des Vogels gefolgt, hatte die Wurzel hervorgeholt und ihm gezeigt. Und als sie mit ihr nahe bei ihm war, hatte er plötzlich blitzschnell mit dem Schnabel nach ihr geschnappt und sie nicht wieder freigegeben. Dabei hatte er gezischt und ihr schließlich fürs Wiederfinden gedankt:

„Ist meine Klaue“, hatte er behauptete. – „Wusste, dass es einmal geschehen würde - hatte sie einst deinetwegen verloren. Nun aber, da ich sie zurückhabe, halte dich bereit, denn dein Schiff wird kommen und dich holen! Schon bald in der Frühe, nach der ersten Nacht des nächsten, vollen Mondes. Versäumst du diese Zeit, ist das mein Tod, und alle deine verschleierten Träume gehen dahin - versiegen, ohne je in Erfüllung zu gehen.“ So hatte der Adler gesprochen und sich dann von der Fensterbank abgehoben, die riesigen Schwingen schlugen die Luft, dass es rauschte, dann war er in der Dunkelheit verschwunden.

Sie, die namenlose Maid, denn sie kannte keinen Namen, der ihr galt, hatte ihm nachgeschaut – hatte lange und nachdenklich in die Nacht geschaut. Eine eigentümliche Stimmung hatte sie dabei befallen, eine Mischung aus Traurigkeit und Glück, weshalb aber, das wusste sie nicht. Sie hatte nur geahnt, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Und sie hatte gespürt, dass etwas Verborgenes in ihr war; sie wusste nicht, ob etwas Gutes oder Schlechtes, nur, dass seit dem Besuch des Adlers nichts mehr so für sie war, wie zuvor.

Und während sie seither darüber nachdachte, hatte sie sich plötzlich gefragt, wie sie denn hier an diesen verlassenen Ort geraten war. Sie fragte dies so, als entdeckte sie das erst jetzt, als hätte man sie im Schlafe hierhin versetzt. Andererseits wusste sie schon noch, dass sie hier an diesem Platz der Welt, hier auf diesem Zipfel, am Rande des alle weltumspannenden Wassers, bereits lange verweilt hatte. Sie hatte hier gelebt, alleine, still und fast stumm, ohne Kontakt zu anderen Wesen, ohne jedes Gespräch mit ihresgleichen, nur mit sich und dem Strand, dem Himmel, dem Wind und dem Meer als getreue Freunde und ihren Schafen und Ziegen, von denen sie lebte und schließlich mit Varulv noch, dem großen, grauen Wolf, der eines Tages aus den Wäldern des Hinterlandes zu ihr gekommen und einfach geblieben war. So war die Zeit vergangen, und ihr Leben war ohne jede Erinnerung, ohne jedes Wollen, ohne jede Frage gewesen. Einfach nur da sein, das war ihr Leben und nichts als da sein - gestern, heute, morgen, möglicherweise immerdar. Und dass das so war, hatte sie nicht gestört, konnte sie nicht stören, denn alles hatte sich selbst genügt. Doch jetzt – jetzt auf einmal hatten sich Fragen darüber in ihr Denken geschlichen. Fragen, die sie überrascht hatten und die sie schier zu überwältigen schienen.

Als der Adler davongeflogen war und sie lange in die Nacht geschaut hatte, da hatte sie sich fast wankend vom Fenster abgewandt und sich auf ihren Stuhl gesetzt, die Ellbogen auf den Tisch gelegt, ihren Kopf zwischen ihre Hände geklemmt und ihre Augen geschlossen. Sie hatte sie geschlossen, um nachzudenken, um zu suchen - nach Bildern vielleicht, Erinnerungen, die möglicherweise vor jener Zeit lagen, da sie hier an diesen einsamen Ort gelangt war. Einsam - ja, das hatte sie plötzlich wahrgenommen, so einsam war es hier. Bisher war ihr das nie in den Sinn gekommen. Doch jetzt, mit einem Mal! Es musste doch ein Vorher gegeben haben. Aber was?

Nichts jedoch war ihr nach langem Nachdenken eingefallen. Und so hatte sie sich auf ihr Lager gelegt und sich mit ihren warmen Fellen zugedeckt. Varulv, der oft auch nachts neben ihrem Lager verweilte, war in jener Nacht nicht da, er pirschte wohl durch die Wälder, wie er es gerne tat, um ein Stück Wild für seinen großen Hunger zu finden, gutes Fleisch, von dem er ihr manchmal ein prächtiges Stück mitbrachte und mit ihr teilte.

Ihr war warm unter den Fellen, und doch hatte sie noch keinen Schlaf finde können. Sie hatte immer wieder an die Worte des Adlers denken müssen. >In der Früh, nach der ersten Nacht des vollen Mondes<. Ja, ich werde gehen, hatte sie dann beschlossen. >Mein Schiff<, hatte er gesagt. Wie konnte das sein, sie … und ein Schiff…? Das hatte sie nicht verstanden, und sie war neugierig auf das, was kommen würde.

Später dann hatte sie nur dagelegen und für eine Weile in die Nacht gelauscht und den Wind gehört, der um ihre Hütte schlich. Von weitem hatte das Meer gesungen, hatte gerauscht – raunend, tosend, immerfort, ohne Unterlass, mit unbändiger Kraft. Und ihre Gedanken hatten sich in diesem Klang eingesungen, hatten sie nach irgendwohin getrieben. Bilder hatten sich vor ihrem inneren Auge gezeigt, erst bekannte, doch dann hatten sie gewechselt und hatten mehr und mehr die Farben und Linien einer fremden, unbekannten Welt angenommen: Sie hatte eine große, golden spiegelnde Wasserfläche vor sich gesehen und Wälder rundherum, wie bei einem See. Doch ihr Blick war ganz auf diesen Goldglanz des Wassers gerichtet gewesen. Immer näher war sie ihm mit ihrem Blick gerückt, hatte sie sich auf die Goldfläche zubewegt. So dicht, als schaute sie in einen Spiegel aus reinem Gold. Und wirklich, plötzlich hatte sie dort ihr Gesicht entdeckt, ebenso, wie sie es hin und wieder im Brunnenwasser hinter ihrer Hütte gesehen hatte. Überrascht nun hatte sie sich angeschaut. Und genauso überrascht hatte schließlich auch das Spiegelbild zurückgeschaut. Dann war sie noch näher herangerückt, dass sie und ihr Spiegelbild sich beinahe berührten. Sie hatte sich forschend gemustert, bald wie eine Fremde: Ihre Augen – dunkel schienen sie, mit ebenso dunklen und dichten Augenbrauen darüber. Der Mund – weiblich, fein geschnitten, nicht üppig, doch auch nicht schmal. Ja, so hatte sie sich angesehen, sich gesucht, sich entdeckt. Plötzlich jedoch hatten sich die Augenbrauen im Spiegelbild verzogen - und dann: Ein Blick! Was für ein Blick? – Entsetzt war sie von ihrem Lager hochgeschreckt. Was ist das? hatte sie sich entsetzt gefragt. Ein solcher Blick – wie böse, wie zornig! War sie das etwa? War das von ihr gekommen? Doch so etwas war ihr fremd, solch Zorn im Blick, solch Böses hatte sie selbst nie erfahren oder erleben müssen. Und so hatte sie sich beunruhigt gefragt, woher das plötzlich kam?

In ihrer Kammer war alles still gewesen, da war nichts. Nur Varulv war zurückgekehrt, sie hatte es nicht bemerkt. Er hatte sich wieder zu ihr gelegt, mit ruhigem, beruhigendem und gleichmäßigem Atem. Er schlief den Schlaf des Wolfes, still und doch stets ein Ohr in Habacht.

Die nächsten Tage waren ihr wie eine mühselige Wanderung vergangen. Die Stille, die Einsamkeit hatten ihr nunmehr zu schaffen gemacht. Sie hatte sehnsüchtig des Tages, der Nacht geharrt, da der Mond endlich in voller Größe aufgezogen wäre. Täglich war sie ans Meer gegangen, um zu sehen, ob vielleicht doch schon das angekündigte Schiff eher gekommen wäre. Aber da war nichts, der Horizont war ohne die Konturen eines nahenden Schiffes geblieben. Und als es dann soweit war, der Mond zur vollen Fülle angewachsen war, da hatte sie sich schon an das Warten gewöhnt. Und am Abend dann hatte sie sich ganz ruhig auf ihr Lager niedergelegt, denn sie war sicher, dass es ihre letzte Nacht hier wäre. Nur Varulv war nicht bei ihr, das hatte sie beunruhigt. Er war die letzten Tage nicht mehr gekommen. Das war für sich gesehen nicht ungewöhnlich, manchmal blieb er viele Tage fort, doch nun hatte sie es sehr gestört, sie hatte nicht einfach gehen wollen, so, ohne ein Wort zu ihm.

Und nun stand sie da, wie es der Adler verlangt hatte, am Strand, in der Frühe und sah vor sich in der Dünung das angekündigte Schiff, das ihres sein sollte und den schönen Namen Arwila trug. Zunächst aber konnte sie nicht mehr entdecken, als das. Niemand war auf dem Schiff zu sehen. Vielleicht lag das an der Dämmerung. Da musste ja irgendwer sein. - Was sollte sie tun? Sie würde geholt werden, hatte der Adler angekündigt, also wartete sie ab. Bestimmt hatte man sie bereits entdeckt, falls man auf sie wartete. Sie hockte sich auf einen Stein und schaute auf das Meer. Der Himmel färbte sich zusehends von dunkelblau nach grün und wurde heller. Die Sonne würde bald ihre ersten, warmen Glitzerspitzen über das Meer legen; der Tag begann.

Plötzlich hörte sie etwas: Ein leises, gleichmäßiges Knarren wehte der Wind zu ihr herüber. Sie sprang auf und entdeckte ein Boot, das direkt auf sie zuhielt. Sie sah, wie die langen Riemen auf und ab gingen und gleichmäßig kräftig durchs Wasser gezogen wurden, doch einen Ruderer konnte sie nicht entdecken. Es schien fast, als ob das Boot von unsichtbarer Hand geführt wurde. Es mochte an der Dämmerung liegen, dass es ihr so schien. Ein wenig aber fürchtete sie sich jetzt doch. Wer mochte da rudern, was würde er sagen, was würde er wollen? Noch nie hatte sich jemals hierhin ein Schiff verloren, noch war je hier ein Mensch oder ein anderes Wesen zu ihr gestoßen, bis auf Varulv. Und sie hatte es bisher weder vermisst noch irgendwann erwartet. Doch nun, da es geschah, schien es ihr auf einmal so unvorstellbar, dass sie all die lange Zeit so allein gelebt hatte. Und wenn sie sich auch ein wenig vor dem, was jetzt geschehen mochte, fürchtete, so war sie doch ungleich froher darüber, dass offenbar die Zeit des Alleinseins vorüber war.

Sie sah sich um und hielt Ausschau nach Varulv. Dass er jetzt nicht bei ihr war, betrübte sie. Sie konnte doch nicht ohne ihn oder wenigstens nicht ohne sich von ihm zu verabschieden, diese Gestade verlassen. - Das Boot war jetzt ganz nahe, wenige Bootslängen noch, dann würde es auf den Kies auflaufen. Sie wich ein Stück zurück, denn jetzt schien es ihr sicher, dass das Boot von einer unsichtbaren Kraft gerudert wurde. Ihre Neugierde war jedoch größer, als ihre Furcht, so blieb sie mit einigem Abstand stehen. Mit pochendem Herzen wartete sie, was geschehen würde.

Das Boot landete an, die Ruder wurden längs gelegt, es klapperte. Dann hörte sie ein Geräusch, als wenn jemand aus dem Boot gesprungen wäre, und auch das Boot schaukelte entsprechend so. Sie sah, wie ein Tau, das vorn am Boot befestigt war, in der Luft hing, als würde es gehalten. Und so war es auch, denn das Tau straffte sich, und das Boot tanzte daran im Wasser der auflaufenden Wellen. Ihr war unbehaglich, was sollte sie tun? Sie machte einen zaghaften Schritt auf das Boot zu und blieb wieder stehen. Nichts geschah. Irgendwer oder irgendwas musste dort sein. Es konnte etwas Gutes, doch ebenso auch etwas Bedrohliches sein. Aber der Adler hatte ihr aufgetragen, hierher zu kommen. Und alles, was er vorhergesagt hatte, war eingetroffen. Danach sollte sie also von ihrem, ja, ihrem Schiff abgeholt werden. Sie gab sich einen Ruck und ging die wenigen Schritte zum Boot. Als sie schließlich davor stand, ihr Herz schlug heftig, da vernahm sie eine dunkle, seltsam krächzende Flüsterstimme neben sich:

„Herrin, erschrick nicht“, sprach sie langsam, wie wenn es ihr schwerfiele zu sprechen. – „Diese Stimme gehört zu mir; Garl werde ich genannt. Ich habe den Auftrag, dich an Bord zu holen.“ Sie wich zurück und starrte in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte:

„Wer?“ fragte sie unsicher. - „Wer - Garl? – Wo bist du? Weshalb kann ich dich nicht sehen?“

„Ich bin ein Schattenkrieger, bin Garl, bin der Anführer der Schattenkrieger. Wir kommen im Gefolge meines Freundes. Wenn die Sonne hervorbricht, wirst du uns sehen, grau wie die Schatten zwar, aber du kannst uns sehen. Und jetzt folge mir, Grol wartet“, das sprach er mit einem rollenden R, – „komm, steige in das Boot!“ Sie zögerte.

„Schattenkrieger – und jetzt Grol - wer ist das nun wieder?“ fragte sie. Sie hörte, wie die Stimme tief durchatmete, und sie sah, wie das Boot ungeduldig mit einem Ruck ein Stück weiter auf den Strand gezogen wurde.

„Herrin, was fragst du, hat man dich nicht rufen lassen? Komm, alles andere wirst du erfahren, wenn es an der Zeit ist.“

„Und Grol, ist das dein Anführer?“ gab sie nicht nach. Die Stimme seufzte:

„Ein letztes Wort, dann müssen wir zum Schiff. – Grol ist der Schiffsführer, er hat uns und dein Schiff gefunden. Und nun steig ein, Herrin“, gebot die Stimme nachdrücklich, aber mit der Höflichkeit eines Untergebenen.

„Gut“, antwortete sie, - „ich will dir vertrauen.“ Sie schritt am Tau entlang zum Boot, verharrte einen Augenblick dort und stieg schließlich ein, blieb aber vorne im Boot stehen.“

„Nimm Platz, Herrin, auf der hinteren Bank, sonst kann ich nicht zusteigen“, hörte sie die Stimme sprechen und sah, wie das Tau durchhing und zum Boot hingezogen wurde. Doch sie reagierte nicht auf seine Bitte und blieb stehen.

„Was ist, Herrin? Lass mich zusteigen.“

„Nein, einen Augenblick noch bitte, ich warte auf jemand.“

„Soll noch wer mit? Davon weiß ich nichts!“ entgegnete Garl und sie spürte, wie sich der Unsichtbare umdrehte. – „Wir müssen an Bord sein, noch ehe sich die Sonne übers Wasser legt“, trieb Garl zur Eile. - „Und ich weiß auch nicht, ob es klug ist, noch jemand mit an Bord zu bringen. Aber gut, mal sehen, was Grol dazu sagt und mein Freund. – Doch wo bleibt er denn, dein Begleiter, Herrin? Ich kann niemanden entdecken.“

„Ich weiß es auch nicht. Man sieht ihn aber auch nicht leicht, das ungeübte Auge fast gar nicht. Ich weiß nur, er wird kommen.“

„Wie du meinst, Herrin“, seufzte die Stimme, - „aber lange können wir nicht mehr warten.“

„Brauchen wir auch nicht“, entgegnete sie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. - „Ich spüre, er ist hier, wir werden es gleich sehen.“ Und noch im selben Augenblick sprang, wie aus dem Nichts, ein großer, grauer Wolf, mit einer weißgrauen Schnauze vor das Boot, sprang mit einem Satz hinein und hockte sich hechelnd an die hintere Bank.

„Ein Wolf?“ staunte der Unsichtbare, und seine Stimme krächzte noch heftiger.

„Ja, ein Wolf – stört dich das, fürchtest du dich?“ fragte die namenlose Maid.

„Herrin, das ist nicht recht gesprochen! Weshalb sollte ich mich fürchten, warum sagst du so etwas?“ entgegnete Garl, und es klang verletzt. - „Ich bin gespannt, was Grol sagt, wenn er den Wolf sieht.“

„Verzeih“, gab sie betroffen zurück, - „doch wenn ich nur mit einer Stimme, statt mit einem Menschen sprechen kann, wie soll ich da wissen…“

„Ist schon gut, lass uns jetzt fahren, jeden Augenblick geht die Sonne auf“, bat Garl wieder ruhig. Und als die Namenlose sich nun hinten auf die Bank neben den Wolf hockte, da schob sich das Boot mit einem kräftigen Stoß ins Wasser zurück und Garl stieg hinzu. Er musste von mächtiger Gestalt sein, so wie das Boot unter seinen Füßen knarrte. Dann merkte sie, wie er sich auf die Bank vor ihr niederließ und zu den Riemen griff; sie tauchten ins Wasser und zogen durch. Das Boot setzte sich in Bewegung, wendete und hielt auf das Schiff zu.

Sie sah auf den Platz, wo Garl saß und bemerkte mit einem Mal, als sie ihren Blick auf die Arwila ausrichtete, dass sich vor ihr ganz schwach und schemenhaft eine Figur abzeichnete, durch die sie teils hindurchschauen konnte, aber eben nicht ganz.

„Nun, Herrin, sprach Garl mit seiner krächzenden Flüsterstimme, - „siehst du, es eilt! Die Sonne kommt gleich, meine Schemen werden sichtbar, und die ersten Möwen kreisen. Es wird Zeit, dass ich an Bord komme. Denn das Schiff ist mein Schicksal und mein Hort. Es ist das Schicksal aller Schattenkrieger dort. Außerhalb des Schiffes sind wir bei Sonnenlicht sichtbar für das Auge der Spähmöwen des Feindes.“

„Des Feindes…?“

„Ja, des Feindes, meines, unseres und auch deines; doch davon später. Erst einmal müssen wir auf das Schiff.“ Sie sagte nichts und legte ihre Hand vertraut auf Varulvs Nacken und kraulte ihn, das beruhigte sie:

„Hast du das gehört? Wo hast du gesteckt, mein Grauer, beinahe hätte ich ohne dich fahren müssen.“

„Mein Kind, deine Sorge war unnötig“, antwortete der Wolf mit tiefer, klarer Stimme. - „Niemals hätte ich dich alleine gehen lassen. Ich wusste viel eher, als du vom Schiff, ich habe mit dem großen Adler gesprochen.“

„Du hast ihn gesehen?“

„Hab ich, hab ich – und mehr noch, wir sprachen miteinander.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf und fragte halblaut:

„Was geht nur vor?“

„Gutes, hoffe ich“, murmelte der Wolf und schleckte sich das Maul.

„Und die Feinde, wieso Feinde?“

„Es ist so, mein Kind, Feinde findest du überall und zu allen Zeiten. Die Menschen und ihre Artverwandten lieben die Feindschaft, das war schon immer so und wird, so fürchtet dein alter Wolf, auch so bleiben.“ Sie senkte den Kopf und schwieg.

„Wie ich merke, Herrin, sprichst du die Sprache der Tiere; ich nicht“, mischte sich Garl ein. - Sie waren jetzt nicht mehr weit vom Schiff entfernt.

„Ich verstehe Varulv und er mich, was ist dabei? Verstehst du ihn nicht? Ich spreche nicht anders als sonst“, erklärte sie verwundert. Da war ein leises, freudiges Lachen vernehmbar, und Garl flüsterte geheimnisvoll:

„Oh ja, Herrin, was ist schon dabei, das mag für dich so sein. Und doch, ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich über all das bin. Und sei getrost, bei allem, was fortan geschieht, ich werde an deiner Seite sein.“ Sie wollte noch etwas antworten, aber sie stießen an das Schiff.

Sie schaute hoch und sah geradewegs in das Gesicht eines rotbärtigen Ungetüms, dessen Kopf eben über das Dollbord reichte. Neben ihm, gleich zwei Köpfe größer, ein kräftiger Krieger, mit wallend, rotblondem Haar und einer scharfen, frischen Narbe auf der linken Wange.

„Da seid ihr ja! Verdammt, ich dachte schon, Seegeister hätten euch gefressen!“ krähte der Rotbärtige. – „Beeilt euch, wir wollen los, die Gegend hier gefällt mir nicht!“ Und zu seinem blonden Nebenmann brüllte er: „Was glotzt du? Los, fass an - die Leiter!“

„Männer, die Leiter!“ rief der, und schon wurde eine Leiter heruntergelassen.

„Verdammt, was soll denn der Wolf da!“ rief der Rotbärtige herunter, während die Namenlose die Leiter bestieg.

„Frage die Herrin, Grol“, antwortete Garl, - „sie will wohl, dass er mitkommt.“

„Genau - das will sie!“ gab diese unbekümmert zu verstehen, kletterte hoch bis an das Dollbord und blickte unversehens in das rotbärtige Runzelgesicht Grols. Als der sie nun so von Nahem sah, schrak er jäh zurück, und auch seine Männer, die neben ihm standen, wichen unversehens zurück:

„Wirala!“ stießen sie entsetzt aus.

„Verdammt, ihr Dummköpfe, die Leiter!“ brüllte Grol. - „Mann, die Leiter - sie kippt!“ Doch da hatte die Namenlose sich schon selbst am Dollbord festgehalten und Grol hatte sie beim Arm gepackt und zog sie an Bord. Ihr wurde beinahe schwindelig, bei seinem Griff, so feste hielt er sie. Sie machte eine unwirsche Bewegung und richtete sich auf, während sich die Männer um sie scharten. Einen Augenblick später stieß Varulv, der Wolf, dazu und hockte sich neben sie. Auch Garl kam, begab sich aber abseits der Männer. Die Namenlose konnte ganz schwach seinen Schatten sehen, und es schien ihr, dass er sie nicht aus den Augen ließ.

„Grol, was ist das, wie kommt die hier an Bord? Was ist das für ein böser Zauber? Sind wir dafür geflohen, dass wir die jetzt hier am Hals haben!“ knurrte einer der Männer.

„Ja, Mann, dafür sind wir wirklich nicht geflohen, dass du sie uns hier an Bord holst! Schmeißt sie über Bord, ins Wasser mit ihr oder wir sind des Todes!“ rief ein zweiter Mann und machte einen drohenden Schritt auf die Namenlose zu. Da jedoch fletschte Varulv die Zähne und knurrte, dass der Mann gleich wieder innehielt und nach seinem Sax griff. Doch er hatte es noch nicht ganz gezogen, da stürzte er auch schon zu Boden. Ein heftiger Schlag hatte ihn getroffen.

„Rührt sie nicht an, sage ich euch, oder es ist wirklich euer Ende“, zischte Garl, der Schattenkrieger, der kaum sichtbar, wie ein Blitz dazwischen gegangen war und sich nun schützend vor die Namenlose stellte. Und diese spürte, dass die Männer um sie herum, plötzlich von einer Schar Schattenkrieger umringt wurden, die wie auf ein Kommando aus ihren Verstecken hervorgekommen waren. – „Ich sage euch, ihr irrt, es ist nicht Wirala, auch wenn es so scheint. Wirala ist da, wo ihr sie verlassen habt, am Goldsö.“

„Gut, gut“, meldete sich jetzt Grol, - „hören wir auf Garl, den Anführer der Schattenkrieger.“ Misstrauisch schielte er zur Namenlosen hoch, schnäuzte sich und knurrte: „Verdammt aber, wenn sie nicht Wirala ist, wer ist sie dann?“

„Wenn ihr es nicht wisst, ihr Armseeligen, der Fluch der Dunkelalben hat euch den Blick getrübt“, schimpfte Garl und seine tonlose Stimme gurgelte: – „Seht sie euch doch an, seht sie euch genau an, trägt sie vielleicht den schwarzen, magischen Stein Wiralas auf der Stirn?“ Verblüfft stierten sie die Namenlose an und raunten untereinander: >Stimmt was der Schattenkrieger sagt, sie trägt den schwarzen Stein nicht, wie ist das möglich?<

„Krul hat recht“, stellte auch Grol fest und strich sich nachdenklich über den Bart. Dann richtete er sich an die Namenlose. - „Wer bist du, wenn du nicht Wirala, die Herrin der sieben Seen bist?“ Die Namenlose blickte ihn stumm an und schlug wortlos die Augen nieder. Und statt einer Antwort von ihr, hörten sie vom Mast oben eine Stimme rufen:

„Sie wird es euch nicht beantworten!“ Alle reckten die Köpfe! Da entdeckten sie hoch oben auf dem Mast, einen großen Adler, mit dunklem Gefieder, soweit das in der Frühe gegen den blaugrünen Himmel zu erkennen war. Die Namenlose sah ihn und erkannte ihn sofort wieder. Es war derselbe Adler, der sie bei ihrer Hütte besucht und an den Strand geschickt hatte. Und doch staunte sie, denn sein fehlender Fang war nun da. Er war neu, war durch eine metallisch schimmernde Klaue ersetzt worden, und diese krallte sich, gleich der anderen, an den Mast. Als die Männer den Adler erblickten, verneigten sie sich ehrerbietig: >Gnoer, der Adler!< riefen einige. - >Unser Herr - unser Retter!<

„Genug!“ befahl der Adler mit der Stimme eines Mannes; sie klang klar, ein wenig scharf, wie von jemandem, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. – „Ich komme gleich zur Sache: Das Weib dort ist nicht die, für die ihr sie haltet! Sie ist eine Herrin, und sie verdient euren Respekt! - Später wird sie euch sagen, wer sie ist. Nennt sie derweil die Namenlose.“ Dann richtet er sich an Grol:

„Dich und deine Männer rettete ich aus den Fluten des Meeres und schickte dir dieses Schiff. Dafür versprachen deine Männer und du mir die Treue. Ich kenne Dich und kannte deinen Herrn von einst, den du längst vergessen hast. Ich traue dir. Darum höre, was ich von dir verlange: Die Namenlose ist eure Herrin, so wie Garl der Schattenkrieger, mein Freund aus alten Tagen und ich eure Anführer sind. Ihr soll es an nichts fehlen! All eure Sorge gilt ab nun ihr! Dafür stehst du, Grol, dafür steht ihr alle mir mit eurem Leben…!“ Gnoer hielt inne und blickte auf die versammelte Mannschaft. – „Schwört also der Namenlosen eure Gefolgschaft, so wie ihr es bereits für mich getan habt!“ verlangte er. Ohne Widerspruch richteten die Männer ihre Waffen in die Höhe und schworen es. Da gab sich Gnoer zufrieden. Sofort schwang er sich wieder auf, breitete seine weiten Schwingen und hob ab. Einmal umkreiste er das Schiff, dann rief er:

„Grol – Schiffsführer, das Segel gesetzt, und folgt geradewegs dem Wind, immer nur dem Wind folgen, denn:

Sieben Seen sind’s,

sieben Schlünde - tiefe Nacht,

zuletzt der goldene Eine,

der Elbenstein - alsdann

ist’s vollbracht.

Mit diesen Worten ließ er sie zurück, stieg hoch und höher und verlor sich in der tiefen Weite des Himmels in Richtung Horizont. Gleichzeitig mit seinem Verschwinden, fiel von Osten her das rotgoldene Licht der aufgehenden Sonne über die kabbelnde See.

Grol ließ den Anker lichten und das Segel setzen; ein rostrotes, schweres Tuch, geschmückt mit geheimnisvollen grünen, verschlungenen Spiralornamenten. - Für die Namenlose wurde auf dem Deck, fast mittschiffs zum Achterdeck hin, ein Zelt gespannt. Darunter richtete man ihr ein bequemes Lager ein.

Wohin es ging, wusste sie nicht. Alles, was sich bisher ereignet hatte, war ihr unerklärlich. Und sie fragte sich, warum sie es sich nicht erklären konnte, warum sie nicht wusste, wie sie hieß, wer sie wirklich war und woher sie stammte. Eine Herrin, hatte der Adler gesagt - wo denn und über wen sollte sie Herrin sein? Und diese Männer, dieser zwergenhafte Grol, wie der sie mit seinen kleinen, grünen Blinzelaugen ansah, unheimlich war er ihr. Wie konnte der Adler gerade ihm vertrauen? Und auch die anderen - ungehobelte Kerle waren sie, einfach gekleidet. Sie trugen nur ein Messer am Gürtel, ihr Sax, außer Grol, der war mit einer Axt bewaffnet. Wie froh sie war, dass da noch die Schattenkrieger waren, vor allem dieser Garl, dem vertraute sie, auch wenn sie nicht verstand, warum er und seine Krieger so schattenhaft waren.

Jetzt, da die Sonne aufgegangen war und sie sich langsam am Himmelsbogen emporhob, konnte sie Garl und seine Schar besser erkennen. Wie graue Nebelgeister wirkten sie, unheimlich und doch beeindruckend. Lange Umhänge trugen sie über ihrem Kettenhemd. An einem breiten Gürtel hing ein langes Schwert. Und Garl hatte da noch ein Horn stecken, einer Hornmuschel ähnlich. Auf dem Kopf trug er einen Helm mit einer Augenmaske, sodass sie sein Gesicht nicht wirklich erkennen konnte. Und unter dem Helm quoll schulterlanges Haar hervor, das vermutlich hellblond war, auch wenn sie das, wegen seiner Schattenhaftigkeit, nicht genau erkennen konnte. Die übrigen Krieger hatten Helme ohne Maske, und sie bemerkte, dass die Krieger Bärte trugen, Garl aber nicht. Und es schien ihr, wenn sie diese Krieger mit Grols Leuten verglich, dass es hochgestellte Männer sein mussten, schon der Waffen und ihrer Rüstung wegen.

Die Aufgabenverteilung auf dem Schiff war klar. Grols Leute führten das Schiff, sie waren die Seeleute, die Schattenkrieger hielten sich zurück und waren kaum sichtbar.

Auffrischender Wind hatte die Arwila erfasst, und das Schiff lief mit prallem Segel und ächzendem Mast vor dem Wind. Die See war ruhig, und die Sonne stand halbhoch. Es war ein gutes Schiff und gut im Holz. Nur an einer Stelle, gleich vor dem Zelt der Namenlosen, beim Mast, da waren zwei Decksplanken geflickt worden.

Wohin es ging, konnte keiner sagen. Alle hofften, dass es sich bald zeigen würde. Die Gestade, von denen die Namenlose und ihr Wolf gekommen waren, lagen bald weit hinter ihnen und waren nicht mehr zu sehen.

„Seltsames Schiff, was“, kam Grol auf die Namenlose zu, die sich vor ihr Zelt gesetzt hatte und sich die Sonne gefallen ließ. Er hockte sich daneben und fuhr fort: „Verdammt seltsam alles, Herrin. – Du, zum Beispiel, ich hätte mein rotes Haupt verwetten können, dass du … diese Ähnlichkeit aber auch! Bis auf den magischen Stein, das stimmt… Und dann dieses Schiff. Ein Geisterschiff, sag ich dir. Sieh mal, die geflickte Stelle da vor dir im Deck, kein Bootsbauer würde das so machen; und ich hab nachgesehen und entdeckt, auch die Schiffsplanken darunter waren durch, auch nicht vom Bootsbauer geflickt. Ich bin sicher, das Schiff ist schon Jahre auf dem Meer, ohne anzulanden oder in einem Hafen gewesen zu sein.“

„Wirklich?“

„Glaub mir, Herrin, ich weiß, was ich seh.“

„Und den Adler, woher kennst du ihn?“

„Den Adler? ja“, murmelte Grol nachdenklich und strich über seinen Bart. - „Du hast gehört, dass er sich Gnoer nennt.“ „Stimmt, Gnoer, und woher kennst du ihn?“

„Das ist eine Geschichte für sich.“

„Gut, dann erzähle sie mir, wir haben, vermute ich, Zeit für lange Geschichten. Erzähl mir deine Geschichte, bestimmt hat sie auch mit mir zu tun.“

„Mit dir?“ stieß er ungläubig aus, - „nein, Herrin, das glaube ich nicht.“

„Erzähl sie trotzdem. Wer bist du, und woher kommst du?“ Grol schnaufte und blickte sich um.

„Meinetwegen Herrin, wenn du es wünscht. Das Schiff läuft gut, der Wind ist prächtig, und Anderes ist nicht auszumachen; wir haben also wirklich Zeit. Dann höre also:

Ob ich noch alles weiß, Herrin, kann ich nicht versprechen, denn es ist verdammt sonderbar, meine Erinnerung - weggeblasen, wie vom Wind. Seit den Tagen, als wir, meine Männer und ich, aus dem Reich Rakons und Wiralas geflohen sind, weiß ich kaum mehr den Grund der Flucht. Nur dass Wirala und Rakon mit dunkler Macht das Reich der sieben Seen beherrschen. Die Menschen dort leben wie gefangen und haben nur ihnen zu dienen. Mag sein, dass meine Zwergennatur dieser Macht ein wenig gewachsen war. Mich konnte sie nicht gefangen halten, auch wenn ich lange blieb, verdammt lange, sag ich dir. Aber ich wollte fort, das weiß ich noch, nach den vielen Jahren dort, fort und wieder frei sein.“

„Sag, Grol, wer sind sie, Wirala und Rakon?“ unterbrach die Namenlose. Grol zuckte und blinzelte sie düster an:

„Da fragst du was“, mein Zorn hat mehr Erinnerung, als ich. Aber es ist wohl so, Wirala ist die Königin der sieben Seen und Rakon ihr König. Dunkelalben, heißt es, seien sie, und er sei der Düsterherr der Dunkelalben. So war es jedenfalls zuletzt. Aber es muss eine Zeit davor gegeben haben, eine bessere, glaube ich. Verdammt, wenn ich es doch nur wüsste – vergeblich! Dieses Wissen ist mir verloren gegangen, mir scheint, schon seit Langem. Und meine Männer, die haben selbst diese Ahnung nicht mehr.“

„Aber ihr habt geglaubt, ich sei Wirala, wie kommt das? Sehe ich ihr wirklich so ähnlich?“ Grol schnäuzte sich verlegen:

„Herrin, was soll ich da sagen?“

„Sag es, wie es ist! - Ich sehe schon, es ist so, doch warum?“ Grol rupfte sich an seinem Bart:

„Ja, es ist so! Doch es wäre mir tausendmal lieber, es wäre anders! Wie kann ein solches Dunkelalbenwesen, wie Wirala, dein Aussehnen haben? Wie kann es überhaupt so schön sein, so schön, wie du, Herrin?“

„Schön oder nicht schön“, entgegnete die Namenlose, - „es bedrückt mich, und es ist sicher nicht ohne Bedeutung, dass es so ist. Habe ich etwa eine Schwester?“ Grol sah sie grübelnd an und zuckte schließlich mit seinen kantigen Achseln:

„Frag mich so was – ich habe nie von einer Schwester Wiralas gehört oder ich erinnere mich nicht mehr daran.“

„Gut, wenn du es nicht weißt - aber über die sieben Seen, da weißt du was, das waren doch auch Gnoers Worte: >Sieben Seen sind’s…<, hatte er gerufen, oder nicht?“

„Herrin, ja, das rief er.“

„Werden wir vielleicht dorthin segeln?“

„Hab ich auch schon gedacht, müsste eigentlich sein“, murmelte Grol. - „Weiß es aber nicht, hat er ja nicht gesagt, und ich kenn auch nicht den Weg.“

„Wieso?“ staunte sie. - „Du kamst doch von dort, hast du doch gerade gesagt, oder?“

„Ja, verdammt - Herrin, hab ich gesagt, und es stimmt auch. Und doch weiß ich den Weg zurück zu den sieben Seen nicht mehr. Hier, sieh auf das Meer“, er zeigte nach Backbord, - „wo soll ich hin, nichts als Wasser, das mir fremd ist, das ich nicht kenne! So sieht es aus - ich weiß nicht, wo ich bin. Und das mir, einem erfahrenen Seemann - der Beste, sagte man im Reich. Ich hab es auch schon mit der Peilscheibe versucht, gestern, als wir hierher kamen. Aber hinter den Nebeln - alles unbekannt. Was das für ein Land ist, wo wir dich fanden, ich weiß es nicht!“

„Hat euch Gnoer aufgetragen, mich zu holen?“

„Ja, nach und nach, aber Garl wusste auch von dir. Ich glaube, der weiß mehr, als wir alle. Der ist ja auch schon länger als wir auf diesem Schiff.

„Wie denn das?“ erstaunt sie, und ihre Augen suchten nach dem Schattenkrieger.

„Also gut, erzähl ich dir auch davon was ich weiß“, antwortete der Schiffsführer mit einem Blitzen in seinen flinken Augen:

„Erst ging es uns schlecht. Wir flohen über die sieben Seen mit einem kleinen Boot, zwölf Riemen stark, und mit mir als Schiffsführer. Ich hatte die anderen, vor allem Krul, überreden können, mitzukommen - hab ihnen Abenteuer und Reichtum versprochen. Sind ja arme Schlucker, aber gute Männer und Seeleute.

Na, die Seen waren kein Problem, man ließ uns in Ruhe, niemand hegte Argwohn, denn wir hatten gut geschwiegen. Und ich war Grol, der Schiffsführer, ich durfte dieses Boot fahren, kleine Fahrten von See zu See. Andere Boote gab es nicht, bis auf die ganz kleinen und die Langschiffe Rakons. Und wenn ich mich recht erinnere, ich weiß nicht genau, Rakon ließ es auch nicht zu, dass irgendwer große Boote oder Schiffe baute. Und die Schiffsbauer wohnten bei seinem Hof am Goldsö. Nun gut, ich hatte das kleine Boot, und wir fuhren über den letzten See, den – den? Den Torsö – ja, verdammt, den Torsö. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau; Kampf muss da gewesen sein und Sturm, das Boot brach, glaub ich. – Komisch, meine Erinnerungen sind lückenhaft, aber nicht völlig erloschen, wie bei meinen Leuten. Aber weiter: Plötzlich oder irgendwann später, weiß der Listenreiche warum, waren wir Schiffbrüchige, und wir klammerten uns an die restlichen Planken unseres Bootes, irgendwo auf dem weiten Meer. Keine Küste war zu sehen, nur ein paar Möwen über uns, so wusste ich, dass sie nicht allzu weit sein konnte, aber zu sehen war sie nicht. Die See ging ruhig und das Wetter war klar. Ich zählte meine Männer, allesamt waren sie noch da, den Göttern sei Dank. Krul hatte es erwischt, ein Streich oder was sonst, hatte sein Gesicht aufgeschlitzt, doch das Salzwasser machte es wieder gut. Sie fluchten - statt Reichtum, jetzt Schiffbruch und Absaufen! Ich sage dir, das macht verdammt unfreundlich.“ Grol stutzte und wunderte sich: „Verdammt, da wussten sie ja noch, was ich ihnen versprochen hatte! Das müssen sie also später vergessen haben - vielleicht in diesen seltsamen Nebeln. Die haben einen Namen – Moment - nein, ich komm nicht drauf, einfach weg! – Die Männer fluchten also, ziemlich bedrohlich sogar, doch was sollte ich tun, es war passiert. Ich schwieg lieber.

Es verging eine lange Zeit, die Sonne senkte sich, die Nacht kam und mit ihr der Durst. Verdammt, sollten wir alle verdursten oder im Salzwasser verrecken? Die Männer knurrten und riefen die Götter an. Nichts geschah. So eine Nacht ist lang, sag ich dir, auch wenn der Sommer sie bei uns kurz hält. Dann kam die Morgendämmerung, und ich wusste, es wird bedrohlich für mich. Sollten wir heute keine Rettung finden, würden sie über mich herfallen und mich zerfleischen. Ich sah ihre finsteren Blicke, hörte ihr dunkles Raunen. Hilflos starrte ich über das Wasser, dunkel kabbelte es im Morgenlicht. Ich suchte nach dem Horizont und sah, wie er von der aufgehenden Sonne gelbgrün leuchtete und Himmel und Meer teilte; der Tag war nah.

Plötzlich wurde es dunkel vor meinen Augen. Der Horizont verschwand, als wäre dicker, grauer Nebel aufgezogen. War das mein Ende? >Nein, nicht das Ende!< stieß es aus mir hervor, und ich bemerkte, dass es gar kein Nebel war. Auch meine Männer brüllten auf. >Ein Schiff, ein Schiff! Rettung, Rettung!< Und bei den Göttern, wirklich, vor uns tauchte, wie aus dem Meer emporgestiegen, ohne Ankündigung, ohne dass es einer von uns vorher über die See hatte kommen sehen, ein Schiff auf. Ein großes Schiff, für an die vierzig Riemen. Schön, anmutig und dunkel lag es vor uns. Eine Augenweide für ein Seefahrerherz, Vor- und Achtersteven stolz hochgezogen und gebogen wie ein Schwanenhals und oben die Spirale. Am liebsten wären wir gleich drauf zu geschwommen. Meine Männer grölten vor Freude und es gelang mir nur mit Mühe, sie zurückzuhalten. Denn ich war misstrauisch, ich hatte bisher keinen Mann an Bord entdecken können. Und warum war das Segel nicht gesetzt? Und warum war nicht ein Riemen zu sehen? Verdammt ja, es war ein gutes Schiff, ein schönes Schiff, aber brachte es uns auch wirklich Glück oder wartete der Feind, der Tod auf uns? Am Bug, das war auch ungewöhnlich, da war ein Name geschrieben, der Name des Schiffes wohl. Das kannte ich nicht, so etwas macht man bei uns nicht. Ja, wir geben unseren Schiffen auch Namen, aber wir malen sie nicht aufs Schiff. Woher also kam dieses? Wo waren die Männer? Wie konnte es so heimlich, ohne dass wir es merkten, bei uns auftauchen - das Segel geborgen und ohne Riemen? Das war einfach unheimlich, ein Geisterschiff vielleicht, oder noch Schlimmeres.

Langsam bewegten wir uns auf das Schiff zu. Es schien auf uns zu warten. Was, wenn da hinter der Bordwand feindliche Männer auf uns lauerten? Wir im Wasser waren zu tief, um zu sehen, was an Bord vor sich ging.

„Grol, du Schlaumeier, was sollen wir machen?“ riefen meine Männer ungeduldig.

„Abwarten!“ riet ich. - „Abwarten, sage ich euch, das ist nicht geheuer.“ Und so warteten wir eine ganze Weile. Ganz still schien es zu sein. Vor Anspannung hörten wir weder Wind noch das Wasser um uns herum. Das Schiff, es war die Arwila, wie du dir denken wirst, lag still vor uns, es bewegte sich kaum. Kein Geräusch, kein Laut eines Lebewesens von dort drang zu uns herüber. Wir umkreisten das Schiff mehrmals, bis es uns zu dumm wurde. Wir konnten nicht mehr. Verdammt, dachte ich, wir müssen es versuchen, uns bleibt keine Wahl – und ob wir im Wasser oder vielleicht auf dem Schiff zu Tode kämen, da gab es keinen Unterschied mehr. Ich gab Krul und seinem Bruder Borg ein Zeichen, die gaben es Mann für Mann weiter. Wir teilten uns in zwei Gruppen und machten uns ganz dicht an das Schiff heran, eine Gruppe mit Krul an Steuerbord, die andere mit Borg an Backbord. Nur ich hielt mich genau vorm Bug, dass ich beide Gruppen sehen konnte. Ich wartete nicht lange und gab das Zeichen. Und mit etwas Schwung hängten sich die Männer ans Dollbord und zogen sich ins Schiff. Nur ich blieb zurück, ich konnte wegen meiner Zwergennatur so nicht an Bord kommen. Gespannt wartete ich. Doch es blieb still, kein Kampf, kein Geschrei war zu hören. Dann tauchte als erster Krul am Bug auf und schaute hinab zu mir.

„Nichts, keiner da, alles leer!“ rief er und die anderen gesellten sich dazu.

„Gut, gut!“ antwortete ich. – Los, dann holt mich an Bord!“

„Sollen wir das?“ hörte ich da, und die Burschen lachten. – „He, nach allem, was passiert ist?“ rief dann einer. Verdammt, ich wusste nicht, ob es Spaß oder Ernst war.

„Ganz schön, wie unser Zwerg da paddelt“, blökte ein anderer. Und ein weiterer meinte grinsend: „Wir sollten ihn nicht stören. Immer schön strampeln!“ rief er und lachte.

„Verdammt, Krul!“ rief ich und bebte vor Zorn, dass das Wasser um mich herum zu brodeln begann. - „Was soll das? Verdammte Schweinebande, holt mich an Bord oder ich stopfe euch Lästermäulern das Maul!“ Krul lachte:

„Was willst du - sie wollen nur ihren Spaß, da kann ich nichts machen!“

„Mistkerl, hol mich raus! Ich hau dich in Stücke!“ fluchte, drohte ich.

Plötzlich hörte ich einen Aufschrei und einen dumpfen Schlag! Gerade kam die Sonne hervor und färbte alles goldgelb. Steinar sprang über Bord und schrie:

„Hilfe, Dämonen, Geister!“ Dann war es still. Ich sah, wie die Männer zusammenrückten - also ihre Köpfe, die konnte ich sehen. Sie waren nur mit ihren Messern bewaffnet. Unsere Waffen, bis auf meine Axt, hatten wir verloren. Dann hörte ich Krul >Jawohl!< rufen. Er wandte sich der See zu, sah zu mir herab, warf mir ein Seil zu und krächzte verstört:

„Grol, komm, wir brauchen dich, komm schnell, man verlangt nach dir.“

„Was, was? Wer verlangt nach mir?“

„Frag nicht, nimm das Seil, los! Schnell!“ drängte Krul fast flehend.

„Mir war nicht wohl. Aber ich wollte aus dem Wasser. Ich ergriff das Seil und ließ mich hochziehen und noch im Hochziehen befahl ich:

„Steinar auch, holt Steinar wieder raus!“ Und zu Steinar: „Verdammt, willst du absaufen, los wieder aufs Schiff!“ Dann wurde ich an Bord gezogen. Wütend sprang ich auf und wollte dem Erstbesten an den Kragen, als ich die bleichen Gesichter meiner Männer bemerkte. Krul machte eine Geste und wies hinter sich. Neugierig folgten meine Augen seinem Hinweis. Doch zunächst sah ich nichts, und ich dachte schon, das sei ein weiterer übler Scherz. Doch dann hörte ich eine Stimme, dunkel, aber leise flüsternd gesprochen und irgendwie auch krächzend:

„Du bist Grol, der Zwerg, ich erkenne dich“, sprach diese Stimme. – „Ich bin Garl, der Anführer der Schattenkrieger.“ - Verdammt, dann endlich sah ich ihn, diesen Schattenkrieger, du weißt - hast ihn und seine Männer ja gesehen. Aber im ersten Augenblick, so leicht erschrecke ich mich nicht, aber da…! Und dann bemerkte ich erst, dass wir von einer ganzen Schar schwer bewaffneter Krieger – dieser Schattenkrieger umringt waren.

„Was willst du, wer seid ihr?“ fragte ich. – „Schattenkrieger…? nie gehört.“

„Wundere dich nicht über unsere Erscheinung“, er wandte sich auch an meine Männer, - „ihr habt nichts zu befürchten, wenn ihr euch ruhig verhaltet und dem folgt, was man euch aufträgt.“

„Uns aufträgt? Sind wir deine Gefangenen?“ fragte ich.

„Spricht man so zu seinem Retter?“ entgegnete Garl barsch, lenkte aber gleich wieder ein und sagte: „Nein, Gefangene seid ihr nicht. Aber ich denke, ihr seid ehrliche Leute, und ohne uns – das ist doch so klar, wie der Himmel über uns, wäret ihr des Todes gewesen. Und daher meine ich, seid ihr in unserer Schuld.“ Ich runzelte die Stirn und strich das Wasser aus meinem Bart:

„Mag sein“, gab ich zu. – „Aber sag, in wessen Schuld stehen wir denn, Schattenkrieger, in deiner, in eurer? Woher stammt ihr, woher dieses Schiff?“ Garl knurrte angestrengt:

„Auch wenn es Dich nichts angeht, so will ich es gut sein lassen, und es dir und deinen Männer sagen: Wir sind Krieger und gehören zu diesem Schiff. Ein Fluch oder die Macht eines Dämons hat das Schiff und seine Mannen getroffen, vor vielen Jahren schon. So kreuzen wir über die Meere und warten auf den Tag, da sich alles ändern soll. Der Tag ist nun gekommen, denn du, Grol, bist zu uns gestoßen, darauf haben wir gewartet; wir haben es also gewusst. Mein alter Freund hat es uns vor langem schon vorhergesagt.“

„Dein Freund - wer?“

„Gnoer“, murmelte Garl und erklärte: „Du wirst dich wundern, ein Adler. Einst waren wir Gefolgsleute unseres Königs, er und ich. Aber wir sind auch alte Freunde, schon aus anderen, besseren Zeiten; da war er noch ein Herr, ein Krieger. Aber auch als Adler ist er nun euer Herr, ihr steht in seinen und meinen Diensten.“

„Hö, in seinen Diensten? Du meinst wirklich einen Adler, einen Vogel?“ fragte ich.

„Genau das, ein Adler! Er ist euer Herr, ein großer, riesiger Adler.“ Ich stutzte:

„Ein Adler, sagst du, ein riesiger…?“

„Ja, kennst du ihn?“ wollte Garl sofort wissen.

„Nein, nein! – oder doch? Da war mal was, verdammt, wie lange ist das her, ein großer, großer Adler? Am Goldsö - ja, ja! Ich meine auf Rakons Hof, da war einer. Irgendwas war mit dem. Verletzt, glaube ich - oder, verdammt, ich weiß es nicht mehr? – Alles diese Dunkelalbin, - ihr Fluch, ihr böser Zauber!“

„Dunkelzauber, ja, da wirst du recht haben, und ein Becher Bier darauf, dass ich diese Dunkelalbin kenne“, pflichtete Garl knurrend bei.

„Kennst du sie - Wirala?“ wunderte ich mich. Der Schattenkrieger stöhnte, wie wenn er an einer schweren Wunde litt, als er den Namen vernahm.

„Wirala…“, krächzte er mit seiner Flüsterstimme, - „ja, so nennt sie sich wohl, die Herrin am Goldsö.“ Ich pfiff leise und murmelte:

„Oho, du kennst sie, und es scheint dir keine angenehme Erinnerung zu sein. Macht nichts, das trifft sich gut, auch mir und meinen Männern geht es so.“ Da kam Garl auf mich zu, ganz dicht, groß und bedrohlich, so, mit seinem dunklen, eigentümlichen Umhang über seinem Kettenhemd, dem langen Schwert an seinem Gürtel, die rechte Hand auf dem Schwertknauf und diese leuchtenden Augen hinter seiner Maske. Noch nie sah ich einen Krieger, wie diesen hier; der, nebenbei bemerkt, seinen Helm und die Maske nicht abnimmt, nie. Er kam auf mich zu, beugte sich zu mir hinab, nahm mich in seinen Blick und flüsterte dann:

„Kann es also sein, das wir denselben Feind bekämpfen?“ Ich schnäuzte mich und fuhr mir durch den Bart. Nun, wie gesagt, ich bin ein Zwerg, Herrin, und nicht ohne Mut - ich ließ mich durch ihn nicht beeindrucken und erwiderte:

„Denselben Feind, ja, das mag sein – aber bekämpfen? Wir waren gerade dabei, vor ihm zu fliehen. Zu übermächtig ist er für uns paar Männer.“

„Fliehen?“ knurrte Garl verächtlich. - „Fliehen? Das ist unser unwürdig und deiner auch. – Gnoer hat gesagt, >der Tag wird kommen, da werden wir den Bann des Fluches brechen. Der Tag wird kommen, da kehren wir heim!< Und er sagte weiter, >Warten wir auf Grol den Zwerg, den großen Seefahrer!<.“ - Ich schnäuzte mich abermals und war ein wenig verlegen, bei so viel Lob:

„Du schmeichelst mir nicht schlecht“, erwiderte ich nach einer Weile, - „aber wir sprechen die ganze Zeit über deinen Freund, dem Adler. Wo ist er denn? Soll er sich doch zeigen, dann will ich glauben, was du sagst, und dann wollen wir unsere Schuld einlösen. Denn ich sage dir, du irrst, wenn du glaubst, wir hätten nicht Mut genug gegen Wirala und Rakon zu kämpfen. Doch wenn wir kämpfen, dann muss auch Hoffnung sein, dass wir obsiegen.“

„So ist recht gesprochen“, antwortet Garl, - „nicht mehr und nicht weniger soll sein. Ihr werdet es hören, ihr werdet ihn sehen, gleich schon - ich spür es, ich weiß es, Gnoer ist ganz nah, schaut nach oben, irgendwo dort am Himmel werdet ihr ihn entdecken.“ - Wir schauten hoch und suchten den Himmel ab. Niemand aber sah etwas, nur ein paar Möwen waren da.

„Möwen, nichts als Möwen!“ schimpften meine Männer.

„Keine gewöhnlichen Möwen, jedenfalls einige von ihnen“, stellte Garl fest.

„Was sonst?“ fragte Borg.

„Spähmöwen der Dunkelalben“, gab er tonlos zurück.

„Spähmöwen Wiralas? Meinst du Späher, Spione?“

„Meine ich, aber sei unbesorgt, dieses Schiff sehen sie hier auf dem Meer nicht, es ist Arwilas Zauber, er hält uns vor Wiralas Augen verborgen, noch...“

„Arwila?“ staunte ich, - „so steht es auf dem Schiff.“

„So ist es, Arwila, so heißt dieses Schiff“, antwortete Garl und blickte nach oben. – „Da, schaut hoch, er kommt, Gnoer naht!“

Wieder spähten wir in den Himmel. Ein schwarzer Punkt. Er kam von Osten, wie die Sonne. Er flog über sie hinweg, hielt auf das Schiff zu und wurde größer. Tatsächlich, ein Adler. Ein großer Adler über dem Meer, das sah man nicht alle Tage. Wie auf unsichtbaren Wolkenschichten glitt er mit seinen riesigen, dunklen Schwingen zu uns herbei - majestätisch, ohne jede Anstrengung, als hätten ihn die Götter gesandt. Wir waren voller Staunen, als wir ihn so kommen sahen. Und ich gestehe, wir wurden auch kleinlaut. Der schien uns von unbezwingbarer Macht. Er landete, oben auf der Rah, unglaublich groß. Komisch war’s mir mit ihm, ich erinnerte mich nicht, ihn je gesehen zu haben, obgleich ich irgendwie meinte, ihn kennen zu müssen. Ich sah, dass er einen seltsamen Fang hatte, dazu aber fiel mir nichts ein. Eine Klaue aus glänzendem Metall hatte er, täuschend echt, aber doch von fremder Hand kunstvoll gefertigt; das machte uns alle staunen.

Wir versammelten uns unter ihm, und auch die Schattenkrieger kamen hinzu. Garl begrüßte ihn mit seinem Namen wie einen alten Freund und doch auch wie einen Herrn, einen König beinahe. Der Adler aber schwieg erst einmal. Und wenn es auch ein Vogel war, so zweifelte ich nicht daran, dass er kein gewöhnlicher Adler war. Deshalb wunderte es uns auch nicht, als er nach einer Weile, nachdem er uns alle mit seinen scharfen Augen gemustert hatte, in unserer Sprache zu uns sprach.

„Es ist so weit, Männer!“ begann er. Er sprach so zu uns, als müssten wir wissen, wer er sei. Er stellte sich nicht vor. Er kam gleich zur Sache, wie heute auch: „Sieben lange Jahre des Verharrens sind vergangen! Der Fluch der sieben Jahre ist vorbei! Nun kommt unsere Zeit. Sieben Jahre kreuzen schon die Schattenkrieger wie Verlorene über das Meer. Nun aber ist die Zeit des Handelns gekommen. Ich habe meine Klaue wieder. Gefunden hat sie, wer sie zu finden ausersehen war. Und dem, der sie heimlich zum Fundort trug und derjenigen, die sie dort fand und mir gab, sei Dank. Die geheimen Kräfte eines alten Zaubers, eines fast zugrunde gegangenen - guten Zaubers, haben offenbar alle Kraft aufgewandt, das Unmögliche möglich zu machen, um zu retten, was verloren schien. Nun aber habe ich mehr denn je Hoffnung, dass es gelingen wird, die alten Rechte im Reich der sieben Seen wieder herzustellen!“ Dann wandte er sich an mich:

„Grol, da bist du! Und gerade zur rechten Zeit. Sicher auch Fügung, dass du so lange mit deiner Flucht gewartet hast. Ohne mich aber wäret ihr alle verloren gewesen. Denn ich war es, der dieses Schiff in eurer Not rief. Und so bist du in meiner Schuld. - Ich kenne Dich von früher, doch davon wirst du nichts mehr wissen. Ich weiß, du bist ein ehrlicher Mann, ehrlich und aufrichtig. Und als Seemann kenne ich keinen deinesgleichen.“ Er machte einen Satz, flog auf und ließ sich auf der Spirale des Vorstevens nieder. Jetzt schien er uns noch größer. Er richtete seinen Blick wieder auf uns, prüfend, wie mir schien. Dann sagte er:

„Es ist nicht die Zeit für lange Reden. Ich frage euch also, schwört ihr mir Gefolgschaft? Schwört ihr, mir und Garl zu folgen, wohin uns auch der Weg führt, bis zu dem Tag, da wir die sieben Seen von der bösen Macht der Dunkelalben befreit haben und es endlich wieder Licht wird über dem Goldsö?“ – Wir schwiegen und blickten uns einander fragend an.

„Nun, ihr schweigt“, fragte Gnoer ungeduldig.

„Haben wir eine Wahl?“ gab ich da zurück. Gnoer musterte mich scharf. „Haben wir eine…? Was geschieht, wenn wir uns verweigern?“ beharrte ich.

„Verweigern? Ihr seid in meiner Schuld!“

„Sind wir, das ist wahr, und doch ist dein Preis hoch“, entgegnete ich.

„Ist er das wirklich?“ fragte Gnoer streng, - „den sicheren Tod, gegen die Hoffnung auf Leben und die Rückkehr in die verlorengegangene Heimat.“

„Verdammt, dem kann ich nichts entgegenhalten. Und doch, es ist für uns eine Sache der Ehre, verstehst du. Wir sind freie Männer und wollen frei entscheiden!“ Gnoer lachte kurz auf:

„Bei meiner Eisenklaue, so kenne ich dich, Grol - Zwerg, du aus den Bergen und Wäldern, klug und verschlagen bist du. Was nur hat dich damals zu uns geführt, was treibt so einen wie dich auf die Meere? – Aber gut, es ist ein Glück, eine kluge Fügung.“ Er schaute zu Garl hinüber und sie tauschten beredte Blicke, schließlich nickte Garl. Und so gab uns Gnoer die Wahl, er versprach uns alsbald an Land zu setzen, wenn wir es verlangten. - Das nur wollte ich hören. Und so fiel es mir und meinen Männer leicht, uns für Gnoer und Garl zu entscheiden. Wir gelobten ihnen die Gefolgschaft. Dafür versprachen sie uns, uns wieder aus der Gefolgschaft zu entlassen, wenn das Reich der sieben Seen befreit wäre.

Wir waren zufrieden, nur Steinar nicht. Er wäre lieber an Land gegangen, er traute der ganzen Sache nicht. Inzwischen aber glaube ich, denkt er anders darüber.“

„Und dann?“ fragte die Namenlose voller Spannung, - „was geschah dann?“

„Was dann?“ Grol fuhr sich durch seinen roten, dichten Bart, der ihm bis auf seine Brust reichte, und den er offenbar liebevoll pflegte, besonders seinen Schnurrbart, den er an den langen Enden jeweils zu einem Kringel einrollte. Das Gesicht war ziemlich zugewachsen, man sah eigentlich nur seine lange, gebogene Nase und die kleinen, flinken, grünen Augen. Die Stirn, der Kopf, der Nacken waren voller Haare, die er hinten im Nacken mit einem kleinen Zopf zu bändigen suchte.

„Nun“, hub Grol wieder an, - „da gibt es nicht mehr so viel zu berichten. Gnoer gab Anweisung, dass ich mit meinen Leuten das Schiff führen sollte und dass wir gleich das Segel setzen sollten. Er nannte uns keinen Kurs, wie auch heute nicht. Immer vor dem Wind bleiben, hatte er befohlen, egal wo der uns auch hinführen würde. Das kam mir natürlich seltsam vor, doch Gnoer bestand darauf, und so ließ ich das Segel setzen. Dann verabschiedete er sich und gab mir noch auf, stets Garls Anweisungen zu befolgen. Später dann wollte er wieder zu uns stoßen.

„Nebelbank voraus! - Dichter Nebel, Grol!“ rief plötzlich Steinar vom Vordeck.

„Verdammt ja, da kommen sie wieder, diese grässlichen Nebel!“ fluchte Grol. – „Genau, jetzt fällt es mir wieder ein - die Nebel des Vergessens, werden sie genannt.“ Grol richtet sich auf und blickte nach vorn. Die Namenlose stellte sich neben ihn.

„Immer Kurs halten!“ rief er Fugi, dem Mann am Ruder zu. Doch Steinar verzog das Gesicht, als er Grols Befehl hörte und kam zu ihnen ans Zelt. Arwila fiel auf, dass er einer der wenigen unter Grols Leuten war, der keinen Bart trug, obgleich er schon älter war. Ein wenig verschlagen kamen ihr seine Augen vor.

„Grol, die sehen verflucht dicht aus, und so duster!“ zeterte er, als er vor ihm stand. - „Sieh, die dicken Schwaden - wie die wirbeln und wabern! Müssen wir da wirklich durch? Weiß der Listenreiche, was uns da erwartet! Das können keine gewöhnlichen Nebel sein! Die sind aus Niefelheim, das sage ich dir!“

„Red nicht - Niefelheim…!“ gab Grol barsch zurück. - „Da sind wir schon mal heil durchgekommen, hast du das vergessen!“

„Vergessen, was? Durchgekommen - wann?“ fragte Steinar etwas dümmlich.

„Ach, verdammt - ja! Vergessen - ja“, murmelte Grol. Dann befahl er Steinar ans Ruder: „… Klar?“

„Klar“, knurrte Steinar und wechselte mit Fugi.

„Na also“, murmelte Grol in seinen Bart, dass es Steinar nicht hören konnte, - „dann hast du was zu tun und kommst nicht auf dumme Gedanken. – Ich glaube, ich werde ein Auge auf dich halten müssen.“ Und Steinar nach, rief er: „Achte auf den Wind in den Nebeln - streng vor dem Wind bleiben!“

„Jawohl!“ kam es zurück.

„Herrin“, wurde die Namenlose plötzlich von Garl, der hinzugetreten war, angesprochen, du solltest dir wärmere Kleidung anlegen, in den Nebeln wird es mächtig kalt und feucht.“ Die Namenlose erschrak, sie hatte ihn nicht kommen hören.

„Oh, Garl … andere Kleidung?“

„Solltest du wirklich“, mischte sich Grol ein, - „es wird verdammt kalt, kalt und feucht, und es dauert eine ganze Weile.“ Die Namenlose lachte verlegen und bekannte:

„Andere Kleidung, ihr seid gut, ich habe nur das, was ich auf dem Leibe trage.“

„Verzeih, Herrin, wenn ich widerspreche, da irrst du“, entgegnete der Schattenkrieger. – „In deinem Zelt findest du eine Kiste, darinnen ist alles, was du brauchst. Und verzeih mir, wenn ich feststelle, dass es nicht nur wegen des Nebels an der Zeit ist, die Kleidung zu wechseln, aber dein Hemd ist einer Herrin nicht angemessen.“ Erstaunt blickte sie in das blasse, graue Gesicht des Schattenkriegers, sie sah seine wachen Augen hinter der Maske:

„Wer bist du nur, hinter deiner Maske, dass du sie nicht ablegst, hier auf dem Schiff?“ Garl zuckte ein wenig und antwortete noch leiser als gewöhnlich:

„Die Maske ablegen, Herrin, das ist mir nicht möglich. Solang ich ein Schattenkrieger bin, ist es mein Schicksal in dieser Rüstung zu stecken. Aber lass uns nicht über mich oder solche Dinge reden. Sieh, die Nebel kommen näher. Wir werden bald in sie eintauchen. Einmal noch, möge es das letzte Mal sein, und wehe nicht, ich glaube, dann sind wir alle verloren.“ - Ihr wurde kalt bei seinen Worten, und sie sah ihn fragend an. Er aber schwieg.

„Herrin“, stieß Grol sie an, - „tue was er verlangt, lege andere Kleider an.“ Sie seufzte mit einem Lächeln:

„Wenn zwei Aufpasser das raten, dann will ich wohl gehorchen.“

Die beiden verließen sie, und sie zog sich zurück, dabei vernahm sie, wie Grol zu Garl sprach:

„Wie dumm von mir, sie mit der Dunkelalbin zu verwechseln“, sie sieht ihr nur dem Scheine nach ähnlich, nicht nur wegen des fehlenden Steines. Hast du ihre Augen gesehen?“

„Hab ich“, hörte sie Garl ganz leise antworten. - „Ich kenne diese Augen, habe sie früher oft gesehen. Das letzte Mal vor langer Zeit, das war ein dunkler Tag für mich, doch sie trifft keine Schuld.“

„Ich sehe, das Schicksal geht verschlungene Wege. Wenn meine Erinnerung mich nicht so verlassen hätte, vielleicht wüsste auch ich mehr über sie und auch über Gnoer“, antwortete Grol.

„Es heißt“, sagte Garl, - „die Erinnerung wird wiederkommen; Gnoer sagt das. – Ich zieh mich zurück, in den Nebeln sind wir Schattenkrieger für die meisten nicht zu sehen. Wir brauchen das Sonnenlicht.“

Der Wind stand gut, die See war ruhig. Die Arwila machte volle Fahrt auf die Nebelbänke zu. Ein gespenstischer Anblick. Rundherum war es klar. Die Sonne stand nun hoch, und der Himmel war so blau wie selten, keine Wolke am weiten Firmament. Und dann da vorne, Bug voraus, solch dicker, drohender Nebel, der Horizont war von ihm verschluckt und nicht mehr zu sehen. Dicke Schwaden wehten, wirbelten durcheinander.

Der Kiel der stolzen Arwila schnitt durch das Wasser, brav gurgelte es an den leise ächzenden Planken entlang. Der Mast knarrte mahnend oder noch vergnügt unter dem vollen Wind. Die Männer waren unruhig und standen gespannt am Dollbord und schauten nach vorn auf die Nebel. Grol ließ jetzt keinen aus seinen flinken Augen.

„Bleibt ruhig, Männer“, murmelte er fast beschwörend, - „es ist nur Nebel, kein Dämon, also wacker drauf zu und durch.“ Er wusste, das tat ihnen gut. Sie waren mutige Männer, wenn es Mann gegen Mann ging, aber alles, was sie sich nicht erklären konnten, alles was ihnen geisterhaft und unheimlich schien, versetzte sie in Sorge und in Furcht, machte sie unsicher, minderte ihren sonst so draufgängerischen Mut. Er meinte, dass es früher nicht so schlimm gewesen sei. Und dass es jetzt so war, konnte nur mit den letzten Jahren im Reich der sieben Seen zu tun haben.

Plötzlich vernahm er ein Raunen, und als er sich umsah, da erstarrte er beinahe vor Staunen und vor Bewunderung. Die Namenlose kam zu ihm zurück. Nun nicht mehr in ihrem ärmlichen Hemd, sondern in einem vornehmen, frühlingsgrünen Gewand. Um die Taille war ein breiter Gürtel geschlungen mit einer goldenen Schnalle, auf der eine Spirale eingeprägt war und an der kleine Blätter hingen. Zudem hatte sie sich einen halblangen Umhang umgelegt. Das Haar, ein wenig wellig, hatte sie gekämmt, und es wand sich nun mittig gescheitelt an ihrem Körper herab und reichte ihr bis tief in den Rücken. Sie hatte eine lichte Haut. Und doch schien es, dass sie hoch über der schlanken Nase einen noch helleren Abdruck auf der Stirn hatte, einem Blatt gleich, etwa einem jungen Birkenblatt ähnlich. Etwa ein Mal? fragte sich Grol, als er es entdeckte. Wirala hatte an eben dieser Stelle einen ähnlich geformten schwarzen Stein. Nachdenklich hob er eine Augenbraue, er wusste nicht, was er davon halten sollte. Dennoch, die Namenlose war nicht Wirala, da war er sich bereits ganz sicher, auch seine Leute sahen das inzwischen ebenso.

„Herrin, wie schön du bist“, empfing er sie, als sie zu ihm trat.

„Schön?“ sie lachte leise auf, - „meinst du das wirklich?“

„Herrin, wie kannst du da zweifeln?“ wunderte sich Grol. - „Schau dir meine Männer an, wie sie gaffen.“ Die Namenlose senkte verlegen den Kopf:

„Du musst wissen, ich kann mich nicht erinnern, dass je ein Mensch sich zu meinem Aussehen geäußert hätte. Und doch, wie seltsam, seit ich dieses Gewand angelegt habe, lässt mich plötzlich ein ganz entferntes Gefühl vermuten, dass es zu andern Zeiten jemanden gegeben haben muss, dessen Schmeicheleien über mein Aussehnen mir sehr wichtig gewesen waren.“

„Das glaube ich wohl, Herrin“, sagte Grol freundlich und lächelte verschmitzt. – Doch jetzt Achtung, Herrin! Zieh deinen Umhang dicht, es kommen die kalten Nebel!“

Augenblicklich wurde es nass und graudunkel um sie herum. Die Männer stöhnten auf.

„Ruhig bleiben, Männer ruhig! Nur Kurs halten! Steinar, immer vor dem Wind gehen!“ rief Grol mit ruhigem, beruhigendem Ton.

„Fürchtest du dich nicht, in dieser Nebelwelt?“ fragte die Namenlose Grol nach einer Weile, als die Nebel immer dichter wurden, und sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Sie kannte so etwas nicht, das hatte es bei ihr an der Hütte nie gegeben.

„Ein wenig schon, Herrin, wenn ich ehrlich bin. Verdammt, aber ich bin der Schiffsführer, da darf ich keine Schwäche zeigen, sonst folgt die Bande mir nicht mehr. Doch ich bin ganz sicher, dass wir hier heil durchkommen. Jetzt, wo ich drin bin, erinnere ich mich genau - auf dem Weg zu dir, war es genauso. Es sind die Nebel des Vergessens, hat Garl mir gesagt. Offenbar kommt meine Erinnerung zurück, jetzt, wo wir diese unbekannte Welt, aus der du kommst, verlassen. Vielleicht geht es meinen Männern ja ähnlich, wir werden sehen.“

„Und mir vielleicht auch“, hoffte die Namenlose. – „Es ist doch keine Art, so ohne Namen, ohne Erinnerung zu sein, als hätte es mich nie gegeben.“

„Nie gegeben - das wäre aber schade, Herrin. Gerade fange ich an, dich richtig zu mögen.“

„Grol…“, gab sie verlegen zurück.

Die Arwila hatte etwas an Fahrt verloren. Die Männer waren still geworden und warteten darauf, dass sich die Nebel verlören. Die Namenlose fragte sich, was sich wohl hinter ihnen fände - was wohl überhaupt geschehen würde. Es war ein seltsames Schweigen an Bord. Die wenigen Geräusche vom Schiff, der Takelage, schluckte der dunkelgraue, nasse, satte Nebel. Die Zeit verstrich. Irgendwann durchbrach die Namenlose das Schweigen und fragte Grol:

„Wo steckt eigentlich Garl?“

„Der hat sich zurückgezogen, zu seinen Männern, glaube ich, sehen kann man sie ja jetzt nicht, nur im Sonnenlicht.“

„Herrin, du suchst nach mir?“ hörte sie da Garls Stimme neben sich.

„Huch, ich habe dich gar nicht kommen hören“, stieß die Namenlose aus. Und Grol krächzte:

„Verdammt, du kannst einen wirklich erschrecken! Euch Schattenkrieger möchte ich nicht zum Gegner haben, so heimlich, wie ihr seid, und dann deine Stimme, nicht laut, nicht leise - wirklich...“

„Verzeih, Herrin, ich wollte dich nicht erschrecken, ich kann ja nicht anders, es ist mein Schicksal so zu sein“, gab Garl ruhig zurück.

„Es ist gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, erwiderte die Namenlose und fragte: „Willst du mir nicht davon berichten? Du warst doch nicht immer ein Schattenkrieger. Sag, was hat es damit auf sich?“ Sie lauschte und vernahm ein tiefes, unergründliches Stöhnen; das kam aus der verborgensten Kammer seiner Seele, so schien ihr, und sie bedauerte ihre Frage. Sie tastete in Garls Richtung und bekam seinen Arm zu fassen, um ihn jedoch gleich wieder loszulassen.

„Verzeih, ich wollte dich nicht bedrängen“, entschuldigte sie sich leise, als sie spürte, wie er sanft, aber doch spürbar, seinen Arm zurückzog.“

„Ist besser so“, hörte sie ihn kaum hörbar leise schnarrend flüstern, wie zu sich selbst gesprochen. – Fürchtet er sich vor mir? fragte sie sich verwundert.

„Herrin, über Früher … ich kann mit dir davon nicht sprechen“, antwortete er dann, - „vielleicht wird es eine Zeit geben. Eins aber sollst du wissen: Ich bin ein Schattenkrieger, wie meine Männer auch. Wir befinden uns auf dem scharfen Grat zwischen Leben und Tod. Daher sind wir Schattenwesen und nur sichtbar im Licht der Sonne. Irgendwann, wenn die Dinge sich bewegt haben, wird sich entscheiden, wohin wir kehren, diesseits oder jenseits des Grates.“ Schweigen trat zwischen sie, selbst Grol, der wahrlich nicht auf den Mund gefallen war, wusste nichts zu sagen.

„Mag – mag es vielleicht sein, Garl“, fragte schließlich die Namenlose, - „dass es mit mir zu tun hat? Mag es sein, dass mein und dein Schicksal oder auch das Schicksal deiner Männer, unser aller Schicksal miteinander verwoben ist?“ Wieder hörte sie ein Seufzen und dann:

„Ach, Herrin, was soll ich antworten? Nun gut, so viel kann ich sagen, wir führen nicht hier zusammen auf deinem Schiff, wenn wir nicht schicksalhaft miteinander verbunden wären. Das gilt nicht nur für mich, sondern für Grol genauso, wie für Gnoer oder meine Männer.“

„Verzeih Garl, dass ich nicht nachlasse, wenn du schon nicht über dich sprechen magst oder kannst, willst du mir dann nicht etwas über mich erzählen, oder irre ich mit meiner Vermutung, dass du etwas zu berichten hättest?“ Doch da gewahrte sie, wie Garl sich abwandte. Im Gehen aber antwortete er:

„Herrin, wenn die Sonne wieder am Himmel sichtbar wird, werde ich zu deinem Zelt kommen, und dann magst du mich befragen.“ Mehr sagte er nicht, dann war er verschwunden. Sie wunderte sich sehr über sein Benehmen. Es kam ihr ungehörig vor. Aber sie sagte nichts, auch nicht zu Grol, der noch bei ihr stand. Er räusperte sich leise:

„Du möchtest etwas sagen?“ fragte sie ihn, immer noch in Gedanken bei Garl.

„Ja, Herrin, verzeih meine Einmischung: Vielleicht mag er nicht in meiner Anwesenheit über deine Fragen sprechen. Ich wäre nicht verwundert darüber. Vielleicht sind es ja Dinge, die für meine Ohren nicht bestimmt sind. Das wäre sein gutes Recht.“

„Mag sein, Grol“, gab sie tonlos zurück. – „Sag, kann es sein, dass die Nebel sich lichten, dass wir gleich hindurch sind.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß nicht, mein Kopf - da sind plötzlich Bilder, fremde Bilder, mit denen ich nichts anzufangen weiß, die aber gewiss etwas mit mir zu tun haben. Und sagtest du nicht, die Erinnerungen kämen wieder, wenn die Nebel…?“

„Sagte ich, Herrin, ganz recht, nach den Nebeln wird manches wieder wach, was vorher unserer Erinnerung verloren gegangen schien. Wie genau, das weiß ich nicht, und ob das bei jedem gleich geschieht, kann ich auch nicht sagen. Es ist ein böser Zauber, wie der im Reich der sieben Seen, da weiß wohl niemand mehr, was je vor Wiralas und Rakons Zeit war. Ich, der ich ein Zwerg bin, weiß wenigstens noch, dass es diese Zeit davor gab.“ Er blickte sich um: „Verdammt, Herrin, du hast recht, es wird heller, die Nebel lassen nach. Da, schau!“ er zeigte nach oben. - „Die Sonne, sie schimmert schon durch!“ Auch die Männer wurden unruhig.

„Grol, Donnerkeil! Wir haben’s gleich geschafft, wir sind durch! -Mann, Mann, du bist ein Seedämon! Keiner ist sicherer auf dem Meer, als du!“ rief Steinar sichtlich erleichtert.

„Ganz ruhig, mein Guter, und immer Kurs halten; ich werde dich beizeiten an deine Worte erinnern“, gab Grol ungerührt zurück.

Dann brachen sie durch. Wie durch eine Wand stachen sie durch den Nebel ins Freie, ins Klare. Und dann war es beinahe wie zuvor, alles licht und weit. Der Himmel war immer noch blau, jetzt nur noch mit weißen Wollewolken geschmückt, und die Sonne sank bereits, so viel Zeit hatten sie gebraucht. Nicht mehr sehr lange, und sie würde untergehen. Grol betrachtete aufmerksam das Wasser und schaute in den Himmel, es schien, als schnupperte er die Luft, den Wind und das Salz in der Luft. Dann murmelte er:

„Verdammt, lasst mich noch bis Sonnenuntergang fahren, ich glaube, ich weiß, wo wir sind.“

„Gnoer hat gesagt, immer vor dem Wind“, mischte sich Garl ein, der wieder hinzugetreten war.

„Genau, sag ich doch, noch ein Stück vor dem Wind, vielleicht noch diese Nacht, bis in die Früh, dann geht’s nordwärts, du wirst es erleben.“

„Und du weißt, wohin es geht?“ fragte Garl.

„Sicher, wie wir alle, oder? Wollen wir nicht ins Reich der sieben Seen?“

„Schon“, gab Garl ohne Regung zurück.

„Ist so“, stellte Grol trocken fest und erklärte dann: „Aber ich sage dir, da gibt’s, wenn ich mich recht entsinne, ein kleines, allerdings nicht ganz unbedeutendes Hindernis zu überwinden.“

„Wir werden sehen, und wir werden es überwinden, wenn es so ist, wie du sagst“, entgegnete Garl knapp. - „Doch jetzt - vor dem Wind bleiben, hat Gnoer gesagt. Er wird sicher bald zu uns stoßen“, ermahnte der Schattenkrieger den Schiffsführer, wandte sich ab und gab der Namenlosen ein Zeichen. Sie verstand, entschuldigte sich bei Grol und ging zu ihrem Zelt.

Sonderbar fühlte sich die Namenlose, seit sie die Nebel durchbrochen hatten. Sie spürte das sofort. Sie merkte, dass irgendetwas in ihr vorging. Sie spürte, dass das Blut in ihren Adern in einer anderen, schnelleren Weise strömte. Sie spürte, wie sich eine neue Wärme ihrer bemächtigte, wie sie ein Pulsieren erfasste, das ihren bisherigen Gleichmut, der alles, wie es war hingenommen hatte, hinwegschwemmte, so, als sei sie zuvor blass und nur halbwirklich gewesen, als hätte der Strom ihres Lebens im Halbschlaf gelegen. Und wenn sie bisher nur neugierig war, auf das, was noch geschehen mochte, seit sie auf dem Schiff war, so wusste sie nun, dass es auch und vor allem ihr Leben war, worum es hier ging. Und sie brannte nunmehr darauf, Klarheit darüber zubekommen, was mit ihr geschehen war und was das Schicksal noch für sie bereithielt.

Vor dem Zelt lag Varulv, der Wolf. Er blinzelte mit einem Auge, als sie zu ihm trat.

„Mein Grauer“, sprach sie ihn an, - „und was haben die Nebel mit dir gemacht?“ Varulv schleckte mit der Zunge und fragte, ohne den Kopf zu heben:

„Mein Kind, was? … Sollten sie das?“

„Ich dachte“, gab sie unzufrieden zurück. – „Weißt du, ich frage mich, was hier vorgeht, und wer hier, welche Absichten verfolgt.“

„Eine gute Frage“, gab der Wolf zurück. – „Meine Aufgabe ist klar. Jetzt, da du danach fragst, mein Kind, denn es ist das erste Mal, dass du es tust, kann ich es dir sagen: Ich habe einen Auftrag, wahrlich. Und meine Absichten und mein Auftrag sind bei mir eins. Ich folge einer uralten Macht, einer Macht, die so selbstverständlich ist, dass sie leicht übersehen werden mag. Und doch ist sie und war sie, trotz aller Götter, die verehrt werden, immer schon vor allen anderen da. Ja, so ist das. Diese Macht, mein Kind, hat viele Namen, viele Gesichter und ist doch immer diese Eine. Ich folge der Elta, so nenne ich sie, so zeigt sie sich mir. Und sie hat mir aufgetragen, auf dich zu achten, dass dir nichts geschieht. So ist das. Das ist mein Auftrag, das ist meine Absicht.“

„Elta? Wer - was ist das nun schon wieder? Ich habe diesen Namen nie gehört?“ fragte sie.

„Das glaube ich wohl, du kennst ja deinen eigenen Namen nicht einmal. Wer im Land des Vergessens war, braucht eine Weile, bis er seine Spuren diesseitig wiederfindet. Ich werde dich führen, so gut ich vermag, das Finden aber bleibt allein deine Aufgabe.“

„Finden, finden!“ gab sie unwillig zurück. Da unterbrach Varulv sie:

„Mein Kind, habe Geduld und vertraue mir. Die Dinge bewegen sich. Wenn du zum Beispiel jetzt in dein Zelt gehst, findest du etwas, das einst dir gehörte - wollen sehn, was dann geschieht.“ Die Namenlose sah ihn schief an, beugte sich aber schließlich neugierig vor und verschwand wortlos in ihrem Zelt.

Das Zelt lag im Halbdunkel, aber als sie auf ihr Lager sah, entdeckte sie dort die Umrisse eines fremden Gegenstandes, der sie augenblicklich innehalten ließ. Sie erschrak, zitterte bei dem Anblick. Bilder stiegen wieder in ihr auf, nun aber schon deutlichere als zuvor. Sie sah jemanden, eine Gestalt, die durch einen Birkenhain streifte. Ein Weib war es, ein junges Weib … sie! Sie selbst war es, sie streifte dort allein durch den Wald. Und über ihre Schulter gehängt, trug sie einen wunderschönen, großen Bogen bei sich, stark geschwungen war er und grün, wie ihr Gewand jetzt. Dieser Bogen…, dachte sie. Sie beugte sich über ihr Lager und nahm ihn hoch. Oh ja, das war er! Wie gut er sich anfühlte, wie gut es sich anfühlte, ihn in den Händen zu halten. Es war ihr Bogen, eben der, an den sie sich gerade erinnert hatte. Und neben dem Bogen lag auch ihr grüner Köcher, und Pfeile steckten in ihm. Ja, sie war eine Bogenschützin, eine gute Bogenschützin sogar, das kam ihr jetzt klar und sicher zurück in den Sinn. Sie drehte sich um, schob das Zelttuch beiseite und trat mit den Bogen in der Hand wieder ins Freie. Tränen standen ihr in den Augen, so gerührt, so erregt war sie. Und vor ihr stand Garl. Varulv hatte sich ein Stück abseits gelegt und es schien, als läge er dort teilnahmslos, doch die Namenlose, die ihn mit einem kurzen Blick streifte, wusste, dass es nicht so war.

„Garl“, sagte sie fast heiser, - „sieh hier…“, und sie hielt ihm den Bogen hin.

„Hast du ihn gefunden, Herrin?“ fragte Garl mit einem angedeuteten Lächeln. Sie sah ihn verblüfft an.

„Du, du warst es, klar! Du hast ihn mir auf mein Lager gelegt.“

„Sollte ich es nicht, Herrin?“ gab er sanft zurück. Sie sah ihn fragend an und zuckte mit den Achseln:

„Was weiß ich schon? So wenig ist es! Alles ist mir so, so neu – und auch fremd. Und dann gibt es da noch diese Wirala, eine Dunkelalbin, wird behauptet, und ich soll ihr gleichen. Was bedeutet das, weißt du es?“

„Nein, Herrin, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es so ist, wie du sagst.“ Sie seufzte unglücklich.

„Das ist alles so rätselhaft. Und dieses Land des Vergessens auch; ich war im Land des Vergessens. Warum, weshalb und wie, wie kam ich da hin? – Ach, alles nur Fragen, und keine Antworten; alles geschieht, ohne, dass ich es selbst bestimme.“

„Verzeih Herrin, wenn ich ein wenig widerspreche. Du stiegst zu mir ins Boot, du gingst an Bord deines Schiffes, du nahmst diesen Bogen und nennst ihn dein Eigen. Das alles geschieht, weil du es willst.“ Sie schwieg und blickte auf den Bogen in ihrer Hand:

„Woher hast du ihn, meinen Bogen?“

„Ich rettete ihn vor … vor den Feinden.“ Sie sah ihn an:

„Du hast gezögert, was wolltest du sagen“, bohrte sie, - „sag mir alles oder besser gar nichts, Garl! Was also - vor wem hast du den Bogen gerettet?“ Garl ächzte vor Widerwillen:

„Ach Herrin … wünscht du das wirklich? Ich habe diesen Namen, seit jener Zeit nicht wieder in den Mund genommen. Es ist der Name meines Feindes, Rakons Krieger.“

„Und…?“ ließ sie nicht nach.

„Einer, der ohne Schild kämpft, dafür mit Schwert und Axt - beidhändig; mein ärgster Feind! Und ich brenne darauf, dass wir und begegnen; dann werde ich ihn töten!“ Er hielt inne. Die Namenlose stutzte, ihr Blick verlor sich plötzlich inwärts: Dann wurde ihre Stimme hörbar, dunkel, und düster klang sie jetzt, ihre Augenlider schlugen sich nieder:

„Ja, ja – ich weiß, weiß - Urtan – Urtan, der Schwarzscherge...“, waren ihre Worte. Und als sie diesen Namen ausgesprochen hatte, erschrak sie darüber, und ihr wurde kalt. - Mehr noch aber erschrak sie, als sie bemerkte, wie es Garl erging. Ein grausiges Beben hatte ihn erfasst. Wie von Sinnen schlug er seine rechte Faust in die linke Handfläche, immer wieder, dass es laut klatschte. Dabei knurrte, fluchte er fürchterlich und stieß diesen Namen aus, immerzu:

„Urtan, Urtan, Urtan…!“

„Garl - Schattenkrieger!“ rief sie, stieß sie ihn an! Und wie getrieben kamen ihr plötzlich Worte über die Lippen. Sätze ergossen sich ihr, ungeordnet fast, deren Sinn sich ihr erst nach einiger Verzögerung offenbarte:

„…Urtan - an Bord war er, hier, hier! Viele waren’s, viele Männer und Waffen auch! - Gefangen war ich, geraubt, mein Bogen und anderes noch - weiß nicht mehr... Nieder schlug Urtan einen, der Schwarzscherge, groß und gewaltig, schlug von hinten auf ihn ein. Der Andere fiel! Und Blut war da, Blut zu meinen Füßen. Und er hauchte meinen Namen - der Niedergestreckte, flüsterte meinen Namen! Flüsterte – flüsterte: Arwila! Sehe seine blassen Lippen Arwila flüstern - Arwila, Arwila…!“

Verblüfft hielt die Namenlose inne: „Oh ja - ja!“ stieß sie dann überwältigt aus: „Arwila, das ist mein Name!“ - Eiskalt war ihr geworden, sie schüttelte sich! Es war ihr, als sei sie für Augenblicke nicht hier an diesem Ort gewesen. Sie hatte weder Garl noch anderes an Bord wahrgenommen. Und jetzt, im Nachhall ihrer Worte, fügte sich eins zum Anderen. Nun erblickte sie auch Garl wieder. Er hatte sich wieder beruhigt, und sie bemerkte, wie auch er sie musterte.

„Du hast es vernommen?“ sagte sie, und Garl nickte. Sie sah ihn mit fragenden Augen an, lange und schweigend, sah in sein maskiertes, farbloses, graublasses Schattengesicht, sah seine Augen und sah auf seine blassen Lippen:

„Sag es“, forderte sie plötzlich mit ruhiger Stimme, - „sag es, sag das Wort, du weißt – meinen Namen, sag ihn, damit ich glauben kann, dass es meiner ist.“ Er zuckte, sie hörte seinen Atem. Dann sprach er mit kaum hörbarer Stimme:

„Herrin, da du ihn selbst schon nanntest, warum soll ich ihn noch nennen, es ist dein Name?“

„Sag ihn, Garl, bitte, ich verlange es, deine Herrin!“ Er stöhnte auf, und sie erkannte, trotz seiner Maske, seinen gequälten Blick. Schließlich erklärte er mit erstickter Stimme:

„Herrin, es geht nicht, es ist nicht an mir, ihn als erster zu nennen. Es ist das Vorrecht Gnoers, er wird deinen Namen als erster nennen.“

„Gnoer?“ Sie war erstaunt: „Wieso Gnoer? Wo ist er? Nein, ganzgleich – bitte Garl, sag du ihn - jetzt! Sag ihn einmal! Ich will ihn von dir hören! Ich will es sehen - muss es wissen!“ verlangte sie laut, dass die Männer auf dem Schiff aufmerksam wurden. Verlegen blickte sie sich um. Doch da vernahm man, wie schon zuvor am Morgen, niemand hatte ihn kommen sehen, Gnoers klare Stimme von der Rah; er war plötzlich wieder da, und er rief:

„Garl, getreuer Freund – bitte, wenn sie es doch verlangt, sag ihn!“ Überrascht starrte der Schattenkrieger hoch.

„Sag es!“ drängte die Namenlose wieder. Da senkte Garl den Kopf und nannte sie leise und beinahe zitternd bei ihren Namen:

„Arwila – ja, Arwila bist du, Arwila, ist dein Name.“ – Die Namenlose schluckte, sah ihn an, still, ohne ein Wort, und nach einem langen Augenblick sprach sie ebenso leise und erschüttert:

„Und du Garl, du warst da – hattest meinen Namen auf deinen Lippen, und mir scheint, mehr noch. Ich kenne dich - lagst meinetwegen da, im Blut, vor meinen Füßen.“

Arwila

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