Читать книгу Der Kruse - Burkhard Simon - Страница 10
Zweites Kapitel
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„Manche Männer bemühen sich lebenslang, das Wesen einer Frau zu verstehen.
Andere befassen sich mit weniger schwierigen Dingen, wie zum Beispiel der Relativitätstheorie.“
(Albert Einstein)
Der Abend war schön.
Wirklich schön.
Es war der Abend des Tages, an dem es mir gelungen war, aus der Firma zu verschwinden, ohne offiziell vom Pech meines Vorgesetzten zu erfahren, so dass meinem Urlaubsantritt nun nichts mehr im Wege stand. Nichts mehr, außer der Tatsache, dass Karin noch nichts von ihrem baldigen Glück unter der karibischen Sonne wusste. Den ganzen Abend lang herrschte zwischen uns gelöste Stimmung und gute Laune, was ich in erster Linie auf Karins Vorfreude zurückführte. Sie war völlig aus dem Häuschen, weil ich nun endlich Urlaub hatte und so endlich dazu käme, das rissige und trockene Holz des Garagentores abzuschleifen und mit guter Holzschutzlasur auf Vordermann zu bringen. Ein Projekt, vor dem ich mich seit geraumer Zeit mit einigem Erfolg gedrückt hatte.
Wir saßen am Esstisch, und ich genoss den Abend in vollen Zügen. Wir redeten während des Essens miteinander, was selten vorkam. Meistens war es zwischen uns eher so, dass man sich nur gegenüber saß und auf seinen Kartoffeln herumkaute. Das waren die Momente, in denen ich mir wirklich vorkam, wie ein Teil eines alten Ehepaares, ein Bild, das nach dreißig Jahren Ehe sicherlich auch nicht ganz falsch war. Trotzdem kam es mir falsch vor, so am Tisch zu verschimmeln, kauend und schweigend, wie fremde Tischnachbarn im Seniorenstift. Dafür waren wir selbst nach all den Jahren noch viel zu jung. Es gibt Dinge, die macht das Leben einfach mit dir, ohne sich vorher mit dir abzusprechen. Die langen schweigenden Abendessen gehörten zu diesen Dingen. Und ich hasste sie.
Dieser Abend jedoch schien unter einem anderen Stern zu stehen. Wir sprachen über unseren jeweiligen Tag und machten uns ausgiebig über die neuesten Entwicklungen in der Carola Reimann Problematik lustig. Das Ehepaar Reimann wohnte zwei Häuser weiter und was ihre Ehe anging, könnte man behaupten, dass der Haussegen in letzter Zeit nicht nur schief hing, sondern derartig am Nagel rotierte, dass die Tapete in Fetzen von der Wand flog. Carola Reimann genoss innerhalb der Spießerfraktion unserer gutbürgerlichen Nachbarschaft aufgrund ihres eher freizügigen Kleidungsstils den Ruf einer Vorstadtschlampe reinsten Wassers.
Die alte Frau Kampnagel, die das Haus zwischen uns und den Reimanns bewohnte, hatte Karin hinter vorgehaltener Hand über den Gartenzaun hinweg berichtet, dass es bei „dem Reimann und seinem Flittchen“ am vergangenen Abend wieder zu Geschrei und zugeschlagenen Türen gekommen sei. Sie erzählte, dass es im Zuge der Streitereien auch zum Gebrauch von Schimpfwörtern der übelsten Art gekommen sei, Schimpfwörter, die Frau Kampnagel nicht wiederholen wolle, da sie ja schließlich eine Dame sei, nicht so wie die Reimann, bei der die Röcke eher aussähen, wie breite Gürtel, aber „Arschloch“ sei auch dabei gewesen, dass müsse man sich nur mal vorstellen. Es sei einfach nicht zu fassen, gleich nebenan, hier in unserer Straße, was es ja früher niemals gegeben hätte, aber schließlich ging ja die komplette Gesellschaft gerade geschlossen vor die Hunde, weswegen man sich ja eigentlich nicht zu wundern bräuchte, vor allem jetzt, wo so viele Ausländer nach Deutschland kämen, und man den ganzen Juden überall türkische Teehäuser hinsetzen würde, damit die da in Ruhe in ihren Burkas ihre Korangürtel bauen könnten, aber wie die Reimann rumlief, dass wäre ja auch nicht in Ordnung, man könne ja auch irgendwo dazwischen was finden, also nicht mit der Burka aber auch nicht, wie die Reimann herumliefe, das wäre doch richtig ekelhaft, wie sie die Straße runterstöckelte, mit ihren Röcken.
Abschließend fügte sie noch hinzu, dass man ja ohnehin nichts machen könne, so lange die Politiker alles aussäßen und nicht zu Potte kämen, schämen müsse man sich so langsam, und dann fragte Sie mit dem geübten Blick einer Frau, die jahrelang in der Kantine des Landesvermessungsamtes gearbeitet hat, ob Karin mit ihrem neu gepflanzten Rosenbusch auch tatsächlich die vorgeschriebenen fünfzig Zentimeter Abstand zum Grenzzaun eingehalten habe.
Wir lachten uns schlapp bei der Vorstellung, wie die alte Kampnagel mitten in der Nacht bei gelöschtem Licht am gekippten Fenster saß, um den Krimi nebenan in allen Details mitzubekommen, damit auch nur nichts an verwertbaren Informationen verloren ginge.
Jedenfalls spürte ich so etwas wie ein Gefühl der Einigkeit zwischen uns. Alles war in Ordnung und die Atmosphäre schien einfach perfekt, um in dieser Situation häuslichen Friedens die Katze aus dem Sack zu lassen. Ich konnte die Rufe der Tickets, die ich jetzt in einem Briefumschlag in meinem Arbeitszimmer versteckt hielt, förmlich hören. Jetzt war der Moment für den ganz großen Hammer gekommen. Wir verstanden uns prima, wir redeten sogar miteinander, wir waren – wie man so schön sagt – auf einer Wellenlänge. Sie freute sich darauf, zuzuschauen, wie ich unserem Garagentor zu neuem Glanz verhelfen würde? Ich würde ihr etwas geben, worauf man sich wirklich freuen konnte.
Sommer, Sonne, Schirmchendrinks! Wenn ich ihr die Tickets jetzt nicht zeigen würde, wann dann?
Ich entschuldigte mich kurz, lobte wohl zum dritten Mal an diesem Abend ihre Kochkünste, murmelte möglichst nebensächlich irgendwas von wegen »Ich bin gleich wieder da... muss nur schnell was nachsehen...« und holte den Briefumschlag. Sein Innenleben bestand, neben den beiden Tickets, aus einer Hochglanzbroschüre mit wunderschönen Fotos der Ziele, die wir auf unserer Route anlaufen würden, einer Landkarte, auf der ich schon mal den etwaigen Verlauf der Kreuzfahrt eingezeichnet hatte, sowie einem beeindruckenden Foto unseres Schiffes, der Sonne des Südens. Welch passender Name.
Als ich wieder den Raum betrat, tupfte sich Karin gerade mit einer Papierserviette etwas Soße aus dem Mundwinkel und nahm noch einen Schluck Wasser.
»Ist alles okay, Schatz?«
»Ja, alles gut. Ich war nur schnell im Arbeitszimmer, etwas nachsehen. Oder besser gesagt: Ich wollte etwas holen.«
Ich versuchte, möglichst geheimnisvoll dreinzuschauen und machte eine völlig übertriebene Geste, wie ein Magier, der vor einem faszinierten Kindergartenpublikum einen Strauß Blumen unter einem Tuch hervorzieht, doch sie war schon wieder mit ihrem Abendessen beschäftigt und bekam von meinen Bemühungen überhaupt nichts mit. So verharrte ich in affiger Pose im Esszimmer und wartete darauf, dass Karin zu mir hochschaute, doch als sie nach etwa fünf Sekunden noch immer mit Ihren Gemüse beschäftigt war, kam ich mir blöd vor und setzte mich zurück zu ihr an den Tisch.
»Hhm.«
»Du, Karin...?«
Sie schaute auf. »Ja?«
»Also... ich...«
»Robert, ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Du bist auf einmal so komisch...«
»Ja, alles in Ordnung! Wirklich! Es ist nur... Na ja... Weißt du, unser Streit neulich hat mich ganz schön ans Nachdenken gebracht, und ich wollte...«
Sie lächelte verständnisvoll. »Robert, es ist schon gut! Du hast es ja auch irgendwie gut gemeint, und ich kann auch verstehen, dass du mal eine anständige Reise machen wolltest. Lass es gut sein, Schatz, okay? Jetzt komm her und iss auf. Ich denke, es schmeckt dir so gut...«
»Ja, tut es auch. Sehr lecker. Wirklich.«
Ich setzte mich und nahm noch einen Bissen, dann legte ich mein Besteck wieder hin und platzierte ohne ein weiteres Wort den Umschlag auf den Tisch zwischen uns.
Karin schaute verdutzt. »Was ist denn in dem Umschlag?«
»Ich habe da eine Kleinigkeit für dich, Schatz.«
Sie schien erfreut. »Was? Ach, Robert! Du sollst doch nichts für mich...«
»Es ist eigentlich etwas mehr als nur eine Kleinigkeit. Aber nach unserem Streit dachte ich, wir sollten einfach mal Ruhe einkehren lassen und uns selbst einen kleinen Tapetenwechsel verordnen, weißt du?«
Karin war noch immer mit ihren Kartoffeln beschäftigt. Sie nahm sich noch ein Stück, und noch während sie kaute, legte sich ihre Stirn in Falten. »Sag mal, was genau meinst du denn mit Tapetenwechsel?«
Es lag unzweifelhaft etwas Skeptisches in ihrer Stimme, aber immerhin hatte sie noch nicht ihr Besteck niedergelegt. Es war noch immer ein nettes Gespräch beim Abendessen. Nichts weiter. Trotzdem machte sich bei mir langsam Verunsicherung breit.
Der Umschlag lag noch immer unangetastet zwischen uns auf dem Tisch. Karin schien ihn absichtlich zu ignorieren.
»Tapetenwechsel? Was ich damit meine? Na, ja... Ich dachte halt, jetzt sind wir schon so lange zusammen und haben noch immer nichts von der Welt gesehen, meinst du nicht auch? Und du hast ja selbst gesagt... du weißt schon... Das verlängerte Wochenende oder die Tour mit dem Auto... und... also, da dachte ich, wenn du doch auch so urlaubsreif bist, wie ich... ähm..., dann sollten wir es auch gleich richtig angehen! Ich meine, der Moment ist günstig, das Geld ist da, und auch, wenn ich noch was drauf packen musste, denke ich, du wirst dich freuen.«
Ich tippte auf den noch immer unbeachtet zwischen uns liegenden Briefumschlag.
»Hier, mein Schatz. Für dich! Schau doch mal rein!«
Sie legte langsam, sehr langsam, ihr Besteck auf den Teller und schaute mich nachdenklich an.
Dann schaute sie auf den Umschlag.
Dann wieder zu mir.
Sie nahm die Serviette, tupfte sich den Mund ab und legte sie auf ihren Teller. Sie nickte in Richtung des Umschlags.
»Robert, was ist das?«
Ihre Stimme zischte leise. Es klang ein wenig nach einem angerissenen Streichholz in einer Feuerwerksfabrik.
»Was ist was?«
»Verkauf mich nicht für blöd, Robert. Der Umschlag. Ich will von dir wissen, was in dem komischen Umschlag ist.«
»Mach ihn doch mal auf! Ist für dich! Oder auch für uns, wenn du so willst!«
Karin schob den Teller beiseite und nahm den Umschlag an sich. Sie klappte ihn auf und zog langsam eines der Tickets so weit hinaus, dass der Bug eines Schiffes sichtbar wurde.
»Tataa!«, rief ich.
Karin stand auf und sagte: »Ja. Tataa. Heute kannst du ja mal abräumen, wenn es dir nicht allzu viel ausmacht.«
Mit diesen Worten rauschte sie an mir vorbei und verschwand im Schlafzimmer.
Karin fuhr nicht mit mir in die Karibik. Sie fuhr zu ihrer Mutter nach Wanne-Eickel, was ja auch ein schönes Fleckchen Erde sein soll.
Innerhalb weniger Minuten hatte sie ein paar Klamotten in den alten Koffer gepackt. Dann hatte sie ihre Mutter angerufen, den Bahnhof angerufen, ein Taxi bestellt (wobei sie betonte, sie würde unten an der Ecke auf den Wagen warten) und schließlich – ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen – die Tür hinter sich zu geknallt. Das alles ging so schnell, dass ich noch immer, mit meiner Serviette in der Hand, in der Diele stand und nach passenden Worten suchte, um einer Situation zu begegnen, die längst vergangen war.
So schnell kann es gehen. Gefühlte vierhundert Jahre Ehe. Und jetzt war sie weg.
Nachdem ich noch eine ganze Weile lang die geschlossene Tür vor mir bestaunt hatte, entschloss ich mich, Karin ein wenig Zeit zum Nachdenken zu geben. Irgendwie konnte ich sie sogar verstehen. Ich meine, schließlich hatte sie ja so reagieren müssen, wollte sie mir gegenüber ihr Gesicht nicht verlieren. Okay, sie war dagegen, das Geld auszugeben. Okay, wir hatten darüber geredet. Okay, ich hatte noch ganz schön draufzahlen müssen. Okay, sie war sauer. Okay, das Ding war nach hinten losgegangen.
Okay, okay, okay.
Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und legte die Tickets vor mir auf den Tisch. Diese dämlichen Papierschnipsel hatten mir eine Menge Ärger eingehandelt. Den größten Ärger seit dem Bestehen unserer Ehe.
So saß ich da und wartete auf Karins Rückkehr.
Allzu lange würde es ja sicherlich nicht dauern. Ich glaubte keine Minute daran, dass sie wirklich den weiten Weg bis zu ihrer Mutter fahren würde, nur um mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Sie würde bald zurückkommen, um sich mit mir einen richtig schönen altmodischen Schlagabtausch zu liefern, da war ich sicher. Wahrscheinlich würde sie mit einem Spruch eröffnen, wie: »Ich sehe gar nicht ein, dass ich zu meiner Mutter fahren soll, nur damit du hier auch noch in Ruhe den Junggesellen raushängen lassen kannst, mein Freund! Ich hab keinen Mist gebaut, Robbielein, das warst immer noch du!«
So was in der Art.
Anschließend würde sie mir dann all die guten Argumente und sorgfältig zurechtgelegten Sprüche um die Ohren hauen, die sie sich ohne jeden Zweifel – während ich arme Sau zuhause saß und auf sie gewartet hatte – vorformuliert haben würde. Komplett mit jeweils passendem Gesichtsausdruck und Tonfall, jeden Einschlag ihrer Satzgranaten auf maximale Wirkung programmiert.
Langsam wurde es dunkel und Karin war noch immer fort. Als der Film um viertel nach acht vorbei, und noch immer kein Lebenszeichen meiner Gattin in Sicht war, machte sich schleichend ein ganz neuer Gedanke in meinem Kopf breit: Sie war vielleicht, nur vielleicht, wirklich zu ihrer Mutter gefahren! Ja, war diese dusselige Kuh denn jetzt völlig übergeschnappt? Scheinbar wollte sie diesen theatralischen Blödsinn tatsächlich bis zum bitteren Ende mit mir durchziehen! Unfassbar!
Na gut. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Natürlich versuchte ich sofort, sie in Wanne-Eickel anzurufen. Das Gespräch mit dem Domizil meines heißgeliebten Schwiegertieres lief in etwa folgendermaßen ab:
Tuuut..... Tuuuut.....
Tuuut..... Tuuuut.....
»Hauser, hallo?«
»Ja, hallo! Ich bin es, Robert! Grüß dich! Sag mal, ist Karin bei dir? Ich weiß, die Frage muss dir komisch vorkommen, aber...«
»Die Karin ist noch nicht hier, und ich weiß auch nicht genau, wann sie ankommen wird. Aber ihr Bett ist schon frisch bezogen! Sie hatte sich doch zu Weihnachten ein neues Smartphone von dir gewünscht! Ihr altes Telefon fällt ins Spülwasser, in dem meine Tochter deine dreckigen Teller abwäscht, und du vertröstest meine Karin auf den nächsten Sonder-Rabattverkauf? Typisch Buchhalter! Mein Lieber Robert... wenn du ihr damals so ein Ding gekauft hättest, könntest du sie jetzt selbst anrufen und sie fragen, wann sie ankommt! Jedes Kind hat heute so ein Ding! Kein Mensch rennt mehr ohne so ein blödes Handy durch die Gegend, zwölfjährige Mädchen haben so was, aber der Herr Buchhalter schaut natürlich auf die Mark, wenn es um seine Frau geht! In der Fernsehwerbung sagen sie immer für null Euro, Robert! Null Euro! Ist das noch immer zu viel für meine Karin, Robert? Ja? Null Euro sind zu viel für meine Tochter, ja?«
»Äh... ja! Nein! Ich meine natürlich nein! Hör´ mal Margot, kannst du ihr vielleicht was von mir ausrichten?«
KLICK.
Meine Schwiegermutter vertrat schon immer die Meinung, dass ich nicht die richtige Partie für ihren kleinen Engel war. Sie gehörte zu den Vertretern des weiblichen Stereotypen mit bläulich schimmernder Betonfrisur, die nachmittags im „Café Waldblick“ ihren Pudel unter dem Tisch mit Pralinen mästen und den Tierarzt verklagen, wenn die kleine Trixi an Herzverfettung stirbt.
In den vierhundert Jahren meiner Ehe hatte mein Schwiegermonster sage und schreibe vier dieser haarigen Trethupen ihrem Erschaffer zugeführt. Genauso oft hatte sie den Tierarzt gewechselt und hinterher eine regelrechte Hetzkampagne gegen ihn und seine Praxis geführt.
Das einzige Vergehen des jeweiligen Tierarztes hatte darin gelegen, meiner Schwiegermutter immer und immer wieder vorzubeten, dass es einen guten Grund dafür gibt, dass sich Hundefutter gerade unter Hunden solch hoher Beliebtheit erfreut, und Süßigkeiten doch eher was für Menschen seien.
Falls Sie sich die Frage stellen sollten: Nein, ich mochte meine Schwiegermutter nicht besonders. Ich weiß, es ist ein Klischee und wenn man sich hinsetzt, um Seiten mit Buchstaben zu füllen, sollte man sich nicht an der Aufrechterhaltung dämlicher Klischees beteiligen, aber was soll ich machen? Meine Schwiegermutter war ja selbst ein Klischee. Sie hier anders darzustellen, würde einer Lüge gleichkommen.
Dann doch lieber das Klischee.
Karin und ich hatten es bislang immer verstanden, unsere Eltern – und speziell ihre Mutter – aus unseren Diskussionen auszuklammern. Schon während der Flitterwochen waren wir zu dem Entschluss gekommen, es sei besser, unsere kleinen Kabbeleien ausschließlich unter uns auszufechten. Es waren private Dinge, die weder ihre noch meine Eltern etwas angingen. Hätten wir uns nicht immer an diesen Vorsatz gehalten, glauben Sie mir, wir wären schon geschiedene Leute gewesen, bevor wir überhaupt an eine Verlobung gedacht hätten.
Unsere Eltern kannten sich aus dem Kegelclub, doch die Clans der Kruses und der Hausers waren sich nie wirklich grün gewesen. Ich könnte Ihnen da, nur zur Verdeutlichung, die Geschichte von der Sitzordnung bei unserer Hochzeit zum Besten geben.
Die Gäste der Braut, vom Tisch des Brautpaares aus gesehen, links, die Gäste des Bräutigams rechts, und in der Mitte, wo eigentlich hätte getanzt werden sollen, zog sich ein unsichtbarer und unüberwindlicher Graben durch den Festsaal. Wir hätten auf der improvisierten Tanzfläche ebenso gut unter viel Tschingerassabumm den letzten noch lebenden Dodo grillen können, glauben Sie mir, niemand unserer Gäste hätte das Aussterben dieses bemerkenswerten Vogels bemerkt, denn das hätte die Gefahr unmittelbaren Blickkontaktes nach sich gezogen.
Ein tolles Fest war das damals. Sehr gemütlich, wirklich. Doch das nur am Rande.
Und wo stand ich jetzt? Vier Jahrhunderte nach diesem schicksalhaften Tag? So, wie es aussah, stand ich erst mal alleine im Flur.
Karin war verschwunden. Zu ihrer Mutter. Ausgerechnet zu der Pudelplätterin aus dem Ruhrpott war sie geflohen. Zu jedem anderen hätte sie gehen können. Zu einer Freundin, zum Beispiel. Das wäre wunderbar gewesen! Eine Freundin hätte sich verständnisvoll ihren Blödsinn anhören und später als Vermittlerin fungieren können. Aber nein, die ledrigen Fittiche des Drachen mussten es sein. Mutti, eben. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was jetzt unter der für die Ewigkeit ausgehärteten Dauerwelle dieser Psycho-Oma vorging. Da war natürlich in erster Linie Bestätigung, denn Margot Hauser, die unerschrockene Bezwingerin großer Teile der Wanne-Eickel'schen Hundepopulation, war insgeheim natürlich schon immer der Meinung gewesen, der Pfennigfuchser aus dem Rheinland, dieser seltsamen Gegend, in der sich die Leute einmal im Jahr zum Amüsieren als Cowboy und Indianer verkleideten, und wo billige Süßigkeiten von Anhängern aus in eine besoffen grölende Meute geworfen wurden, sei nicht der richtige Mann für ihren kleinen Engel.
Nun war Karin wieder heimgekehrt.
Der geheime Traum des Köterkillers war nun endlich in der Realität angelangt.
Weitere Versuche, mit Karin Kontakt aufzunehmen, scheiterten auf die selbe klägliche Weise, wie mein erster Anlauf. So gingen die Tage langsam, unendlich langsam, ins Land, und der Termin der Abfahrt der Sonne des Südens rückte unaufhaltsam näher. Der verdammte Kahn sollte am fünfzehnten August auslaufen. Ausgerechnet an meinem Geburtstag. Als ich einige Zeit zuvor im Reisebüro die Buchung für unseren Urlaub klargemacht hatte, deutete ich dieses Datum als Omen. Als den Startschuss für den Neubeginn unserer leicht in die Jahre gekommenen Ehe. Mann und Frau gehen mit Problemen belastet an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, welches mit Hilfe der Sonne des Südens zur Rettung ihrer Ehe und einem Wiederbeleben der gegenseitigen Liebe führen sollte.
So was in der Richtung, Sie verstehen schon.
Jetzt stand ich da, das Geschirr stapelte sich in der Spüle, und der Neubeginn unserer Ehe schien schon vor dem Startschuss verreckt zu sein.
Als langsam klar wurde, dass Karin wohl tatsächlich nicht mit mir auf große Fahrt gehen würde (davon ging ich aus, denn ich hatte es noch immer nicht geschafft, sie auch nur ans Telefon zu bekommen), beschloss ich schweren Herzens, die Tickets zurückzugeben und den ganzen Quatsch abzusagen. Es fiel mir nicht leicht, dass kann ich Ihnen versichern. Zu allem Überfluss schien es, als hätte sich der Wettergott in den Kopf gesetzt, mir den Gedanken einer Absage der Reise schnellstmöglich wieder auszutreiben, denn als ich mich in meinen Wagen setzte, schüttete es wie aus Eimern.
Scheibenwischer an, raus aus der Einfahrt, Gebläse auf die Frontscheibe. Der kurze Weg von der Haustür bis zu meinem Wagen hatte ausgereicht, um meine Jacke so zu durchnässen, dass die Scheibe fast augenblicklich beschlug und ich die Lüftung voll aufdrehen musste.
Die wirklich sehr nette junge Dame im Reisebüro zeigte viel Verständnis für meine etwas delikate Situation, die ich ihr – ohne allzu sehr ins Detail zu gehen – schilderte, während das Regenwasser vom Saum meiner Hose langsam aber sicher eine Pfütze vor ihrem Schreibtisch bildete. Sie ließ ein freundliches Lächeln zu mir hinüber wehen und bot mir einen Stuhl an. Ich setzte mich zwar, wusste aber nicht genau, warum. Die ganze Angelegenheit konnte eigentlich nicht mehr als höchstens ein paar Minuten in Anspruch nehmen, kaum Zeit genug, deshalb einen gepolsterten Stuhl zu durchnässen. Trotzdem nahm ich das Angebot an.
Sie war hübsch. Echt hübsch. Vielleicht ein bisschen zu jung für den alten Herrn Kruse, aber hübsch. Ich erwischte mich dabei, so etwas wie ein schlechtes Gewissen zu haben. Schließlich war ich ja noch immer mit Karin zusammen.
Als mir die Reisebürotraumfrau dreißig Sekunden später eröffnete, die Stornierung der Reise sei gar kein Problem, und dass sie die Tickets gerne zurücknehmen und mir sogar ganze dreißig Prozent des Kaufpreises erstatten würde, wurde mir klar, dass sie mir den Sitzplatz nicht ohne Grund angeboten hatte. Scheinbar war sie ein Profi im Reisegewerbe und konnte sich denken, wie einem Buchhalter zumute sein musste, wenn er erfuhr, dass er für jeden ausgegebenen Euro dreißig Cent zurückbekäme. Bei der Buchung war der Begriff „Reiserücktrittsversicherung“ beiläufig erwähnt worden, wenn ich mich recht erinnere, auch mehrmals und mit steigender Dringlichkeit seitens des Verkäufers, aber die wollen einem heute ja schließlich zu jedem Mist irgendein saumäßig teueres Extra verkaufen. Ich war an diesem schicksalhaften Tag im Reisebüro erschienen, um für mich und meine Frau die Mutter aller Reisen zu buchen, und nicht um eine Versicherung abzuschließen, verdammt noch mal! Man kann heute nicht mehr für zwanzig Euro tanken, ohne dass die Schnalle an der Kasse nach der Benzin-und-mehr-Punktekarte fragt, oder ob man Mitglied im ADAC ist, oder ob man an irgendeinem beschissenen Treueprogramm teilnehmen will! Als ich also damals im Reisebüro auf eine Versicherung angesprochen wurde, hatte ich nur weltmännisch abgewunken, den Reiseverkaufsknecht müde angelächelt und dankend abgelehnt.
Ich Idiot.
Klar... Natürlich ist eine Reiserücktrittsversicherung grundsätzlich eine gute Sache, nur gesetzt den Fall, dass man irgendwie daran gehindert wird, eine gebuchte Reise tatsächlich anzutreten, aber was zur Hölle muss denn bitteschön passieren, damit man allen Ernstes auf eine waschechte Karibik-Kreuzfahrt verzichten möchte? Eine weltweite Invasion insektenäugiger Aliens? Und wie standen wohl die Chancen, dass man – selbst wenn man seinen Kopf unter dem Arm mit sich herumtrug – nicht versuchen würde, irgendwie an Bord eines Schiffes zu kommen, das einen in die Südsee bringt? Ich meine... Wie stehen wohl die Chancen?
Nun, in meinem Fall standen sie bei etwa einhundert Prozent. Aber das konnte ich ja vorher noch nicht wissen.
Dreißig Prozent Rückerstattung.
Heutzutage ist einfach alles teuer. Selbst die Dinge, die man nicht haben möchte, kosten ein Schweinegeld. Sie schaute mich an und ließ mir ein erfrischendes Lächeln zukommen, verbunden mit der Frage, ob ich nicht vielleicht jemanden kannte, der an meiner Stelle die Reise antreten könne. Sie betonte, dass die Kreuzfahrt – gerade mit dem gebuchten Komfortpaket – sicherlich ein besonderes Erlebnis werden würde und das es wirklich eine Schande sei, das alles abzusagen, gerade wo das Wetter in Bonn gerade wieder so eklig sei. Bei dem Wort „eklig“ rümpfte sie ganz hinreißend die Nase, nur so, dass sie sich ein klein wenig kräuselte.
Hatte ich Freunde, die die Reise an meiner Stelle antreten konnten? Das hätte Karins Fanclub so passen können... Ich erklärte der Reisebürofrau, dass ich mir die Sache vor dem Hintergrund dieser Informationen noch einmal kurz durch den Kopf gehen lassen wolle und verabschiedete mich vorläufig.
Die Kneipe hieß Kalle's Zapfhahn.
Ich zog meine klatschnasse Jacke aus, hängte sie unter ein Messingschild, auf dem stand, dass der Wirt (vermutlich Kalle) keine Haftung übernähme, wenn Manteldiebe in seinem Etablissement ihr Unwesen trieben und setzte mich direkt an die Theke. Ich krempelte meine Hemdärmel ein wenig hoch, lehnte mich nach vorn, um die Aufmerksamkeit des Wirts zu erlangen und stellte fest, dass meine Unterarme in Sekundenschnelle eine feste Bindung mit der Platte eingegangen waren. Kalle nutzte, wie mir schlagartig klar wurde, die Theke offenbar auch als Ausstellungsfläche für Salzstangenkrümel, klebrige Feuchtigkeitsringe, säuerlich müffelnde Reste von Krautsalat, sowie halb angetrocknete Senfkleckse. Eine dreidimensionale Speise- und Getränkekarte, die den Gast auf eine Zeitreise durch die letzten drei bis vier Tage in der Geschichte dieses Thekenabschnittes einlud, und dem interessierten Neugast so manche launige Geschichte zum Besten geben konnte.
Ich wischte angeekelt mit der flachen Hand die größeren Rückstände fort, was mir schließlich auch die Aufmerksamkeit des Thekenpersonals einbrachte.
„Wollense ne Lappen?“
„Ich... äh... nein. Hier lag nur irgendwie...“
„Oda soll vielleesch de Putzmarie noch ins flott nass dürschwische?“
Die Stammkundschaft von Kalle's Zapfhahn gluckste vergnügt in die Gläser. Offensichtlich war der Wirt ein echtes Original. Einer der überraschend häufig anzutreffenden Typen, die sich für die größte Bonner Attraktion seit der Bundesgartenschau 1979 halten.
„Tut mir leid. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass...“
Er ließ mich nicht ausreden.
„Watt willste trinken, Kollege?“
Über der Theke war eine Tafel mit Speisen und Getränken, sowie den entsprechenden Preisen angebracht. Ich studierte sie kurz und versuchte angestrengt, die staubigen Spinnweben zwischen deren oberem Rand und der Zimmerdecke nicht zu bemerken.
„Tja, ich denke, dann nehme ich wohl...“
„Enn Gläschen Meister Propper? Oda doch leever der General?“
„Nein, ich...“
„Isch hann och den mit Frühlingsfrische!“
Die Stammgäste lachten jetzt schon fast anzüglich, offenbar in Erwartung einer Lokalrunde, sollte es ihnen gelingen, sich ausreichend bei Kalle einzuschleimen.
Ich bestellte ein Bier und einen Korn.
Ich hatte noch nie in einer Kneipe ein Bier und einen Korn bestellt, weil das wahrscheinlich die onkeligste Bestellung der Welt ist, und ich wunderte mich ein wenig über mich selbst. Schnaps war und ist mir zuwider, aber etwas in mir schien heute Lust auf Neuland zu haben.
Dreißig Prozent Rückerstattung für die Tickets. Nur dreißig Prozent... Unfassbar.
Ich trank meinen Schnaps und hoffte, dass es dem hochprozentigen Zeug gelingen würde, den Rand des Glases zu sterilisieren, denn was die Hygiene von Kalle's Zapfhahn anging, war ich – auch und speziell nach den bislang gemachten Erfahrungen in dieser Kaschemme – eher skeptisch.
Dreißig Prozent. Das war so gut wie nichts.
Trotzdem würde ich die Tickets wohl zurückgeben müssen. Ich meine, was sollte ich denn sonst tun? Sie einfach verfallen lassen? Dadurch würde der Verlust von siebzig Prozent sogar zu einem hundertprozentigen Fiasko anschwellen. Und Karin würde, selbst wenn sie in den nächsten Tagen doch noch nach Hause käme, sicherlich nicht mit mir auf eine Kreuzfahrt gehen. Nicht, ohne mir vorher noch ein paar Monate lang ein schlechtes Gewissen zu machen, mich zu jeder sich bietenden Gelegenheit katzbuckeln zu lassen und mich zu erniedrigen, oder (wie sie solche Dinge gern nannte) Beziehungsarbeit zu leisten. Und ein paar Monate hatten wir nicht mehr, bevor der Pott ins Paradies auslaufen würde.
Nein, ich würde die Tickets schweren Herzens wieder an die Dame mit dem süßen Lächeln zurückgeben müssen.
Ich zahlte, gab Kalle ein stattliches Trinkgeld und kam mir rückgratlos und mies vor.
Was war eigentlich mit mir los? Warum konnte ich dem eingebildeten Arsch hinter der Theke nicht einfach die Getränke bezahlen und ihm sagen, dass er kein Trinkgeld bekäme, weil ich die Kohle dringend benötigte, um mir dafür Desinfektionsmittel zu kaufen, um meine Hände darin zu baden, nachdem ich in seinem versifften Drecksloch die Türklinke in der Hand gehalten hatte?
Warum war ich eigentlich immer so nett?
Mit diesen Überlegungen trat ich wieder hinaus in den Regen und machte mich auf den Weg zurück zum Reisebüro. Irgend ein Witzbold hat mal gesagt, dass man den Sommer im Rheintal am besten daran erkennen könne, dass der Regen ein wenig wärmer würde. Das mochte ja witzig sein, entsprach aber leider nicht den Tatsachen. Der Regen war kein bisschen wärmer als noch im letzten Herbst. Es war einfach zu kalt, zu windig, und viel zu... wie war das noch?
Zu „eklig“.
Ja, das Wort war nicht schlecht gewählt. Es war eklig. Einfach eklig.
Ich fand meine Zigarettenpackung zerknüllt in der Hosentasche. Meinen Kragen gegen den „ekligen“ Wind hochgestellt, blieb ich vor dem Reisebüro stehen und versuchte, wohl um noch ein paar Minuten Zeit zu schinden, in dem windgeschützten Hauseingang einen Glimmstengel anzuzünden. Während die Flamme hinter meiner vorgehaltenen Hand den Tabak in Brand setzte, wanderte mein Blick von der Glut nach oben und blieb an einem Plakat hängen, das hinter der gläsernen Eingangstür befestigt war.
Es zeigte ein wunderschönes, weißes Passagierschiff.
Am unteren Bildrand konnte man die letzten Ausläufer des Sandstrandes sehen, von dem aus das Foto aufgenommen worden war. In der oberen rechten Ecke des Bildes sah man die spitz zulaufenden Blätter einer Palme, die vom Seewind in den Einzugsbereich des Objektives geblasen wurden. Doch das Schönste, das wirklich Umwerfende an diesem Bild, war das Wasser. Es war... na ja... es war eben genau so, wie das Wasser im Rhein nicht ist.
Es war klar! So unglaublich klar, dass man nicht sagen konnte, wo der Strand aufhörte, und wo das Wasser anfing. In Ufernähe war es so weiß, wie der Korallensand, den es umspülte. Etwas weiter draußen ging es dann in das satteste Grün über, das man sich nur vorstellen kann und hinter diesem grünen Streifen, der den Strand vom offenen Meer trennte, war das Wasser blau. Und ich meine BLAU. Es war so blau, wie es nur das Wasser in der Karibik sein kann. Und auf diesem tiefblauen Meer schwamm, was rede ich, thronte wie eine gottgleiche Gestalt, dieses weiße, weiße Schiff.
Es war wunderschön.
Am Bug des Luxusliners konnte man seinen Namen erkennen. Der Schriftzug war klein, überhaupt nicht protzig, aber ein solches Wunderwerk der Technik hat es auch nicht nötig, mit verschnörkelten Schriftzügen zu protzen. Trotzdem konnte ich den Namen auf dem gestochen scharfen Foto gut lesen: »Sonne des Südens«, murmelte ich mir zu, »Ich geh kaputt.«
Es war mein Schiff.
Mittig über dem Bild des Schiffes standen neben dem Logo des Reiseveranstalters drei kurze Worte:
NICHTS WIE WEG.
Ja. Nichts wie weg. Ich wollte weg.
Noch immer.
Später dachte ich oft, dass ich in dem Moment, in dem ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Tür des Reisebüros öffnete, eine andere – wahrscheinlich viel wichtigere – Tür für immer hinter mir schloss. Es war eine Entscheidung gefallen, eine Entscheidung, die Karin sicher nicht sonderlich gut in den Kram gepasst hätte. Aber auch Karin hatte in letzter Zeit ein paar Entscheidungen gefällt, ohne sich vorher mit mir abzusprechen.
So findet irgendwie immer alles seinen Ausgleich.
Die Klingel über der Tür schellte erneut, und ich ging schnurstracks auf die Nasenkräuseltraumfrau zu.
»Hallo. Ich bin es wieder.«
»Ach, hallo! Na, das ging aber schnell. Haben Sie sich entschieden?«
»Äh... ja. Ich werde ein Ticket zurückgeben. Das Ticket auf den Namen meiner Frau.« Ich zog den Umschlag mit den Vouchers heraus. »Karin Kruse. Hier, bitte.«
Sie kümmerte sich um ihre Computertastatur, und während ihre Finger über die Buchstaben flogen schaute sie ab und zu zu mir hoch.
»Wenn ich das Ticket Ihrer Frau jetzt storniere, und Sie überlegen es sich doch noch anders, muss ich die Sache so behandeln, als hätte nie ein zweites Ticket vorgelegen. Das ist Ihnen klar?«
»Ja. Natürlich.«
»Ich meine, es könnte dann sein, dass kein Platz mehr verfügbar sein wird.«
»Ja. Das ist mir klar. Danke. Tun Sie es einfach trotzdem, bitte.«
»Okay. Gern.«
Ein Klick mit der Maus, und ein obszöner Geldbetrag zerstob zusammen mit dem Karibikurlaub meiner Frau in den virtuellen Weiten einer virtuellen Buchungszentrale ohne auch nur leise „Puff“ zu machen.
»So. Das ist dann erledigt.«
Ja.
Das war dann erledigt.
Ich würde nun zum ersten Mal seit überhaupt jemals immer alleine in den Urlaub fahren, denn als die Zeiten, zu denen ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr, endlich vorbei waren, begannen nahtlos die Zeiten, in denen ich mit Karin verreiste. Und jetzt würde ich zum ersten Mal alleine fahren. Ich trat wieder hinaus auf die Straße, kam mir unfassbar entscheidungsfreudig und männlich vor, und schob das übrig gebliebene Ticket in die Innentasche meiner Jacke.
Offenbar hatte der Regen in den letzten Minuten nachgelassen. Der „eklige“ Wind war ebenfalls fort. Am Horizont meinte ich, einen blauen Streifen zu sehen, der sich langsam aber sicher gegen die Wolken durchzusetzen schien. Zufall? Natürlich. Aber ein Guter.
Ich hatte als erwachsener Mann eine eigenständige Entscheidung gefällt, und schon besserte sich das Wetter! Das hätte ich schon viel früher tun sollen! Was war eigentlich die letzte Entscheidung gewesen, die ich nur für mich selbst getroffen hatte? Für mich allein? Ganz und gar für mich persönlich und ohne Rücksprache mit Karin, meiner vorgesetzten Kontrollinstanz?
Guter Gott, ich konnte mich nicht erinnern! Der gute alte Robert war scheinbar im Laufe der Jahre durch Trott und Gewohnheit vollends in einer Art Chimäre aufgegangen. Wie in einem alten Film von Jack Arnold waren Karin und ich durch einen grausigen Zeitlupenunfall, der sich über einen dreißigjährigen Zeitraum erstreckt hatte, zu einem Monster verschmolzen, einem Mischwesen namens Die Kruses. Nach Karins Weggang war Robert nun verwässert und abgeschwächt, bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht, ohne Biss, ohne Kanten und Ecken und ohne eigene Persönlichkeit zurückgeblieben! Ich war eigentlich gar nicht mehr Robert! Ich war zu „Robbie“, zu einer der beiden Hälften von Die Kruses geworden, ohne es auch nur gemerkt zu haben! Zuerst war ich durch den täglichen Trott zu „Robbie“ umformatiert worden, und dann wurde ich schließlich in einer ätzenden Substanz namens Partnerschaft aufgelöst, umgerührt und in eine Form gegossen, aus der ich schließlich als ein halber Die Kruses hervorgegangen war.
Und wann genau war das passiert?
Scheinbar war es ein schleichender Prozess, der mich zu diesem rückgratlosen Etwas gemacht hatte. Und genau das war das Hinterhältige an der Geschichte. Es war kein Ereignis, es war ein Prozess. Langsam, unter meinem Radar und vollkommen unbemerkt, war ich von Robert, dem Mann mit Plänen und Träumen, zu „Robbie“ von Die Kruses geworden. Der Vergleich mit einem Unfall, der sich über dreißig Jahre hingezogen hatte, erschien mir treffender denn je. Genau so war es! Ich war zum nichtsahnenden Opfer einer Zeitlupen-Katastrophe geworden. Vom jungen und enthusiastischen Draufgänger früherer Zeiten zum farblosen, schlaffen Sonntagsbraten-Bausparvertrags-Einbauküchen-Doppelgaragendeppen von heute.
Karin war immerhin noch genügend Karin, um für sich persönlich die Entscheidung zu treffen, mich zu verlassen. Nur ich schien irgendwie noch immer mehr Die Kruses zu sein, als ich Robert war.
Genug war genug!
Auch ich konnte Entscheidungen treffen, und die erste Entscheidung, die ich traf, war, alleine in die Karibik zu fahren. Gut so! Ich würde sozusagen als freier Geist, als Unabhängiger, als Strohwitwer auf Tour gehen. Warum auch nicht? Schließlich war es ja nicht ich, der das Haus verlassen hatte. Ich hatte nicht Zuflucht unter den Fittichen des Drachen gesucht, mich in eine andere Stadt abgesetzt, jeden Kontakt abgebrochen und meinen Partner allein zurückgelassen. Wenn ich tatsächlich ein Strohwitwer war, dann nur, weil sie mich dazu gemacht hatte!Konnte sie mir jetzt allen Ernstes einen Vorwurf daraus machen, wenn ich mich für ein paar Tage in die Karibik absetzte?
Na, ja. Sie könnte es ja mal versuchen.
Ja, vielleicht war es an der Zeit, mal an sich selbst zu denken! Ich war ja schließlich noch immer ein erwachsener Mann, verdammt noch mal! Schluss mit der ständigen Duckmäuserei! Schluss mit Karin hier, Karin da, Karin dort! Wenn Karin es geschafft hatte, sich aus der Die Kruses-Suppe herauszudestillieren, dann konnte ich das schließlich auch!
Gleiches Recht für alle! Aus und vorbei mit dem Weg des geringsten Widerstands! Schnauze voll von Kompromiss und wachsartiger Nachgiebigkeit!
„Robbie“ mein Arsch!
Entschuldigen Sie bitte mein Vokabular: Ich beschloss in diesem Moment spontan, mir wieder Eier wachsen zu lassen.