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Prolog

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Hotel „König Josef“ in München

23:45 Uhr


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Okay, ich schreibe ein Buch.

Wie geht man ein solches Projekt wohl an?

Ich meine: Ich schreibe ein Buch? Du lieber Himmel!

Die größten Probleme bereitet man sich tatsächlich immer selbst. Das merke ich schon jetzt, dabei befinde ich mich gerade mal am Beginn der ersten Seite.

Na ja, wahrscheinlich werden Sie Nachsicht mit mir haben, wenn ich mich ein wenig ungeschickt anstelle und auf den ersten paar Seiten leicht unbeholfen vor mich hin stammele. Sie kennen mich ja. Ich werde das schon hinkriegen. Ich kriege alles hin. Schließlich bin ich nicht irgendein Dumpfsack aus Rumpel an der Knatter. Ich bin das moralische Gewissen Deutschlands! Oder zumindest war ich es bis vor gut zwei Stunden. Oder bin ich es am Ende noch immer? Keine Ahnung. Könnte durchaus sein. Im Moment ist es schwer zu sagen. Vielleicht sehe ich morgen schon viel klarer. Mein momentaner Status was das angeht, dürfte ein wenig in der Schwebe hängen.

Was ich sagen will, ist Folgendes: Ich habe in kürzester Zeit mehr erreicht, als ich es je für möglich gehalten hätte. Wie schwer kann es da schon sein, ein Buch zu schreiben? Noch dazu für einen Menschen in meiner Situation! Für Jemanden, der sich nichts ausdenken muss, weil er alles, was er niederzuschreiben gedenkt, selbst erlebt hat?

Wissen Sie, ich möchte Ihnen erzählen, wie es wirklich war. Ich meine nicht die Hochglanzversion, ich meine die Wahrheit. Erinnern Sie sich noch an diesen Begriff und an das Prinzip, welches er verkörperte?

Wahrheit?

Die Älteren werden sich vielleicht erinnern, die Jüngeren wahrscheinlich nicht. Wahrheit war mal wichtig. Das war lange bevor wir uns freiwillig und ohne Not Dingen zuwandten, die plötzlich allein durch ihre Existenz eine gewisse Wichtigkeit erlangten. Eine Wichtigkeit, die niemals hinterfragt wird, obwohl sich das Hinterfragen sicherlich lohnen würde. Ich rede von Hirnfürzen, wie „alternativen Fakten“. Von Dingen, wie der Anzahl Ihrer Follower auf Instagram, Ihrer YouTube-Abonnenten, oder auch der komplett sinnfreien „Likes“ auf irgendwelchen Internetseiten.

Ich rede von Wahrheit. Fotos auf Instagram, durch fünfzig Filter gejagt und vor dem Upload mit fünfzehn nahezu identischen Fotos verglichen um das Beste auszuwählen, hat mit Wahrheit nichts zu tun. Es hat etwas mit übersteigertem Selbstwertgefühl, finanziellen Interessen, Geltungsdrang, Oberflächlichkeit oder schlicht Mitläufertum zu tun. All das mag ein solches Foto widerspiegeln, die Wahrheit spiegelt es jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Wahrheit... Ein unkompliziertes, einfaches und doch über alle Maßen effektives Prinzip. Etwas ist entweder wahr oder es ist Blödsinn. Wenn es wahr ist, verdient es unsere Aufmerksamkeit, wenn es Blödsinn ist, sollte es auch wie Blödsinn behandelt werden. So einfach kann das Leben sein. Wie gesagt: Die Älteren werden sich erinnern.

Sie wissen, es fällt mir wahrhaftig nicht schwer, literweise meinen hochinteressanten persönlichen Senf über Gott und die Welt und vor allem über unsere ach so zivilisierte Gesellschaft zu verschütten. Ich meine, schließlich kennen Sie mich als eloquenten Redner und Analysten. Allerdings macht sich in mir die Angst bemerkbar, dass zwischen dem Kommentieren des Tagesgeschehens und dem Erzählen meiner eigenen Geschichte – meiner ganz und gar persönlichen und eben auch wahren Geschichte – ein riesiger Unterschied besteht. Es ist irgendwie... näher an mir dran? Intimer? Persönlicher? Ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll.

Tolle Voraussetzungen für einen wirklich gelungenen Start in mein neues Leben als gefeierter Buchautor, finden Sie nicht auch? Aber wie gesagt: Sie kennen mich. Ich kriege das schon irgendwie hin. Ich kriege alles hin.

Ein Buch.

Okay.

Wie schwer kann das sein?

Mir fällt gerade auf, dass meine ersten Sätze dessen, von dem ich hoffe, dass irgendwann einmal ein Buch daraus wird, einen kleinen aber tiefgreifenden Fehler enthalten: Ich schrieb, dass Sie mich kennen, und das sogar mehrmals. Und das ist Quatsch. Klar, jeder, der die letzten anderthalb Jahre nicht mit geschlossenen Augen und Stöpseln in den Ohren in einer Höhle verbracht hat, glaubt, mich zu kennen. Ich meine, Sie kennen natürlich den Fernseh- und Radiotypen, den Internetstar, den Kerl aus dem Frühstücksfernsehen, den geheimnisvoll dreinblickenden Promi auf dem Hochglanzumschlag Ihres wöchentlich erscheinenden Lieblingsblättchens, aber mich selbst, mich persönlich kennen Sie nicht. Sie nicht, ihr Nachbar nicht, ihr Facebook-Freund mit den lustigen Hundefotos nicht, und ich denke, dass selbst mein eigener Agent nicht die geringste Ahnung hat, mit wem er in letzter Zeit wirklich seine Brötchen verdient hat.

Sie wissen, wer ich bin, doch Sie kennen mich nicht. (Oder sollte ich vielleicht besser schreiben, dass Sie mich kennen, aber nicht wissen, wer ich bin? Knifflig...)

Gütiger Himmel, und ich will ein Buch schreiben?

Ja. Obwohl ich fürchte, dass der Versuch, Ihnen zu erklären, was tatsächlich vorgefallen ist, wie sich in Wirklichkeit die Dinge ereigneten, die während der letzten Monate Ihre Presse und Social Media auf Trab gehalten haben, ein ganz schöner Kampf werden könnte, möchte ich den Versuch starten. Und wenn es sich tatsächlich als Kampf herausstellen sollte, dann haben Sie mein Wort: Ich habe vor, ihn zu gewinnen.

Also noch einmal von vorn: Wie soll ich diese Sache angehen? Einen Anfang für einen Anfang finden?

Nun, zunächst möchte ich Sie auf eine Tatsache hinweisen, die Ihnen wahrscheinlich schon beim Lesen der ersten Seiten klargeworden sein dürfte. Ich mache das hier zum ersten Mal und bin entsprechend nervös. Ich bin nämlich beileibe kein Schriftsteller. Anhand der Ereignisse der letzten Zeit mögen Sie das vielleicht denken, aber auch was das angeht, sind Sie schief gewickelt. Auch, wenn Sie mich als Star kennen, bin ich von Hause aus eigentlich Buchhalter.

Lohnbuchhalter, um genau zu sein.

Ich denke, ich bin es tief in mir drin noch immer. Manche Menschen behaupten ja gerne, dass man den Genauigkeitsfanatiker, den Erbsen zählenden Kontrollfreak und Pedanten nie mehr aus einem Menschen herausbekommt, wenn er diesen Weg erst mal eingeschlagen hat. Über die Richtigkeit dieser Vermutung soll die Nachwelt entscheiden. Es ist mir so egal wie zwölf oder ein Dutzend, ob die Ereignisse, die mein Leben in letzter Zeit komplett auf den Kopf gestellt haben, nun einen anderen Menschen aus mir gemacht haben, oder nicht. Alles, was ich dazu sagen kann ist, dass ich irgendwie nach all dem Zinnober noch immer nur ich bin. Aber ich greife vor. Gehen wir die Sache der Reihe nach an.

Stand der Dinge: Ich sitze in einem Hotelzimmer, welches exakt die sterile und unpersönliche Ausstattung vorzuweisen hat, die scheinbar den Standard für die anonyme Mittelklasse markiert. Da wäre ein leise brummender Minikühlschrank im Nachtschränkchen, ein fest an der Wand verschraubter Fernseher, Bettwäsche wie im Krankenhaus, Tapeten wie im Seniorenstift und eine Fernbedienung in der Nachttischschublade, die ich für nichts auf der Welt anfassen würde. Ich meine, wer weiß schon, wer hier vor mir wohnte, welche zahlungspflichtigen Programme sich meine Vormieter über den fest verschraubten Fernseher an der Wand anschauten und wie es um die Handhygiene dieser Menschen bestellt war, nachdem... sie wissen schon. Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass Hotel-Fernbedienungen regelmäßig von qualifiziertem Fachpersonal desinfiziert werden?

Sehen Sie? Ich auch nicht. Es ist ekelhaft.

Dass in der selben Schublade tatsächlich auch eine Bibel liegt (ich wusste gar nicht, dass sich hier in Bayern noch immer in jedem Hotelzimmer eine Bibel findet) betrachte ich als Zeichen von gelebtem Liberalismus. Es ist scheinbar so, dass selbst hier in Bayern, südlich des Weißwurstäquators, heutzutage die Maxime lautet: „A jeder, wie er mog.“

Das bedeutet im Klartext, dass man in der Schublade des Nachtschränkchens für den ersten Gast die heilige Schrift mit den zehn Verboten hinterlegt, während man für den nächsten Gast eine Fernbedienung mit ihren weniger kirchenfesten Verheißungen aus dem morastigen Becken menschlicher Schwächen und Gelüste bereitstellt. Und damit sind wir eigentlich auch schon mitten im Thema. Schauen Sie, es gibt heutzutage einfach keine klare Linie mehr! Nichts hat mehr Bestand, da ist nichts mehr, an dem man sich orientieren oder nach dem man sich verlässlich richten könnte.

Jeder, wie er will, alle dürfen alles, keiner muss gar nichts, und wenn dann am Ende die Rübe völlig matschig ist, entscheiden wir telefonisch für fünfzig Cent pro Anruf darüber, wer sich ab dem heutigen Abend offiziell als „Superstar“ bezeichnen darf. Ich bitte Sie! Ist das wirklich unser Ernst?

Am nächsten Abend freuen wir uns dann darauf, gemütlich bei einem Stück Pizza vom Bringservice dabei zuzuschauen, wie irgendein käsiger F-Klasse-Promi aus dem Dschungelcamp fliegt, obwohl es diese bemitleidenswerte Kreatur, dieser völlig schamfreie und durch und durch bedauernswerte Mensch im Vorfeld über sich brachte, vor laufender Kamera sein Innerstes nach außen zu kehren, sich den blamabelsten Herausforderungen zu stellen und seine Menschenwürde freiwillig mit Füßen zu treten. Und warum macht er so etwas, so fragt man sich?

Nur damit die arme Sau noch ein wenig länger medienpräsent sein darf. Noch immer nicht in der Versenkung verschwunden und vergessen, noch immer im Fernsehen. Noch ein klein wenig länger im öffentlichen Bewusstsein, um sich im Licht der extrem kalten Sonne zu präsentieren, die wir „Berühmtheit“ nennen. Oder anders ausgedrückt: um sich noch ein paar Stündchen länger von exakt dem Haufen von Arschlöchern beim Blamieren begaffen zu lassen, der unserem „Prominenten“ dann schließlich feixend einen schönen Rückflug nach Deutschland wünscht.

Obwohl... Vielleicht geht ja Selbsterniedrigung, gepaart mit dem Verlust jeglicher Würde heutzutage als vielversprechendes und lukratives Karrieremodell durch? Großer Gott! Deutschland, du Land der Dichter und Denker.

Sie müssen entschuldigen... Ich schweife ab.

Wissen Sie, ich versuche gerade, so etwas wie Ordnung in mein gedankliches Chaos zu bringen. Ich möchte einen Anfang für das finden, was ich Ihnen gerne erzählen möchte, aber das ist gar nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wie gesagt: Ich bin Buchhalter. Haben Sie also bitte ein wenig Geduld mit mir und kommen Sie einfach mit auf meine persönliche Reise in den Wahnsinn. Sie können ja jederzeit eine kleine Pause einlegen, wenn es Ihnen passt. Sie haben Glück. Sie können das.

Ich schreibe ein Buch.

Gütiger Himmel.

Ich bin noch immer sehr aufgewühlt, von dem, was vor nicht ganz zwei Stunden geschehen ist.

Ja, vielleicht sollte ich damit anfangen. Vielleicht sollte ich Ihnen als erstes erzählen, wie ich so ticke, damit Sie verstehen können, warum ich so unfassbar angefressen bin, so über alle Maßen hinaus fertig mit dieser Gesellschaft und damit auch – so leid es mir tut – mit Ihnen, lieber Leser. Schauen Sie, ich bin ein Mensch, der eigentlich nicht gerne im Rampenlicht steht. Wirklich nicht. Nun ist es nicht so, dass ich in der Vergangenheit viel Gelegenheit dazu gehabt hätte, dies herauszufinden. Ich stand eigentlich nie im Rampenlicht, war nie ein Show-Talent oder die Art von Mensch, die sich sofort meldet, wenn in einer Besprechung mein Boss „Vorschläge?“ in den Raum bellt. Du lieber Himmel, als Frau Kunze damals in der fünften Klasse fragte, wer sich um das Amt des Klassensprechers bewerben wolle, tauchte ich völlig panisch unter meinen Tisch ab und versuchte, den Eindruck zu erweckten, in meiner Tasche nach Tintenpatronen zu suchen! Nein, ich bin kein Mensch für die Bühne. Soviel steht fest. Und doch kann ich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich am heutigen Abend für den größten Knaller in der deutschen Fernsehunterhaltung seit dem Mauerfall gesorgt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Anzahl der Clicks auf YouTube mit Bezug auf meinen Fernsehauftritt schon jetzt durch die Decke geht! In den letzten zwei Stunden habe ich dafür gesorgt, dass ich von jetzt an endgültig meine Ruhe vor der Allgemeinheit haben dürfte. Von dem dummdosigen Bescheuertensoziotop, in dem wir gezwungen sind, uns täglich aufzuhalten oder – wie ich es nenne – vor der „Zielgruppe“. Denn nur um sie geht es. Es geht immer nur um „die Zielgruppe“. Aber dazu später mehr.

Und nun? Zwei Stunden nach dem großen Knall?

Wenn ich die Gardine meines Fensters ein wenig zurückziehe, kann ich sehen, dass draußen auf der Straße alles seinen gewohnten Gang geht. Ein paar Autos, eine gelegentliche Straßenbahn, Fußgänger, und ein Boxermischling, der auf den Grünstreifen zwischen Fuß- und Radweg scheißt, während sein strähnenblondiertes Frauchen abwesend auf ihr Handy glotzt. Da kann man mal wieder sehen, dass im Grunde genommen alles nur ein Witz ist. Der Eine erlebt den wohl aufregendsten Trip seines Lebens, und der Andere informiert sich darüber, an welcher Tankstelle der Diesel am billigsten ist. Das ist das Leben. Der Alltag. Und der schnurrt wie eine gut geölte Maschine vor sich hin. Unabschaltbar, unaufhaltbar, und ohne auch nur zu ruckeln.

Vielleicht sollte ich die Gardine lieber wieder schließen und mich konzentrieren. Vielleicht sollte ich mir auch etwas möglichst Hochprozentiges aus dem Minikühlschrank holen, mich erst einmal sammeln und mich Ihnen vorstellen. Ich meine damit, mich Ihnen so vorzustellen, als würden Sie mich nicht schon seit Monaten kennen. Ja, das klingt vernünftig.

Vor allem die Sache mit dem Minikühlschrank.

Wie wir bereits festgestellt haben, wissen Sie, wer ich bin. Und nun sollen Sie mich kennenlernen.

Gestatten: Kruse. Mein Vorname ist Robert. Zu der Zeit, in der ich mit meiner Geschichte ansetzen möchte, nannte mich jedoch kein Schwein bei meinem Vornamen. Meine Kollegen nannten mich „Kruse“ (»Kruse, hast du schon das Memo gelesen?«), und meine Freunde nannten mich „Robbie“. Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung, warum. An meiner Ähnlichkeit mit einem britischen Popstar gleichen Namens wird es jedenfalls nicht liegen. Ich war damals so etwa Mitte fünfzig, hatte einen stattlichen Bauchansatz, und die einzige Kopfbehaarung, die noch nicht aschgrau war, wuchs mir neuerdings aus den Ohren. Ich war – wie erwähnt – Buchhalter, ein Job, der in der Top-Ten-Bewertung der coolsten Berufe Deutschlands so in etwa auf Platz vierundsiebzig ins Ziel keuchen dürfte.

Robbie... Was für ein bescheuerter Spitzname. Wie kann man denn bitteschön auf die Idee kommen, einen fetten, grauhaarigen, buchhaltenden Mittfünfziger „Robbie“ zu nennen? Es war wohl ihr persönlicher Witz auf meine Kosten, und es war meine allseits anerkannte Aufgabe, mich darüber aufzuregen.

Wenn ich heute – mit einem gewissen Abstand – darüber nachdenke, waren es eigentlich gar nicht wirklich meine Freunde. Genaugenommen konnte diese komischen Typen, die an den Wochenenden mein Haus überrannten, wie eine grunzende Horde angesoffener Mongolen, nie ausstehen. Ich nicht. Aber meine Frau. Ja, so muss man es sehen. Es waren eigentlich ihre Freunde. Sehen Sie, wenn man eine Frau heiratet, dann heiratet man ihre Freunde scheinbar mit (auch so ein Ding, das man anno 1985 beim Anbaggern im Bonner „Rock-Pop-Keller“ überhaupt nicht auf dem Schirm hatte). Zu jedem noch so kleinen Anlass rannten mir diese Blödmänner die Bude ein, und meine Frau hatte nichts Besseres zu tun, als die ganze Sippschaft von vorne bis hinten zu bekochen und ihnen mein letztes Bier anzubieten. Ja, ich denke, hier sind wir am eigentlichen Kern meines Problems angelangt: bei meiner Ehe.

Die Geschichte meines Untergangs beginnt, wie so viele Untergänge in der Geschichte, mit einem einzigen kleinen Wort. Damals, im April 1912, war es das Wort »Eisberg«, ausgesprochen im Krähennest der Titanic, 1986 war es das Wort »Hoppla«, ausgesprochen in einem Kontrollraum im ukrainischen Tschernobyl, und in meinem Fall war es das Wörtchen »Ja«, ausgesprochen im Trauzimmer des Standesamtes in Bonn-Bad Godesberg vor gut dreißig Jahren. Dieses kleine Wort, diese beiden unbedeutenden Buchstaben läuteten mein persönliches Desaster ein. Zumindest sehe ich das heute (als durch das Leben geläuterter und verbesserter „Robbie“) so, und ich denke nicht, dass „Robbie“ damit allzu falsch liegt.

Ich kann förmlich riechen, was Sie gerade denken, aber Sie liegen schon wieder daneben. Nein, ich hänge nicht in einer extrem verspäteten Midlife-Crisis. Nein, ich bin auch keineswegs verbittert! Ich bin keiner dieser selbsternannten Sozialverbesserer, die den lieben langen Tag am Fenster sitzen und Falschparker über die Notrufnummer der Polizei melden. Ich bin keiner dieser Typen, die darauf warten, das Waldo von nebenan auf ihren Rasen kackt, damit sie den ersten nachbarschaftlichen Kleinkrieg nach mindestens drei langen und ereignislosen Stunden anzetteln können. Ganz im Gegenteil.

Ich war eigentlich die meiste Zeit meines Lebens ein ziemlich umgänglicher Mensch. Schwer, zu glauben, habe ich Recht? Kein Party-Animal, ganz bestimmt nicht, aber auch kein Kostverächter, wenn Sie wissen, was ich meine.

Es gab mal Zeiten, da fühlte ich mich so richtig wohl in meiner Haut. Ich hatte einen guten Job (Lohnbuchhalter bei der Deutschen Roheisen und Hütten Bank AG, mittlerweile sogar als stellvertretender Abteilungsleiter), brachte jeden Monat mein sauer verdientes Geld auf das gemeinsame eheliche Konto und hatte eigentlich ein recht gutes Auskommen durch Einkommen, wie man so schön sagt. Einmal, manchmal sogar zweimal im Jahr, fuhr ich mit meiner Frau Karin in den wohlverdienten Urlaub. Und damit ging es los: mit unserem letzten Urlaub.

Von diesem Urlaub möchte ich Ihnen gerne berichten. Von unserem letzten Urlaub und von einigen Dingen, die er ins Leben rief. Es ist die Geschichte von Herrn Robert Kruse nebst Gattin. Von dem leidlich wohlsituierten Ehepaar mit dem Reihenhaus. Es ist auch eine Geschichte über Ruhm und Ansehen, eine Geschichte über Macht und Ohnmacht und die Geschichte von der Sache mit den Tickets ins Paradies. Und natürlich ist es auch eine Geschichte über Sie, lieber Leser. Über die „Zielgruppe“.

Urlaub. Wie wundervoll kann dieses Wort klingen.

Urlaub...

Eine Zeit der Erholung sollte es sein. Eine Zeit ohne Stress, ohne Zeiterfassungs-Chips, ohne Computer und all den anderen Kram, mit dem man so Tag für Tag zu tun hat. Eine Auszeit. Eine Unterbrechung des täglichen Lebens, damit man mal wirklich leben kann.

Es lief folgendermaßen ab: Kurz vor meinem Urlaubsantritt kam es zu den üblichen Schwierigkeiten, mit denen man immer zu rechnen hat, wenn man eine Stufe vor dem Posten des Abteilungsleiters steht und anfängt, ernsthaft Verantwortung in der Firma zu übernehmen. Immerhin war ich als stellvertretender Abteilungsleiter der Lohnbuchhaltung in planerischen Dingen davon abhängig, dass mein Chef auf dem Posten war. Fehlte mein Chef, war es an mir, ihn zu vertreten, und was soll ich sagen? Fast wäre es dazu gekommen, dass ich meinen Urlaub hätte auf Eis legen müssen.

Es wäre interessant, zu erfahren, wie mein Leben in den letzten anderthalb Jahren dann verlaufen wäre.

Aber der Reihe nach...

Mein direkter Vorgesetzter trug zwar den extrem säuberlichen Namen Reinhard Glanzknecht, war jedoch ein absolut widerlicher Drecksack. Ein Bilderbuch-Macho, der mit seinen samstäglichen Besuchen im „Sauna-Club“ angab, wie andere Leute mit dem Nobelpreis für Medizin. Ich sah ihn, umgeben von einem erregt summenden Schwarm schleimscheißender Kollegen, auf dem Korridor in der Ecke mit der Kaffeemaschine. Gerade wollte ich zurück in mein Büro flüchten, da entdeckte er mich und winkte mich zu seiner Fangemeinde hinzu.

»Schau an, der Kruse! Ich nehm sie nicht, nimm Du se, sonst nimmt sie halt der Kruse!«

Die Tatsache, dass das, was ihm da gerade aus dem Kopf gefallen war, nicht nur keinen Sinn ergab, sondern auch noch total unwitzig war, schien meine Kollegen nicht die Bohne zu stören. Sie lachten, als habe dieser selbstverliebte Idiot eben den Kalauer des Jahres gerissen und grinsten mich frech an. Immerhin war es ja ein Witz auf meine Kosten (auch wenn es kein Witz war).

Ich mühte mir ein Lächeln ab, schloss kurz die Augen und kniff mir in den Nasenrücken. Kündigte sich da ein leichter Kopfschmerz an? Vor meinem geistigen Auge erschien Reinhard Glanzknecht, wie er mit einer überdimensionalen Fleischwurst in der Luft herumwedelte und ein Haufen speichelleckender Hunde, völlig außer sich vor Begeisterung, an ihm hochsprang und Kunststückchen vorführte. Ich öffnete die Augen, das Bild verschwand, und ich war überrascht zu sehen, wie wenig sich die Szene an der Kaffeebar von meiner Vision unterschied. Ich tackerte mental mein gequältes Lächeln an den Mundwinkeln fest und gesellte mich zum Rest der Abteilung, die fast vollzählig an den Lippen unseres obersten Bürohengstes hing. Nach einem kurzen »Morgen, zusammen« bediente ich mich und hielt mich dann krampfartig an meiner Kaffeetasse fest.

Nachdem er ausgiebig über die Vorzüge osteuropäischer Damen referiert hatte (»Jungs, die gehen da viel unverkrampfter an die Thematik, als ihr das von euren Faltenrock-Weibchen zuhause kennt!«), kam die Sprache auf gesundheitliche Probleme, die er seit einiger Zeit hatte, die ihm aber nicht direkt Sorgen zu machen schienen. Genauer gesagt, klagte er über leichte Übelkeit, begleitet von einem sehr lästigen Hautausschlag. Er habe seit Tagen eine leicht erhöhte Temperatur, was ihn aber nicht weiter störte, so sagte er. Nur der Ausschlag würde ihn dazu treiben, sich im Schlaf handflächengroße Hautfetzen vom Leib zu kratzen, wie er meinte. Dann lachte er wieder, und die Kollegen lachten mit ihm. Er meinte, es sei wahrscheinlich nur irgend etwas, das er sich neulich bei einem Kurztrip nach Bangkok eingefangen habe und lachte nun noch lauter. Pflichtbewusst, wie sie waren, lachten meine Kollegen nun ebenfalls lauter. Dabei machten Sie abwinkende Gesten, die wohl bedeuten sollten, dass man so etwas als ganzer Kerl ja schließlich kenne, und dass mein Chef ihnen da nichts Neues erzählte. Glanzknecht, dem mein gekünsteltes Lächeln aufgefallen sein musste, schlug mir, jetzt vor Lachen schier prustend und mit hochrotem Kopf, kumpelhaft auf die Schulter.

»Mensch, Kruse! Machen Sie sich mal locker! Wir sind hier unter uns, und die Dame des Hauses wird Sie ja wohl kaum hören können, was?«

Die Kollegen wieherten jetzt schier vor Begeisterung.

»Oder kriegen Sie sonst was mit dem Nudelholz über den Schädel, oder wie?«

Er stieß ein bellendes Lachen aus und die Meute bellte ihm nach. Er schlug mir erneut kraftvoll auf die Schulter, und das Kläffen meiner Kollegen erreichte seinen Höhepunkt.

»Immer schön der Herr im Hause bleiben, was Kruse«, dröhnte mein Boss, während die Farbe seines Kopfes nun von einem tiefen Rot in ein dunkles Violett changierte. Ich bemerkte ein leichtes Flattern in seinem rechten Augenlid. Dann deutete er auf eine Stelle an der kahlen Wand, rief »Pudding!« und schlug stocksteif der Länge nach aufs Gesicht.

Jetzt lachte er nicht mehr. Meine Kollegen auch nicht. Ich schon, aber ich versuchte, es mir – angesichts der Dramatik der ganzen Situation – zu verkneifen.

Einigermaßen überrascht von der etwas sprunghaften Entwicklung des Vormittags verständigten wir den Notarzt. Mein Boss wurde mit viel Tatütata in die nächste Klinik gebracht. Dort kicherte er wirr vor Fieber vor sich hin und verfiel hin und wieder in einen seltsamen Singsang, der schließlich von einem zufällig anwesenden Hausmeister zweifelsfrei als die Nationalhymne Papua Neuguineas identifiziert wurde, was jedoch niemandem sonderlich weiterhalf und den Hausmeister, der gehofft hatte, in bester Dr. House-Manier den entscheidenden Hinweis für eine Diagnose geliefert zu haben, einigermaßen zerknirschte. Er verbrachte die nächsten Tage auf der Intensivstation (Glanzknecht, nicht der Hausmeister), ohne dass die Ärzte die genaue Ursache seines plötzlichen Zusammenbruchs herausfinden konnten.

Natürlich kam meine Urlaubsplanung im Zuge dieser Ereignisse bedenklich ins Wanken und hatte schon eine recht bedrohliche Schlagseite, als plötzlich die Nachricht die Firma erreichte, dass es meinem Vorgesetztenmacho wieder erheblich besser ginge, und er tatsächlich sogar von der Intensiv- auf eine normale Station verlegt worden sei.

Am nächsten Tag besuchte ich ihn (im Auftrag der Abteilung Personalbuchhaltung, zu deren Obermotz ich während der Abwesenheit dieses Kotzbrockens geworden war), und beglückwünschte ihn zu seiner schnell fortschreitenden Genesung. Bei dieser Gelegenheit ließ ich ganz lapidar einfließen, dass ich eigentlich demnächst Urlaub hätte, ihn aber gerne verschieben könne, sollte mein Chef nicht pünktlich wieder auf dem Damm sein. Schließlich hatte ich nichts fest gebucht, ich wäre also flexibel, falls ich es sein müsse, fügte ich hinzu (immer ein Satz, den Vorgesetzte gerne hören). Er lachte, winkte ab und wünschte mir persönlich und voller guter Dinge einen angenehmen Urlaub. Es war schön zu sehen, wie gut sich der Arsch erholt hatte. Seine Gesichtsfarbe war frisch und fast schon wieder normal, sein Lächeln wirkte nicht gekünstelt, sondern offen und ehrlich. Meine Laune besserte sich gemeinsam mit seinem Gesundheitszustand, und alle waren wir glücklich und zufrieden, denn je schneller die Genesung von „Mr. Saunaclub“ voranschritt, desto schneller konnten für Karin und mich die schönsten Wochen des Jahres beginnen.

Am Freitag der darauf folgenden Woche, meinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub, hörte ich zufällig in der Kantine die Unterhaltung zweier Kollegen aus der Kreditwirtschaft, Abteilung A bis F, die sich darum drehte, dass die Spätzle nach Hausmacherart mal wieder schmeckten, wie in Streifen gerissene Raufasertapete, die Soße – rein von der Konsistenz her – stark an Kleister erinnere und somit dem ganzen Mittagessen ein Hauch von Renovierungsarbeiten anhefte. Einer der Kollegen merkte bei dieser Gelegenheit scharfsinnigerweise an, dass umfangreiche Renovierungsarbeiten der leicht in die Jahre gekommenen Dame an der Essensausgabe auch nicht schaden würden. Von so viel Wortwitz überwältigt, konzentrierte ich mich wieder auf mein eigenes Problem, nämlich, mein Zartes Filet vom Schwein an jungen Möhrchen mit Püree von der Süßkartoffel daran zu hindern, sich nach jedem Bissen kurz oberhalb des Kehlkopfes schmerzhaft in meinem Hals zu verkeilen.

Die Luft war angefüllt von den exotischen Gerüchen unserer Nahrungsmittel-Surrogate, dem Geklapper von Besteck auf dem schmucklosen Kantinengeschirr, der Unterhaltungen unserer Mitarbeiter und der unvergleichlichen Unruhe und Hektik, die man nur in den Pausenräumen großer Firmen zu finden scheint. Die Mitarbeiter von der Kreditvergabe machten gerade Mittagspause, während die Jungs vom Fuhrpark noch in den letzten Zügen der Frühstückspause lagen. Immer ein unruhiger Moment in unserer Kantine.

Mein heroischer Kampf gegen das Zarte Filet vom Schwein war gerade in eine besonders heikle Phase getreten, als ich von den Kollegen am Nebentisch die Fortsetzung ihrer Unterhaltung mitbekam. Das Gespräch wurde eher geschrien als gesprochen, und so gelangte ich ungewollt an neue Informationen über den weiteren Genesungsverlauf meines Bosses. Es handelte sich um Informationen, auf die ich lieber verzichtet hätte.

Offenbar ging es mittlerweile darum, dass mein fast schon wieder komplett gesundeter Chef von seinen Ärzten dazu ermuntert worden war, in der würzigen Abendluft einen kleinen Spaziergang im Krankenhauspark zu unternehmen, in dessen Verlauf er dann prompt von einer entfesselten Horde endorphintriefender Mountainbiker über den Haufen gefahren wurde. So lag er nun, ausgestattet mit vielen neuen und medizinisch herausfordernden Verletzungen, erneut in seinem angestammten Bett auf der Intensivstation und wartete dort gemütlich sediert auf eine grundlegende Renovierung ausgedehnter Teile seines Knochenbaus.

Sie werden sicher verstehen, dass ich die anhaltende Renovierungs-Wortspielerei nicht mit der selben Begeisterung wie meine Kollegen aufnehmen konnte. Zwar war ich leidenschaftlich am Wohlergehen meines Vorgesetzten interessiert (immerhin war es ja untrennbar mit meinem eigenen Urlaub verbunden), jedoch entschied ich mich trotzdem, so zu tun, als hätte ich die Unterhaltung meiner Kollegen nicht gehört. Ich wollte auf keinen Fall den Anschein erwecken im Bilde zu sein, denn dass wäre der Verpflichtung gleichgekommen, dem Sack erneut einen Besuch abzustatten, und wir wissen doch alle, wie anstrengend diese Besuche für Patienten sind, die doch eigentlich nur viel Ruhe brauchen.

Die restlichen Stunden im Büro verbrachte ich also mit einer imaginären Telefonkonferenz mit einem nicht minder imaginären Kollegen in unserer Hamburger Niederlassung, die ich mir aus den Fingern gesaugt hatte, um einen „Bitte nicht stören, Telefonkonferenz“-Zettel an meiner Tür anbringen zu können. Ich durfte auf gar keinen Fall einem meiner Kollegen über die Füße laufen, denn dann hätte ich zweifellos vom Unfall meines Bosses „erfahren“ und mein Urlaub wäre auf unbestimmte Zeit verschoben worden. An diesem letzten Arbeitstag hatte die Stunde gefühlte einhundert Minuten aber schließlich wurde es dann doch noch siebzehn Uhr, und ich machte mich, in aller gebotenen Eile und mit einem aus dem sich schließenden Aufzug vorgebrachten „Tschüss, zusammen!“ vom Acker.

Tja, und so ging das los.

Der Kruse

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