Читать книгу Der Kruse - Burkhard Simon - Страница 12

Viertes Kapitel

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„Wenn du die Absicht hast, dich zu erneuern,

tu es jeden Tag.“

(Konfuzius)

Zugegeben, ich habe während der nächsten Tage nur noch selten versucht, Karin bei ihrer Mutter zu erreichen.

Erstens, weil ich keine Lust hatte, bei meinem Schwiegerdrachen zu Kreuze zu kriechen, nur um mit meiner eigenen Frau ein paar Worte wechseln zu dürfen und zweitens, weil ich immer stärker unter der Eindruck stand, dass Karin selbst auch mal hätte aus den Hufen kommen können. Immerhin war mittlerweile eine Menge Wasser den Rhein hinunter geflossen, und Funkstille ist nicht eben das probate Mittel, um Probleme zu lösen. Ich fand, ich hatte oft genug versucht, sie zu erreichen. Der Ball lag jetzt, wie man so schön sagt, in ihrem Feld. Spielen musste sie ihn schon selbst. Immerhin hatte ich einige Versuche gemacht, doch es war nicht Margots Anrufbeantworter, mit dem ich Dinge aufzuarbeiten hatte, sondern Margots Tochter.

Ich bin nicht stolz darauf, aber ich verbrachte während der nächsten Tage viel Zeit damit, einfach nur vorhanden zu sein. Ich schlief bis in den späten Vormittag hinein, hing vor der Glotze wie ein nasser Sack und schaute mir Bundesliga-Spiele an (Fußball interessiert mich nicht die Bohne, aber zumindest war Bewegung im Spiel, und die Werbeunterbrechungen wurden in die Halbzeitpause verbannt). Ich verfolgte die verwirrend dämlichen Handlungsstränge amerikanischer Sitcoms und trank Bier.

Viel Bier.

Jetzt, da ich mir die ganze Geschichte zwecks ihrer Aufzeichnung noch einmal durch den Kopf gehen lasse, war das eigentlich eine verdammt gute Zeit.

Als ich im Zuge meines Sportschau-Vorbereitungs-Rituals zum ersten mal die Füße auf die Armlehne der Couch legte, ohne mir vorher die Schuhe auszuziehen, erlebte ich ein mir völlig neues Phänomen. Plötzlich war mir, als würde sich ein Loch in der Realität auftun. Die Stille, die sich ausbreitete, war fast schon mit Händen zu spüren. Farben intensivierten sich, Geräusche wurden klarer und differenzierter. Es war, als hätte ich einen Raum innerhalb des Raumes betreten, in dem die allgegenwärtigen Gesetze der Physik keinerlei Geltung mehr hatten. Eine Parallelwelt. Eine alternative Realität, in der der Raum nicht nur gekrümmt, sondern regelrecht von innen nach außen gekehrt schien. Ein Parallaxenfehler im vierdimensionalen Raumzeit-Gefüge? Ich fragte mich, was wohl vorgefallen sein mochte. Ich nahm die Füße von der Couchlehne, und die Luft machte ein schnappendes Geräusch, als sie das Vakuum, das der fremde Raum zurückgelassen hatte, wieder schloss.

Was war geschehen?

Irgend etwas, dessen Eintreten ich zwingend vorausgesetzt hatte, war ausgeblieben. Dann fiel es mir ein: Karin war nicht da, um mir für meine unerhörte Missbilligung ihrer ehernen Regeln im Bezug auf Schuhe, Couchlehnen und vor allen Dingen deren Kombinationsmöglichkeiten, die Haut in Streifen abzuziehen.

Lachen Sie ruhig, aber ich glaube, dass ich erst in diesem Moment wirklich verstand, dass sie weg war. Erst in dieser Sekunde begriff ich auch emotional, dass Karin nicht mehr hier wohnte, nicht da war, nicht nur zum Einkaufen gegangen, sondern tatsächlich weg war.

Wirklich weg.

Meine Schuhe brachten mich fast um, denn sie waren neu und noch nicht eingelaufen, aber ich behielt sie trotzdem noch fast eine ganze Stunde lang an, als ich so auf meinem Sofa lag und mich gähnend über die Fußballergebnisse der Regionalliga Nord informierte. Es handelte sich um ein Thema, das mich in etwa so brennend interessierte, wie die durchschnittlich anzunehmende Reproduktionsrate westsudanesischer Kartoffelkäfer.

Aber ich genoss es. Jede Minute davon.

Die ganze Situation hatte etwas Diebisches, etwas Verbotenes an sich. Tief in mir drin machte sich ein Gefühl breit, an das ich mich kaum mehr erinnern konnte. Zuerst wollte es mir nicht einfallen, doch dann wurde mir klar, womit sich dieses Gefühl am besten vergleichen ließ: Es war wie damals, als ich während eines Aufenthaltes im Schullandheim in Kommern meine erste Zigarette rauchte. Wir standen im Freilichtmuseum hinter einer antiken Scheune und pafften. Als wir dann wieder zu unserer Klasse stießen und uns nach einem kurzen Moment des Muffensausens klar wurde, dass unser Lehrer offenbar nichts von unserem kleinen Abenteuer mitbekommen hatte, waren wir kleinen Hosenscheißer alle stolz wie Oskar. Auch, wenn unsere Gesichter die Farbe von wässrigem Spinat angenommen hatten, und wir es kaum erwarten konnten, die nächste Toilette zu stürmen, waren wir die unbesungenen Helden des Tages. Ein ganz ähnliches Hochgefühl überkam mich jetzt, während ich in schmerzenden Schuhen auf der Couch lag und einen Dreck darum gab, ob sich das gehörte, oder nicht.

Finden Sie das lächerlich?

Ich auch.

Aber in dem Moment war es gut und richtig und vielleicht sogar wichtig für mich. Immerhin sagt man ja, es sei nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben! Ich muss zugeben: Ich genoss die Zeit. Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Wohl kaum.

Tja, und nun sind wir an einer Stelle meiner persönlichen Geschichte angelangt, deren Erzählung ich Ihnen (und vor allem mir selbst) liebend gern ersparen würde, doch die sogenannte Chronistenpflicht verlangt wohl von mir, auch von Dingen zu berichten, bei denen ich nicht allzu gut dastehe. Ich spreche von einem Abend, an dem ich mich wahrhaftig zum Affen machte, der aber nichtsdestotrotz einen Meilenstein in meiner persönlichen Geschichte darstellt. Nun, es gibt positive und es gibt negative Meilensteine. Ich meine, wenn man zum Beispiel nur mal die NASA nimmt, gibt es die erste Mondlandung, und es gibt die Challenger-Explosion. Der Abend, von dem ich Ihnen jetzt erzähle muss, fällt definitiv in die Challenger-Kategorie.

Der Termin der Abreise war nur noch wenige Tage entfernt und ich machte mir mal wieder ein Bier auf, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon mehr als genug getankt hatte. Es war halt einer dieser Abende, wenn Sie verstehen.

Ich nahm mir eine Tüte Chips, streckte mich genüsslich, zog mir ein paar Schuhe an und legte meine Füße auf die Couch. Ich trank einen Schluck, krümelte mit den Chips herum, zappte durch die Kanäle, trank erneut und schüttelte missbilligend den Kopf als mir klar wurde, dass eine riesige Anzahl an Fernsehsendern keinesfalls eine riesige Auswahl bedeuten musste. Aus Mangel an interessanten Fernsehübertragungen richtete ich meinen Blick langsam immer mehr auf mein eigenes Programm.

»Tja, Kruse. Da bist du wohl tatsächlich noch mal ein waschechter Single geworden«, raunte ich mir zu, während ich zufrieden seufzte und noch einmal den Bierpegel in meiner Flasche absenkte, »Freie Wildbahn... Robert der Junggeselle...« Noch ein schneller Schluck aus der Flasche. Warum hatte Karin eigentlich immer darauf bestanden, dass ich mein Bier aus einem Glas trank? Die Flasche war schließlich auch aus Glas, verdammt noch mal!

Ich will gar nicht über Gebühr auf die sonstigen Offenbarungen des nun folgenden Abends eingehen, denn wer schon einmal Alkohol getrunken hat, der weiß, dass man unter all den kleinen und großen Weisheiten eines solchen Abends selten etwas findet, das auch am nächsten Tag noch nach einer guten Idee klingt.

Wie dem auch sei, als ich etwa eine Stunde später zu meiner persönlichen Bestandsaufnahme schritt und das Badezimmer betrat, war ich voll wie ein Eimer und stramm wie eine Handbremse.

»Kruse«, blaffte ich den Typen im Badezimmerspiegel an, »Kruse, du biss ne Pfeife! Eine Pfeife bissu! Eine verkackte Pfeife! Ehe kaputt, Frau weg, alles im Arsch, du Pfeifenkopp!«

Wieder ein Schluck Pils, dann war die Flasche leer.

»Du wirst alt und fett wirst du auch, und die Schulze vom Personal hat neulich die kleine Weslowski in der Pause gefragt, wem eigentlich der Ersatzpimmel auf dem Parkplatz vom Kruse gehört... „Ersatzpimmel“ hat sie gesagt! Da zahlst du noch drei Jahre drauf ab, auf deinen Ersatzpimmel, Kruse!«

Ich hatte mir ein Motorrad gekauft. Nur so, gebraucht aber gut erhalten, mit Saisonkennzeichen für die Zeit von April bis Oktober, aber Karin hatte schon damals gesagt, dass sie keine zehn Pferde auf das Ding bekommen würden. Sie sagte damals auch, dass Männer, die in meinem Alter noch mit dem Motorradfahren anfingen, wahrscheinlich irgend etwas nachzuholen hätten, und das sie bei dem Anblick eines Mittfünfzigers in Lederkluft immer lachen müsse. Als ich sie fragte, warum, meinte sie, sie würde ja schließlich auch einem jungen Knackarsch mit Waschbrettbauch keine Hosenträger anziehen. Sie würde es begrüßen, so sagte sie, wenn die Herren „am anderen Ende der Skala“ sich ähnlich altersgemäß verhielten. Vielleicht ging die ganze Sache ja auch schon mit der Motorrad-Geschichte los, und die Tickets in die Karibik waren nur der berühmte Tropfen, der das Fass letztendlich zum Überlaufen gebracht hatte. Sah ich in der Motorradkutte wirklich so lächerlich aus? Karin war offenbar der Meinung, aber was wusste Karin schon? Karins Meinung war mit Karin zusammen in den Ruhrpott gezogen und konnte mir ab sofort völlig egal sein.

Mir konnte ab sofort im Grunde genommen so gut wie alles egal sein, ging mir auf. Alles, außer Robert, dem Junggesellen. Dem neuerdings allein lebenden Biertrinker auf Probe. Robert, dem Single, dem baldigen Karibikreisenden und Weltenbummler.

Noch ein Schluck aus der Pulle.

Die Flasche war noch immer leer. Seltsam.

Ich ging in die Küche, öffnete eine neue Düse, nahm einen tiefen Schluck und ging zurück ins Bad, wo ich mich wieder vor den Spiegel stellte.

»Pfeife!«

Ich hielt kurz inne als mir klar wurde, dass ich mich einerseits über meine neue Freiheit freute und mich für einen ziemlich coolen Typen hielt aber andererseits offenbar gerade dabei war, mich selbst verbal zur Schnecke zu machen. Interessant. Was war ich denn nun? Eine Pfeife oder ein cooler Typ mit Karibik-Ticket? Ich rülpste, blickte an mir hinunter, dann wieder zurück zu dem Kruse im Spiegel. Innerlich war ich scheinbar ziemlich gut drauf, aber der Typ im Badezimmerspiegel passte irgendwie nicht zu meiner inneren Coolness. Also war ich doch eine Pfeife. Zumindest äußerlich. Ich beschloss, mich über diese Erkenntnis zu informieren.

»Ne Pfeife bisse! Außerdem fängste an, zu lallen, du Besoffski...«

Ich musterte den Typen, der mir aus dem Spiegel entgegen glotzte. So richtig vertraut sah mir der Kerl eigentlich gar nicht aus. Das sollte ich sein? Noch ein schneller Schluck Bier.

»Wow«, murmelte ich, »Da is´ aber schon ganz schön der Lack ab, mittlerweile...«

Ich ging einen Schritt zurück, um eine etwas komplettere Ansicht meines Gegenübers zu bekommen, doch der kleine Badezimmerspiegel reichte nicht aus, um mich in der Totalen einzufangen. Über diese ganze besoffene Selbstbetrachterei kam mir eine interessante Frage in den Sinn: Wie zum Teufel sah ich eigentlich aus? Ich meine, wie sah ich wirklich aus? Jeder Mensch hat ein bestimmtes Bild von sich, dieses Bild ist aber extrem subjektiv eingefärbt! Jetzt, wo ich mich gerade alkoholbedingt nicht in meinem Kopf befand, ergab sich für mich vielleicht die Möglichkeit, mich mal von außen zu betrachten! Mich wirklich so zu sehen, wie es andere Menschen taten! Vielleicht war dies meine Chance, einen Blick auf den wirklichen Kruse zu werfen, den wahren Kruse, ohne die Filter von Scham und Vertrautheit, die man sonst immer bemüht, wenn man in einen Spiegel schaut! Man glotzt halt in den Spiegel und glaubt zu wissen, was man bekommt. Aber war das schon alles? Ich kannte im Grunde genommen nur das etwas älter gewordene Gesicht, das ich jeden Morgen wusch und rasierte. Und dann war da natürlich noch der leicht in die Jahre gekommene Kerl, den ich für einen kurzen Moment im Spiegel sah, wenn er aus der Duschkabine stieg.

Vor meinem geistigen Auge sah ich mich, tropfnass vor dem Spiegel stehend, während ich unbewusst meinen Bauch einzog. In letzter Zeit hatte ich mich öfter dabei erwischt, genau das zu tun. In der Regel pflegte ich in solchen Fällen, den Typen im Spiegel kurz anzugrinsen und dabei mitleidig den Kopf zu schütteln. Dann ließ ich den Bauch wieder raus – ohne genau hinzusehen, versteht sich – und trocknete mich ab.

Hier war noch ein Schluck Bier nötig. Offenbar war ich einer größeren Sache auf der Spur.

Ich wischte mir den Mund ab und versuchte erneut, mich einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, doch der Badezimmerspiegel war einfach zu klein. Für eine genauere Beurteilung meiner selbst waren andere Kaliber notwendig.

Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer stieß ich schmerzhaft mit dem Oberschenkel gegen die Ecke der Kommode, auf die wir immer unsere ungeöffnete Post legten. Ich war kurz davor, laut „Autsch“ zu sagen, verkniff es mir aber, weil ich halt gerade so männlich war.

Dann überkam mich eine Einsicht, die mir tatsächlich für einen Moment die Sprache verschlug: Wenn ich aus der Dusche stieg, den Bauch eingezogen, obwohl neben mir niemand im Raum war, den ich hätte bescheißen können, was bedeutete das dann?

Klare Sache!

Da außer mir niemand anwesend war, versuchte ich offensichtlich, mich selbst zu bescheißen. Es war exakt die selbe Nummer, die ich abgezogen hatte, als ich mir vor ein paar Sekunden das „Autsch“ verkniff, um vor mir selbst ein besseres Bild abzugeben.

War ich wirklich so weit den Bach runter? Konnte ich mich selbst nicht mehr im Spiegel ertragen, ohne vorher den Bauch einzuziehen? Hatte ich das wirklich nötig?

Verdammt, ja! Offensichtlich!

Das war Selbstbetrug in Reinkultur! Mein Gott, was war nur aus mir geworden? Ich hatte mir selbst jahrelang einen Robert vorgespielt, den es in Wirklichkeit gar nicht gab!

Aber damit würde jetzt Schluss sein. Ein für allemal. Wie sah ich eigentlich aus? Ich meine: Wie sah ich eigentlich WIRKLICH aus? Gütiger Himmel, ich hatte tatsächlich keine Ahnung!

Ich wollte noch einen Schluck trinken, aber die Flasche war schon wieder leer. Irgendwann würde ich etwas dagegen unternehmen müssen, wenn ich hier nicht verdursten wollte. Ich taumelte zurück in Richtung Küche. Der Kühlschrank war leer, aber da war noch eine Kiste Pils im Keller, von der ich eigentlich geglaubt hatte, ich würde sie frühestens am Wochenende anbrechen. Scheinbar war ich, zumindest meinen Bierkonsum betreffend, während der vergangenen Tage fleißiger bei der Sache gewesen, als ich vermutet hatte. Also nichts wie hinunter in den Keller. Mehr Bier musste her, denn ich war hier einer verdammt großen Angelegenheit auf der Spur, die – allem Anschein nach – mit Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit zu tun hatte.

So etwas kann nicht warten.

Als ich, mit ein paar Flaschen bewaffnet, wieder die steile Kellertreppe in Angriff nehmen wollte, fiel mir ein, dass in einem hölzernen Verschlag unter der Treppe ein großer Garderobenspiegel stehen musste. Karin hatte ihn vor Jahren mal als Teil eines alten – und wie wir damals noch glaubten – möglicherweise antiken Ensembles aus Schrank, Kommode und eben jenem Spiegel günstig erstanden, und im Laufe der Zeit hatten wir aus Platzmangel alles Stück für Stück auf den Sperrmüll gestellt.

Alles, bis auf den großen Spiegel.

Sollte ich mich wirklich trauen?

Ja. Ich musste es geradezu tun. Es war jetzt oder nie.

Wenn ich hier schon eine Art besoffener Selbsterkenntnis praktizierte, dann wollte ich es auch bis zum bitteren Ende tun. Ich fand den Spiegel auf Anhieb. Seine Ränder waren an verschiedenen Stellen bereits ein wenig milchig und blind geworden aber für meine Zwecke würde er ausreichen. Um mir die Schlepperei zu ersparen, lehnte ich ihn gleich hier im Keller gegen eine Wand, trat ein paar Schritte zurück, um mich in voller Größe bewundern zu können und begann damit, mich auszuziehen. Ich nahm noch einen tiefen Schluck, denn das hier würde nicht leicht werden. Das war mir klar.

Zuerst riss ich mir förmlich das Hemd vom Leib. Die Szene hätte etwas erotisches an sich gehabt, wären es die Chippendales gewesen, die sich das Hemd vom durchtrainierten Körper gerissen hätten. Ich war aber nicht die Chippendales, ich war der Kruse aus der Lohnbuchhaltung, der Reihenhausheld mit dem Ersatzpimmel auf dem Parkplatz. Das war zweifellos überhaupt nicht chippendalig, es war in seiner unfassbaren Karlheinzhaftigkeit schon beinahe bemitleidenswert.

Um genau solche Einsichten ging es hier.

Es war an der Zeit, mir selbst so einiges einzugestehen. Deshalb stand ich leicht knülle im Keller. Deshalb war ich hier und deshalb würden jetzt Fakten geschaffen werden. Jetzt waren Schuhe, Hose, und schließlich die Socken an der Reihe. Beim Unterhemd hielt ich noch einmal kurz inne, um einen Schluck zu trinken.

Dann war ich soweit.

Ich hatte bereits die Hände am Saum, bereit, mir das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, da schaute ich noch einmal meinem Spiegelbild in die Augen.

»Showtime«, murmelte ich.

Mein Hemd wölbte sich in Bauchhöhe kräftig nach außen. Aber diesmal machte ich mir nicht die Mühe, den Bauch einzuziehen. Es war so weit. Es gab keinen Weg zurück. Ich zog mir das Hemd über den Kopf, und dann glitt mit meiner Unterhose das letzte Stück Stoff, das meinen Körper noch bedeckt hatte, auf den Kellerboden.

Nun stand ich da, wie Gott mich geschaffen, oder besser: wie mein Leben mich in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren geformt hatte. Ich starrte mich an. Frontal, splitternackt, ungeschönt, im gleißend hellen Licht der Neonröhre in meinem Reihenhauskeller.

Mein Gott, das war also ICH.

Ich, ohne jede Maskerade. Da war er. Der ganz private Robert Kruse. Ich schaute den nackten Mann im Spiegel an, während ich hämisch applaudierend in die Hände klatschte. Dann wurde mir bewusst, wie dämlich das aussehen musste, also ließ ich es wieder sein.

»Meine Damen und Herren«, dröhnte ich, »Ich präsentiere Ihnen Robert Kruse! Den Mann, der es schaffte, sich im Spiegel anzuschauen, ohne sich dabei ernsthaft zu verletzen! Ich bitte um Ihren Applaus!«

Zaghaft machte ich einen – eher wissenschaftlichen – Versuch, meine Muskeln anzuspannen. Als der eher wissenschaftliche Versuch nicht die gewünschten Resultate erbrachte, versuchte ich es mit etwas mehr Elan.

Nichts tat sich. Oder zumindest nicht genug.

Es hatte einmal Zeiten gegeben, in denen ich regelmäßig Sport getrieben hatte. Wann war das noch mal? Kurz nach dem Meteoriteneinschlag, der die Saurier gekillt hatte? Zumindest sah ich so aus.

»Mann, Mann, Mann... Du musst Zukunft besser auf dich achten, mein Freund.«

Ich bückte mich nach der Bierflasche, die auf dem Boden stand und machte dabei Geräusche, wie ein sterbender Elch. Als ich mich wieder aufgerichtet hatte, atmete ich tief durch, nahm einen kräftigen Schluck, schaute wieder in den Spiegel und da fügte sich das komplette Bild des Grauens zusammen.

Plötzlich war der Selbsthass da.

Was ich sah, war ein fetter, untrainierter Mittfünfziger, der, schwankend und angesoffen, splitternackt in seinem Keller stand und mit glasigem Blick und einer Bierflasche in der Hand in einen milchig-trüben Spiegel glotzte.

Ich war zu einem der Typen geworden, die ich in Jugendjahren immer zutiefst verachtet hatte. Ich war ein langweiliger, spießiger, farbloser Kombifahrer-Arsch! Ich war ein abstoßendes, graues, altes Bügelfaltenhosen-Kegelklub-Sackgesicht, ein Möchtegernbiker mit Saisonkennzeichen, ich war ein richtiger „Erwachsener“.

Kein schöner Anblick.

Der Fettsack im Spiegel rülpste und wischte sich mit dem Handrücken über die obere Hälfte seines beginnenden Doppelkinns.

Nein, nicht der Fettsack. Ich. Und es war mein beginnendes Doppelkinn.

Es war an der Zeit, einzusehen, dass der unsympathische Typ im Spiegel kein Anderer war, als ich selbst. Damit würde ich halt leben müssen, auch wenn es mir noch so sehr gegen die Ehre ging.

Der Fettsack war ich.

In diesem Moment beschloss ich, ich wolle verdammt sein, wenn es mein beginnendes Doppelkinn jemals zu einem vollendeten Doppelkinn bringen würde. Ich würde etwas dagegen unternehmen. Und zwar sofort. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und machte einen Schritt zurück. Dann grätschte ich leicht die Beine, um meinem mittlerweile recht wackeligen Stand eine etwas zuverlässigere Statik zu verleihen.

Wie war das nochmal, damals im Sportunterricht? Die Arme ausbreiten und dann versuchen, mit der rechten Hand an den linken Fuß zu gelangen? Ja, das klang richtig. Ich versuchte es, gelangte aber nur bis auf Kniehöhe an mein Ziel heran, denn ich war in etwa so elastisch, wie eine ICE-Trasse. Mein missglückter Versuch amüsierte mich auf eine peinliche, fremdschämerische Art und Weise. Eine Art kranke Belustigung, so etwas, wie Schadenfreude, weil ich es so weit hatte kommen lassen.

Ich ging einen Schritt nach vorn. Der Schlaffsack im Spiegel auch. Wir standen uns jetzt ganz dicht gegenüber. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast.

Ich raunte: »Sieh dich doch bloß an.... ekelhaft.«

Der Spiegelkruse bewegte seine Lippen synchron zu meinen und schaute mir tief in die Augen. Sein Blick war ziemlich abwertend. Außerdem schien der Typ besoffen zu sein. Für eine Minute standen wir nur da und starrten uns an. Ich kam mir saublöd vor. Außerdem wurde mir langsam kalt.

»Dann beweg den Hintern, du fauler Hund«, feuerte ich mich an, »Dann wird dir auch warm!«

Als ich einen Schritt zurück machte, um mehr Platz für meine geplanten Übungen zu haben, fiel mir auf, dass der Typ im Spiegel (Du, Kruse!) schon wieder den Bauch eingezogen hatte. Ich hatte schon wieder vor mir selbst den Bauch eingezogen, und ich hatte es noch nicht einmal bemerkt! Wie nannte man das noch mal? Einen Automatismus? Ich hatte mich darauf trainiert, vor mir selbst den Bauch einzuziehen und diese Konditionierung hatte so hervorragend funktioniert, dass ich es nicht mal mitbekam!

Ich kam mir vor, wie Pawlows Hund! Der Hund bekam bei irgendeinem Experiment immer dann Futter, wenn im Hintergrund eine Glocke läutete. Irgendwann reichte es dann aus, eine Glocke ertönen zu lassen, um bei dem Hund den Speichelfluss zu steigern, auch, wenn gar kein Futter in Sicht war. Er war darauf konditioniert worden, beim Klang der Glocke seinen Speichelfluss zu erhöhen. Und Robert Kruse, Lohnbuchhalter und neuerdings selbstkritischer Beobachter körperlicher Verfallserscheinungen, hatte sich darauf konditioniert, vor Spiegeln den Bauch einzuziehen.

Das war der Hammer! Aber ich würde mir das ganz schnell wieder abautomatismussieren! Vorbei! Aus und vorbei! Ab sofort würde Schluss sein mit dem Selbstbetrug, mit der Sauferei, mit dem ganzen verdammten alten Kruse. Es würde nie wieder zu einer solchen Erniedrigung kommen, wie ich sie heute im Laufe des Abends vor mir selbst hatte erfahren müssen. Ich würde Dinge ändern. Ich würde mich ändern. Und ich würde es jetzt tun. Warum warten? Warum nicht gleich mit dem Training beginnen und die Energie, die ich sonst dazu benötigte, vor mir selbst die Wampe einzuziehen, positiv nutzen? Ich beschloss, mit Rumpfbeugen anzufangen. Hier und jetzt.

Eins...

und zwei... (Na, also! Geht doch!),

und dreiii...,

und viiieeeerr..............,

und füüüüüüünnf...............,

und seeeeeeeeechssss.......................,

und sieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeben.....................,

»Robert!«

(Nein! Oh großer Gott, nein! Bitte, bitte nicht! Nein!)

»Robert, kannst du mir mal sagen, was das hier werden soll, wenn´s fertig ist?«

Es war zurück.

Mitten in der Nacht stand ich, in einem Meer leerer Bierflaschen, splitternackt und sturzbesoffen im Keller vor einem mannshohen Spiegel und streckte meiner verloren geglaubten Ehefrau im kalten Licht der Neonröhre den blanken Arsch entgegen.

Es gibt Momente, denen kannst du einfach keine Würde einhauchen. Ich versuchte es trotzdem. Eigentlich war die Situation nicht zu retten, aber ich versuchte, die Tatsache, dass ich nackt vor einem Spiegel stand, all die leeren Flaschen und meine Überraschung über die Rückkehr meiner Gattin, möglichst nonchalant zu übergehen.

»Robert! Ich rede mit dir!«

»Ach, hallo Karin! Wie geht´s deiner Mutter?«

»Entschuldige... mit welchem deiner Enden rede ich denn im Moment?«

Ich versuchte, mich möglichst leise und ohne knackende Geräusche wieder zu voller Größe aufzurichten. Mein Rücken tat weh, aber ich hätte mich in diesem Moment lieber mit benzingetränkten Hosen auf einen Grill gesetzt, als mir die Schmerzen anmerken zu lassen. Warum war sie nicht bei der ersten oder zweiten Rumpfbeuge aufgetaucht? Musste sie unbedingt bis zu achten oder neunten warten?

Typisch Karin.

»Robert, ich frage dich, was du hier für eine Nummer abziehst! Und ich verlange eine Antwort! Das ist noch immer auch mein Haus!«

Sie stand auf der obersten Stufe der Kellertreppe und schaute so interessiert auf mich herab, wie sich ein Professor, das muntere Treiben irgendwelcher Einzeller in einer Petrischale anschauen mag. Ich stand nackt inmitten des Gerümpels vor einem großen Spiegel und hielt mir reflexartig die Hände zwischen die Beine. Ich spürte das Blut hinter meinen Schläfen pochen und ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Noch dazu spürte ich, dass ich heftig errötete. Und das vor meiner eigenen Frau.

Meine neu gewonnene Männlichkeit sagte leise „Servus“, griff sich ihren Mantel und und verpuffte in einem Wölkchen aus Testosteron und Wunschdenken.

Im Flur, oben im Erdgeschoss, hörte ich, wie die Eingangstür zugeschlagen wurde. Dann Schritte im Flur.

»Karin, kann ich den Wagen gleich vor der Tür parken? Ich glaube nämlich, vor eurer Tür ist Parkverbot, und ich... großer, allmächtiger Gott!«

»Hallo, Margot! Schön, dass du auch mal reinschaust!«

Ich versuchte, ein wenig zu winken, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, da ich gerade keine Hand frei hatte. Außerdem hatte ich das sichere Gefühl, dass Margot Hauser ohnehin keinen besonders freundlichen Empfang erwartet hatte.

Karin zeigte mit dem Finger auf mich. »Mama, da unten steht der Mann«, bei dem Wort Mann verzog sie verächtlich das Gesicht, »dem ich vor vielen Jahren die Treue schwor!«

»Reg´ dich nicht so auf, mein Kind. Das ist es nicht wert. Und es ist ja jetzt auch vorbei.«

Das Schwiegermonster schaute auf mich herab und schüttelte leicht den Kopf. Die für die Ewigkeit konservierte Dauerwelle bewegte sich keinen Millimeter. Es war schon irgendwie interessant, die beiden da oben zu sehen. Die Eine in Haltung und Gesichtsausdruck eine perfekte Kopie der Anderen.

»Mama, es tut mir leid, aber ich glaube, ich habe damals auf dem Standesamt noch nicht gewusst, was für ein Mensch da eigentlich vor mir stand!«

Sie schaute mich, den Spiegel und all die leeren Bierflaschen an. Dann ging ihr Blick wieder zurück zu dem Spiegel.

»Perverses Schwein!«

Danach drehte sie sich um, stieß ihre Mutter zur Seite und verschwand durch die Kellertür aus meinem Blickfeld. Mama blieb noch ein paar Sekunden auf der obersten Stufe in der offenen Tür stehen. Jetzt zu gehen wäre für sie gewesen, als würde man bei der Oscar-Verleihung die Preisträgerin für die beste weibliche Hauptrolle bitten, ohne Dankesrede die Bühne zu räumen.

»Wir alle machen Fehler, Schatz«, sagte sie gönnerhaft, löschte mit einer lässigen Handbewegung das Licht im Keller, warf die Tür hinter sich zu und ließ mich in der schwarzen Finsternis zurück. Das Knallen der Tür hallte noch einen kurzen Moment von den kahlen Kellerwänden zurück, dann war es still.

Ich war mir meiner Situation durchaus bewusst. Momentan stand ich nicht allzu gut da.

Dann hörte ich die Schritte, die die Schöne und das Biest im Erdgeschoss taten. Sie schienen in der ganzen Wohnung hin und her zu laufen. Ich konnte mir vorstellen, was da vor sich ging: Sie packten noch ein paar von Karins Sachen zusammen. Ich stand noch immer peinlich berührt im Keller, hielt meine privaten Teile in Händen und begann wieder, zu frieren.

Licht! Ich brauchte Licht! Licht, um meine Klamotten zu finden, um mich anzuziehen, nach oben zu gehen und verdammt noch mal klare Verhältnisse zu schaffen! Schließlich war das hier mein gottverdammter Keller, mein gottverdammter Spiegel und nicht zuletzt meine gottverdammten Genitalien, und die konnte ich mir in meinem eigenen gottverdammten Haus so ausgiebig und so lange festhalten, wie ich das wollte! Und wenn ich mich dabei im Spiegel betrachten oder gar Turnübungen machen wollte, dann konnte ich das, verdammt noch mal, auch!

Ich war überrumpelt worden! Die Sache war nicht fair! Das mobile Tochterschutzkommando Wanne-Eickel hatte einen Zufallstreffer gelandet. Das war alles. Ein Punkt für den Drachen. Aber jetzt war Robbie am Zug!

Meine Herren, jetzt war ich auf Schub. Mit ausgestreckten Armen tastete ich mich durch den dunklen Keller und musste dabei an Das Schweigen der Lämmer denken, den Film, in dem sich die FBI-Agentin durch einen Keller tastet, während der Serienkiller sie die ganze Zeit aus nächster Nähe mit einem Nachtsichtgerät beobachtet. Mir ging es in einer Hinsicht besser, als Clarice Starling: Ich wusste verdammt genau, wo sich das Monster befand. Es war im Erdgeschoss und hielt meiner Frau feixend den Koffer auf, während Karin penibel gefaltete Kleidungsstücke hineinlegte.

Während ich mich mit blinden Augen und ausgestreckten Armen langsam in Richtung Kellertreppe vortastete, meldete mein dicker Zeh voller Enthusiasmus, dass er soeben die unterste Stufe gefunden hatte. Es tat höllisch weh, und für einen Moment hätte ich schwören können, er sei gebrochen. Ich zog das linke Bein an, um mir den schmerzenden Zeh zu reiben, da meldete sich der Alkohol zurück. Ich verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem rechten Ellenbogen hart auf einer der höheren Stufen auf, was mich augenblicklich und äußerst effektiv von meiner wie wild pochenden Zehe ablenkte.

Ich hatte wirklich auserlesene Schmerzen. Ich hoffte, dass ich mir etwas ernsthaft Schlimmes zugezogen hatte. Etwas, das ich einem Anwalt schildern konnte, um dieser Furie den letzten Cent aus der Tasche zu klagen. Oh, Gott, hoffentlich war mein Arm gebrochen! Ich humpelte die Treppe hoch, zählte dabei die Stufen und tastete dann nach der Tür. Ich fand sie und schließlich auch den Lichtschalter.

Licht an.

Die Treppe wieder hinunter.

Schnell die Klamotten aufsammeln.

In die Hose steigen.

Der Rest der Kleidung konnte warten.

Ich hatte nicht vor, Karin und dem Ding aus einer anderen Welt einen Antrag zu machen. Ich wollte nur irgend etwas am Körper tragen, wenn ich ihnen den Abriss ihres Lebens verpasste.

Hose zu, zurück zur Treppe.

Ich war gerade etwa auf halber Höhe, als ich aus dem Erdgeschoss schallendes Gelächter hörte. Es war Karin. Sie schrie förmlich vor Begeisterung. Ich konnte nur davon ausgehen, dass das Homo-Hauser-Wesen meiner Noch-Gattin noch einmal die Situation im Keller zurück in Erinnerung gerufen hatte.

Sehr witzig. Unheimlich witzig.

Ich lächelte. Mal sehen, ob die pudelplättende Betonfrisur das, was jetzt käme, auch so witzig finden würde! Auftritt des neuen und verbesserten Robert Kruse!

Ich hörte die Haustür ins Schloss fallen. Wie der Blitz rannte ich die letzten Stufen hoch, stieß die Tür auf und hechtete durch das Esszimmer in Richtung Hauseingang. Als ich draußen ankam und durch den Vorgarten rannte, sah ich gerade noch, wie Karin die Beifahrertür des roten Golf zuknallte. Das Licht im Inneren des Wagens erlosch. Der Motor war noch warm und sprang bei der ersten Zündung an.

Ich humpelte mit meiner geschwollenen Zehe den Bürgersteig entlang und schrie, so laut ich konnte:

»Heh! So einfach geht das nicht! Werdet ihr wohl hierbleiben! Ihr steigt sofort aus dem verdammten Auto und hört mir zu! Stehenbleiben, verdammt noch mal!«

Ich sah die Rücklichter des Wagens aufleuchten.

Blinker links.

Ein kurzes Klicken. Erster Gang.

»Halt! Stehenbleiben! Werdet ihr wohl stehenbleiben, verdammt!«

Der Wagen fuhr los. Sie fuhren wirklich los! In Anbetracht der Lage sah ich mich gezwungen, meine Strategie zu ändern.

»Haut bloß ab, hier!«

Margot hupte zum Abschied. Vielleicht hat auch Karin vom Beifahrersitz aus auf die Hupe gedrückt. Das sah ihr ähnlich. Als die beiden unter der nächsten Straßenlaterne durchfuhren, konnte ich sehen, wie Karin zurückschaute und winkte.

Ja, ich glaube, es war wohl Karin, die gehupt hat.

Ich stand, mit einem böse verstauchten Zeh und einem immer größer werdenden blauen Fleck am Ellenbogen, auf der regennassen Straße und sah zu, wie die Rücklichter von Margots Golf immer näher zusammenrückten, bis sie schließlich nach rechts abbog und die roten Punkte in der Nacht verschwanden. Ich blieb frierend auf dem Bürgersteig zurück. Barfuß, gedemütigt und mit freiem Oberkörper nebst Bauchansatz schaute ich die nun leere Straße hinunter und betrachtete innerlich die Scherben meines bisherigen Lebens.

»N´abend, Herr Kruse! Na, alles klar?«

Frau Reimann, meine extrem übersichtlich bekleidete Nachbarin. Sie führte vor dem Schlafengehen ihren Schäferhund „Rasputin“ ein letztes mal Gassi.

»Was?«

»Bitte?«

»Ich sagte: Was?«

»Äh... nichts weiter! Nur guten Abend und wie geht´s... Nichts weiter.«

Ich seufzte. Hier gab es einiges klarzustellen.

»Frau Reimann...«

»Ach, sagen Sie doch Carola! Alle sagen Carola!«

»Danke. Ich bin Robert.«

»Robert? Ist ja süß. Ich mag Männer mit so alten Namen. Das hat man ja heute gar nicht mehr, dass so alte Namen...«

»Carola, Sie sagten gerade „Guten Abend“, wenn ich mich recht erinnere?«

»Ähm... ja. Ja, ich glaube schon. Und dann haben Sie mich Frau Reimann genannt, und ich sagte...«

»Ja, ich weiß, was Sie sagten.«

Ich machte eine Geste, die ihr klarmachte, dass Sie jetzt Funkstille hatte und holte tief Luft.

»Schauen Sie, ich stehe hier, mit Schmerzen im Fuß und im Arm. Meine Frau hat mich soeben unter höchst peinlichen Umständen verlassen, ich trage kein Hemd und habe festgestellt, dass ich langsam aber sicher einen stattlichen Bauch bekomme, eine Tatsache, die auch ihnen wahrscheinlich nicht entgangen sein dürfte, da ich ja kein Hemd trage.«

»Ähm... Tja, wissen Sie...«

»Nein, ich bin noch nicht fertig, Carola. Wo war ich? Ach ja. Der Köterkiller aus Wanne-Eickel. Richtig! Meine Schwiegermutter hat mich erniedrigt, und mein Motorrad ist zu teuer und darüber hinaus derart peinlich und unpassend für einen Mann wie mich, dass sich meine Kolleginnen hinter meinem Rücken über mich kaputt lachen. Ich sage nur: „Ersatzpimmel“. Nein, Carola, bleiben Sie bitte stehen! Ich habe mein Haus mit einer nicht zu verachtenden Hypothek belegt, um meiner total überdrehten Frau, die gerade ins ferne Wanne-Eickel abgerauscht ist, um mit ihrer Mutti anstatt ihres Mannes zu leben, ein schönes Heim zu bieten...«

Klick

»... zu dem gerade die Tür ins Schloss gefallen ist. Ich habe natürlich keinen Schlüssel dabei, nein, ich trage ja noch nicht einmal Unterwäsche, weil ich nur schnell nach draußen gesprungen bin, um meiner Frau und dem Nest voller Vipern, dem sie entstammt, ein paar Gehässigkeiten an den Kopf zu werfen. Frau Reimann, Carola, in Anbetracht all dieser Tatsachen, finden Sie wirklich, es macht auch nur den geringsten Sinn, mir einen guten Abend zu wünschen? Ich persönlich glaube ja nicht so recht daran, aber wenn Sie da anderer Meinung sind, lasse ich mich gerne überzeugen. Bitte, Carola, legen Sie los!«

Ich baute mich vor Frau Reimann auf, den Bauchansatz stolz herausgestreckt, die Arme über dem eingefallenen Brustkorb verschränkt, und wartete auf eine Antwort.

Sie nahm Rasputin etwas enger an die Leine.

»Äh... ja, also... ich konnte ja nicht ahnen, dass... also... wissen Sie, dass Sie da am Arm einen ganz schön dicken Bluterguss haben?«

»Ja, das ist mir nicht entgangen.«

»Ich dachte halt, wenn Sie momentan so viel um die Ohren haben...«

»Danke.«

»Ja.«

Rasputin gähnte ausgiebig. Dann legte er sich auf den Gehsteig und begann, sein Interesse von unserer Unterhaltung abzuwenden, um sich nunmehr voll auf die Reinigung seines Hinterteils zu konzentrieren. Er schien sich nicht mehr für unser Gespräch zu interessieren, ich jedoch war mit unserem nachbarschaftlichen Meinungsaustausch noch nicht durch. Ich fühlte mich alt, verlassen, fett und nicht mehr begehrenswert. Ich war von dem coolen und draufgängerischen Single-Kruse als der ich eigentlich wiedergeboren werden wollte so weit entfernt, wie nur menschenmöglich.

Hier stand ich nun also, vor einer mir nahezu gänzlich fremden Frau meines Alters. Eigentlich konnte ich sie ja mal fragen, was sie so von mir hielt.

Von mir als Mann, meine ich.

Ich hatte nichts, überhaupt nichts, zu verlieren. Nicht heute. Nicht mehr. Das hatte ich bereits erledigt. Wenn heute schon der Tag der Wahrheit sein sollte, dann auch bitte mit Pauken und Trompeten.

Meine Nachbarin schaute leicht verunsichert zu Rasputin hinunter, doch der Schäferhund war mit seinen rektalen Hygieneproblemen beschäftigt und stand daher seinem Frauchen für Verhaltensratschläge momentan nicht zur Verfügung.

»Carola, ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen, und ich möchte gerne von Ihnen eine ehrliche Antwort hören. Werde ich die wohl bekommen?«

»Tja, also Herr Kruse... Roland...«

»Ich heiße Robert, Christine.«

»Carola!«

»Ich weiß. Ich wollte nur einen Witz machen.«

»Wissen Sie, Sie werden sich den Tod holen, wenn Sie hier bei dem Wetter so halbnackt auf der Straße stehen.«

»Werden Sie mir ehrlich antworten? Ja, oder nein?«

»Also, ich weiß ja nicht... wenn Sie nun unbedingt wollen... ja, gut.«

Ich stützte meine Hände in die Hüften, beugte mich leicht zu ihr hinunter und schaute ihr tief in die Augen.

»Finden Sie mich als Mann begehrenswert?«

»Aber natürlich finde... bitte?«

»Ob Sie mich begehrenswert finden! Das möchte ich gerne von Ihnen wissen.«

»Begehrenswert? Wie meinen Sie das?«

»Na, was „begehrenswert“ eben heißt! Begehrenswert im Sinne von: es wert, von Jemandem begehrt zu werden! Begehrenswert, eben! Finden Sie mich begehrenswert?«

Sie schaute über ihre Schulter und blickte sich nach allen Seiten um. Scheinbar wollte sie sichergehen, nicht belauscht zu werden.

»Sie meinen sozusagen...«, ihre Stimme senkte sich zu seinem Flüstern, »...sozusagen Sex und so weiter?«

Nebenan, in der Küche von Frau Kampnagel erlosch das Licht, und ich hörte, wie ein Fenster gekippt wurde. Aber das Mensch gewordene Überwachungssystem unserer Nachbarschaft konnte mich mal.

»Ja. Keine Angst, Sie müssen es nicht tun, verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ich möchte nur wissen, ob Sie es sich vorstellen könnten, mit jemandem wie mir etwas anzufangen.«

»Vorstellen?«

»Ja, vorstellen.«

Sie schaute verlegen zu Rasputin, dann ging ihr Blick an mir vorbei und sie stammelte verlegen: »Vorstellen kann ich mir das schon... so vor meinem geistigen Auge, halt.«

»Aha. Vorstellen können Sie es sich also schon.«

»Ja. Vorstellen. Ich dachte, das hätten Sie gefragt.«

»Richtig. Das habe ich in der Tat.«

»Vorstellen, eben... So in der Phantasie. Na, Sie wissen schon. Geht es Ihnen auch wirklich gut?«

»Nein, es geht mir ganz und gar nicht gut, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich hätte noch eine einzige Frage, dann lasse ich Sie wieder gehen. Darf ich?«

»Ja, bitte. Fragen Sie.«

Sie zog Rasputin, der sich scheinbar durch die Unterbrechung seiner Reinigungsarbeiten gestört fühlte, an der Leine hoch und hielt ihn dicht an ihrem Bein.

»Können Sie sich auch vorstellen, auf dem Rücken eines zahmen Drachens durch die Wolken Timbuktus zu fliegen und dabei ein Kleid aus Gold zu tragen?«

Ihr Blick hellte sich auf. »Klar!«

»Ich danke Ihnen.«

»Keine Ursache.«

Sie nahm Rasputin, der durch das überraschend schnelle Ende der Unterhaltung übertölpelt worden war und noch immer versuchte, an sein Hinterteil zu gelangen, und machte sich wieder auf den Weg. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und schaute sich noch einmal um.

»Kann ich vielleicht irgendetwas für Sie tun? Ich meine, wenn Ihre Frau jetzt nicht mehr da ist, und Sie nicht zum Einkaufen kommen, oder so... Also... rufen Sie mich ruhig an, wenn ich was für Sie erledigen kann, okay?«

»Fahren Sie mit mir in die Karibik.«

»Bitte?«

»Sie sollen... Ach, vergessen Sie´s.«

Sie winkte andeutungsweise und ging dann weiter, während ich mir überlegte, wie ich nun an einen Schlüsseldienst kommen sollte, der mich wieder in mein trautes Heim lassen würde.

Bereits drei Stunden später befand ich mich wieder in meinem Wohnzimmer. Es ist einfach unfassbar, dass ein Geschäft, in dem man so viel Geld verdienen kann, so spärlich besetzt ist.

In einem verzweifelten Versuch, meine Ehe vielleicht doch noch zu retten, beschloss ich, mitten in der Nacht noch einen Anruf in Wanne-Eickel zu wagen. Ich wusste, dass es eigentlich viel zu spät war, jedoch malte ich mir gewisse Chancen aus, durch die nächtliche Ruhestörung die Ernsthaftigkeit meiner Bemühungen unter Beweis zu stellen. Ich musste ja niemandem auf die Nase binden, dass ich die letzten drei Stunden zitternd und bibbernd auf der Straße gesessen hatte. Genau so gut konnte ich mir die vergangene Zeit als Phase der Nachdenklichkeit und der inneren Einkehr gutschreiben lassen. Ich wählte die Nummer und atmete tief durch.

Tuuut.....

»Hauser!«

Das kam schnell. Viel zu schnell.

»Ja, hier ist noch mal Robert! Gib mir doch bitte mal schnell die...«

»Ruf sie auf Ihrem Handy an, du Geizhals!«

KLICK.

Alles klar.

So verlief die endgültige Trennung zwischen mir und meiner Frau. Wenn Ihnen jemand, der in Scheidung lebt, erzählen sollte, er habe sich mit seiner Frau in Ruhe zusammengesetzt, die ganze Sache bei einer guten Flasche Wein und einem Teller Käsewürfel durchgesprochen und sich mit ihr darauf geeinigt, dass eine Trennung wahrscheinlich die beste Lösung für alle Beteiligten sei, so hat er Sie angelogen. Sollte er Ihnen bei dieser Gelegenheit auch noch erzählen, dass er sich noch heute regelmäßig mit seiner Ex trifft, Kaffee mit ihr trinkt und sich jetzt viel besser mit ihr versteht, als zu Zeiten ihrer Ehe, dann können Sie ihm gerne die Nase nach hinten hauen. Sagen Sie ihm einen schönen Gruß von Robbie dem Schrecklichen. Eine Trennung ist eine schmerzhafte, peinliche und vor allen Dingen eine teure Angelegenheit, wie ich kurz darauf feststellen musste.

Der Kruse

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