Читать книгу Der Kruse - Burkhard Simon - Страница 14
Sechstes Kapitel
Оглавление- - - -
„Der Zufall ist vielleicht das Pseudonym Gottes,
wenn er nicht unterschreiben will.“
(Anatole France)
Ich denke, jetzt haben Sie eine relativ gute Vorstellung davon, wie ich mich damals fühlte.
Ich war halt ein echt cooler Single, extrem männlich, und ich hatte durch die Angelegenheit mit dem Anwaltsschreiben und meiner nächtlichen Motorrad-Tour ein Erlebnis genossen, das mir ein völlig neues Selbstwertgefühl verlieh.
Drei Tage später befand ich mich bereits an Bord der Sonne des Südens, und ich kann Ihnen sagen, dass das Schiff exakt so aussah, wie es die Broschüren und das Plakat im Eingang des Reisebüros versprochen hatten. Es war wahnsinnig groß, wahnsinnig luxuriös und wirklich verdammt cool. Ein schwimmendes Riesenhotel, umgeben von einem schlicht unendlichen Pool von Küste zu Küste, von Kontinent zu Kontinent.
Wenn ich nun sage, dass wir uns drei Tage später in unserer kleinen Geschichte befinden, ist das allerdings nur eine grobe Schätzung, denn Zeit ist – wie schon Einstein feststellte – eine ziemlich knifflige Sache, vor allem, wenn man bedenkt, dass außer den Faktoren der Bewegung im Raum, der Gravitation und der von den Menschen eingerichteten Zeitzonen, auch noch der Faktor des persönlichen Erlebens dazukommt.
Es ist bei weitem nicht nur die Zeitverschiebung, die einen bei einer Reise in die Vereinigten Staaten fertig macht. Der Übertritt in eine andere Zeitzone hilft zwar nicht unbedingt aber was einem richtig zusetzt, sind die Bekanntschaften, die man auf einer solchen Reise zu schließen gezwungen ist.
Ich war aufgekratzt, wie ein Kind vor seiner Geburtstagstorte, als ich in Frankfurt in den Flieger stieg. Immerhin war der Tag meiner Abreise ja tatsächlich mein Geburtstag (eine weitere Finesse, die Karin scheinbar nicht zu würdigen wusste), und so fand ich es nur angemessen, ein wenig zu feiern. Ich hatte einen angenehmen Flug in die Staaten, (den ich meist schlafend verbracht hatte) und einen mehrstündigen Zugtransfer durch die Nacht hinter mir, während dem mir klar wurde, dass eine Buchung im Schlafwagen nicht zwingend bedeuten muss, dass man auch tatsächlich schlafen wird.
In den Abteilen links und rechts von mir hatte sich ein Duisburger Kegelclub eingenistet, der den Begriff Schlafwaggon nicht ganz so eng definierte, wie ich es gerne getan hätte. Zwar schien die Kegelbrüder meine Anwesenheit inmitten „ihres“ Waggons nicht weiter zu stören, sie unternahmen aber andererseits auch nichts, um mich wissen zu lassen, dass ich in ihrer Mitte willkommen war. Genau genommen nahmen sie mich überhaupt nicht zur Kenntnis. Weder mich, noch meine gelegentlichen Versuche, um Ruhe zu bitten. Meine völlig zugedröhnten Nachbarn feierten, als sei es der letzte Tag vor dem Weltuntergang. Ich erinnere mich daran, ein Mitglied des Kegelclubs auf dem Gang getroffen zu haben. Ich erinnere mich auch, dass ich ihm fest in die Augen sah und ihm mit drohendem Zeigefinger sagte, dass sich außer den Mitgliedern von „Schwung Hält Jung 1973 e.V.“ noch andere Reisende im Zug befänden, die vielleicht ein wenig Ruhe bräuchten.
Der Kegler (übrigens sehr hübsch geschmückt mit einer gehäkelten Klopapierhaube als Mütze auf dem Kopf) schien sehr betroffen von der Nachricht. Er entschuldigte sich kumpelhaft für die Unachtsamkeit seiner Kollegen und drückte mir eine Dose Bier in die Hand.
»Für dich, Alter! Sorry, ich dachte, wir hätten den ganzen Wagen gebucht! Einfach Gummi geben, Alter! Heute treten wir mal ordentlich auf den Pinsel, was?«
Dann fing er an, seine Hymne zu grölen (»Sieh die Kegel, wie sie fliegen, Schwung Hält Jung spielt um zu siegen...«) und schwankte hinfort in Richtung Barwaggon.
An diesem Punkt begann ich, mir ernsthaft Gedanken über das Vergehen der Zeit zu machen. Ich war um 10:45 Uhr in Frankfurt gestartet und obwohl ich gute zehn Stunden in der Luft verbracht hatte, war ich schon um 14:50 Uhr gelandet!
Unfassbar, oder?
Das bedeutete, dass ich in dem Moment, in dem ich schließlich beschloss, meinen Widerstand aufzugeben und einfach mitzufeiern, zwar schon seit achtundzwanzig Stunden unterwegs war, aber nach amerikanischer Zeit noch immer den fünfzehnten August erlebte. Ich hatte noch immer Geburtstag!
Ich öffnete das Bier, nahm einen Schluck und stellte überrascht fest, dass ich eigentlich – obwohl todmüde – innerlich ziemlich aufgekratzt war. Ich stand wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Gang vor den Schlafkabinen und fühlte mich ganz schön hibbelig und nicht in der Stimmung, wieder in meine Koje zu klettern, um dort auf den nächsten Durchmarsch der singenden und lachenden Kegelbruderschaft zu warten.
Ich folgte dem Mann mit dem Klopapierhut auf dem Kopf in den Barwaggon.
Die nächsten Stunden bilden in meiner Erinnerung ein eher schwammiges Bild aus fremden Gesichtern, gelallten Freundschaftsbekundungen und stickiger Luft. Ich gebe zu, dass ich mich an die meisten Einzelheiten dieser Nacht bestenfalls bruchstückhaft erinnern kann. Irgendwann wurde ich Zeuge davon, dass ein gewisser Günther, nachdem er ein Trinkspiel namens „Dumme Sau“ verloren hatte, ein Glas lauwarmes Hotdog-Wasser auf ex trinken musste, aber viel mehr ist mir nicht in Erinnerung geblieben.
Was soll´s? Ich war tausende von Meilen von Zuhause entfernt über einen Duisburger Kegelclub gestolpert! Hätten Sie das vielleicht nicht gefeiert? Noch dazu an Ihrem Geburtstag?
Am nächsten Morgen trug ich selbst den gehäkelten Klopapierüberzug, war frischgebackenes Ehrenmitglied der Kegelbruderschaft Schwung Hält Jung 1973 e.V. und fühlte mich dementsprechend elend, ganz so, wie es sich für ein neu aufgenommenes Ehrenmitglied gehört. Der Zug ratterte im frühen Licht des neuen Tages noch einige Meilen in Richtung Meer, während meine neuen Freunde und ich versuchten, vor der Ankunft im Bahnhof wieder zurück in unsere Köpfe zu finden.
Als wir am Hafen ankamen, befand ich mich genau an der Position, an der der abklingende Suff den aufsteigenden Kater begrüßt. Der Check-In gestaltete sich schwierig, da ich vor dem Verlassen des Zuges meine Jacke gewechselt hatte und beim Versuch das Ticket aus der anderen Jacke zu holen meinen Koffer auseinandernehmen musste. Der junge Mann am Schalter versuchte heldenhaft, nicht zu bemerken, in welchem Zustand sich der dämliche Deutsche befand, der, vor ihm hockend, inmitten seiner verstreuten Klamotten nach dem Ticket suchte. Als aus der Schlange, die sich hinter mir gebildet hatte, die ersten Rufe nach Security, der Polizei, der Nationalgarde und halbautomatischen Schusswaffen laut wurden, stellte ich schließlich fest, dass ich den verdammten Zettel die ganze Zeit über in der Gesäßtasche meiner Jeans mit mir herumgetragen hatte. Nach diesem holprigen Start wurde ich schließlich und endlich an Bord gelassen.
Ich war endlich angekommen. Auf der Sonne des Südens und auch mitten darin.
Meine Kabine war einfach der Hammer.
Ich beschloss alles, was mich an mein Zuhause erinnerte, zunächst einmal komplett hinter mir zu lassen. Die einzige Erinnerung an Bonn, die ich noch immer mit mir herumtrug, war ein hässlicher blauer Fleck am verlängerten Rückgrat, den mir Rasputin beschert hatte, als ich Carola Reimann für die Dauer meiner Abwesenheit die Schlüssel für mein Haus überreichen wollte. Scheinbar hatte er mich – in der Nacht, als ich sein Frauchen mit mutig herausgestrecktem Bauch zu ihrer Meinung im Bezug auf meine erotische Ausstrahlung befragte – ins Herz geschlossen. Als Carola die Tür öffnete, sprang er mich winselnd an, und ich setzte mich unsanft auf einen Kanaldeckel, durch den die eben erwähnten Schlüssel fielen und für immer in den Tiefen der Bonner Kanalisation verschwanden. Dass Rasputin damit für meine Topfpflanzen das Todesurteil unterschrieben hatte, war ihm dabei wahrscheinlich so unbewusst wie egal.
Abgesehen von meinem schmerzenden Hintern war ich schon fast wieder der Alte. Mein Ellenbogen hatte sich ganz gut erholt, und mein Zeh hatte schon fast wieder seine Originalfarbe angenommen. Nachdem ich meine Sachen notdürftig verstaut hatte, beschloss ich, mich erst mal ein wenig lang zu machen, denn die Zugreise inklusive der Aufnahme in den Club der partyfesten Kegelbruderschaft, hatte mich ganz schön mitgenommen.
Ich zog meine Schuhe an (eine neue Angewohnheit, die ich noch immer in vollen Zügen genoss), streckte mich in meiner Koje aus und schaute durch das Bullauge hinaus auf die Hafenmündung. Schon bald würde das Schiff durch diese Mündung hindurchfahren, würde aus allen Hörnern ein tiefes, wohlklingendes Signal ertönen lassen und dann würde es Kurs auf die Karibik nehmen, Robert Kruse an Bord.
»Ahhh...«
»Wir werden in wenigen Minuten ablegen. Die Crew bittet alle Besucher und Anlieferer, nun das Schiff zu verlassen. Vielen Dank.«
Die Durchsage wurde in mehreren Sprachen wiederholt, doch ich bewegte mich nicht von der Stelle. Ich war kein Besucher oder Anlieferer. Ich durfte bleiben. Und mein Aufenthalt hier hatte gerade erst begonnen.
»Ahhh...«
Ich wartete noch weitere fünf Minuten ab und machte mich dann auf den Weg zum Oberdeck, um das Auslaufen der Sonne des Südens live und in Farbe mitzuerleben.
Auf den Gängen herrschte noch immer geschäftiges Gedränge. Menschen liefen hin und her, suchten auf Karten nach kleinen roten Punkten, über denen „Sie sind hier“ steht, Passagiere beweinten den plötzlichen Verlust ihres Gepäcks, kleine Kinder beweinten den Verlust ihrer Eltern, Koffer wurden von A nach B getragen, und freundliche Stewards standen in Uniformen mit blitzblank polierten Knöpfen inmitten des Chaos und erteilten bereitwillig Auskunft über den schnellsten Weg zum Fundbüro, zur Krankenstation oder zur Beschwerdestelle des jeweiligen Reiseveranstalters.
Die ganze Situation war so mit Leben und Betriebsamkeit erfüllt, dass ich Lust bekam, ein Weilchen einfach nur dazustehen und die Show zu genießen.
Am anderen Ende des riesigen Raumes (unglaublich, dass ich mich tatsächlich auf einem Schiff befand...) befand sich eine Sitzecke, gemütlich eingerahmt von mehreren großen Topfpflanzen. Mein Weg dorthin führte mich durch das Gedränge gestresster Urlauber und, ein paar Meter weiter, an den Fahrstühlen vorbei.
Die Tür einer der Kabinen öffnete sich gerade, als ich vorbeiging. Eine Frau stolperte, beladen mit Bergen von Gepäck, aus dem Lift. Sie trat auf den Schultergurt einer ihrer abgestellten Taschen, drohte zu stürzen, fiel vornüber und landete denkbar unsanft in meinen Armen. Einer ihrer Koffer fiel auf meinen blauen Zeh, sie hielt sich reflexartig an meinem Jackett fest, riss mir den Kragen ab, kam wieder auf die Beine und hielt mir schließlich – mit dem unschuldigsten Blick seit Bambis Geburt – das Stück Stoff entgegen, welches noch bis vor gut einer Sekunde das Revers meiner besten Jacke gewesen war.
Während der nächsten Sekunden wurde nicht viel gesprochen.
Ich half ihr, die Sachen aufzusammeln, die sich aus dem Koffer über den Boden verteilt hatten und versuchte dabei, möglichst weltmännisch zu lächeln.
Als sie sich mit einem Arm voller aufgesammelter Kleidungsstücke erhob, warf sie ihr pechschwarzes Haar äußerst effektvoll über die Schulter. Für einen kurzen aber sehr intensiven Moment war ich in der Zeitlupenaufnahme eines Shampoo-Werbespots gefangen. Dem Luftzug ihres Haars entströmte ein ungemein sinnlicher Duft, ein Duft, der nur dann entstehen kann, wenn sich hochwertiges Parfum in perfekter Harmonie mit dem salzigen Aroma frischer Seeluft paart. Sie können das vielleicht nicht nachvollziehen, aber glauben Sie mir: Wenn Sie einen solchen Moment noch nicht erlebt haben, dann haben Sie noch gar nichts erlebt. Erlauben Sie sich bloß nicht zu sterben, ohne zumindest einmal zuvor einen solchen Moment erlebt zu haben! Die Geräusche, die uns umgaben, das ganze Getöse und Gewimmel, die Hektik, all das war für einen Moment verschwunden, für einen kurzen Moment ausgeblendet, der vielleicht ein oder zwei Sekunden dauerte, der mir aber vorkam, wie eine kleine Ewigkeit. Während ich völlig geplättet dastand, meinen Kragen in der Hand, ging sie wieder in die Hocke, um den restlichen Kram notdürftig in ihren Koffer zu stopfen. Sie schaute kurz zu mir auf, und ein peinlich berührtes Lächeln flog über ihr Gesicht. Ein gehauchtes „Entschuldigung“ auf den Lippen sammelte sie ihre Kleidungsstücke auf. Es war kaum hörbar, aber sie hatte definitiv „Entschuldigung“ gesagt. Sie sprach Deutsch! Und sie war kein besoffenes Mitglied eines Duisburger Kegelclubs! Na, wunderbar!
Und was für eine Erscheinung! Sie war etwa in meinem Alter, und sie war einfach unfassbar gutaussehend. Ihre Kleidung war geschmackvoll aber nicht protzig. Ihr Geschmack schmiegte sich an die eher kostspielige Seite von „leger“ an, teuer aber eben auch mit viel Stil und Verstand ausgewählt. Ja, diese Frau hatte Stil.
Ganz leise, hinter den Geigen, die in meinem Kopf für den nötigen Soundtrack sorgten, meinte ich, ein enttäuschtes Weinen zu hören, aber das war nur Carola Reimann, die sich auf Nimmerwiedersehen aus meinen nicht ganz jugendfreien Gedanken verabschiedete, um sich zur Kräuselnasen-Reisebürotraumfrau zu gesellen, die bereits im dunklen Hinterhof meiner nicht mehr benötigen Phantasien auf ihre neue Mitbewohnerin wartete und sie dort tröstend in Empfang nahm.
Sollten die beiden glücklich werden.
Ab sofort würden sie mir egal sein, denn ich hatte DIE FRAU gefunden. Ja. DIE FRAU schlechthin.
DIE FRAU bedankte sich mit einer unglaublich angenehmen Stimme für meine Hilfe. Diese Stimme war der Wahnsinn. Der pure Wahnsinn! Ich nahm natürlich die volle Schuld für den Zwischenfall auf mich, wie es sich für einen Gentleman gehört. Gerade wollte ich mich in aller Form entschuldigen, doch im selben Moment entschuldigte sie sich bei mir. Wir redeten einen Moment lang wild durcheinander, schwiegen dann im selben Augenblick, um den anderen zu Wort kommen zu lassen, redeten gleichzeitig wieder los und mussten schließlich beide herzlich lachen. Dieser Moment hatte etwas Magisches. Die Situation schien geradewegs einem amerikanischen Film der neunziger Jahre entsprungen zu sein. So nach dem Motto: Meg Ryan rennt Tom Hanks über den Haufen. Der Beginn einer romantischen Beziehung?
Ich bitte Sie!
Höchstwahrscheinlich, oder?
Sie stellte ihren Koffer erneut auf meinem schmerzenden Fuß ab, hielt mir die rechte Hand entgegen und sagte: »Vielen Dank, nochmal! Es tut mir so leid, dass ich Sie fast umgerannt habe! Ehrlich! Und das mit Ihrem Kragen ist mir unglaublich peinlich! Ich werde natürlich für den Schaden aufkommen, ganz klar... Ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...«
Sie musste sich ein kleines Lächeln verkneifen, das sah ich sofort. Ganz offensichtlich eine Frau mit Sinn für Situationskomik. Und dann war da wieder diese Stimme... Mein Gott, sie war perfekt! Einfach perfekt! Und sie war freundlich! Kein bisschen affektiert, kein bisschen reserviert. Sie schien so offen, so zugänglich und so von Grund auf sympathisch, dass sie bei ihrem Gegenüber augenblicklich den Eindruck hinterließ, man würde sich seit Jahren kennen. Für einen Moment schwiegen wir. War es jetzt an mir, etwas zu sagen? Wo waren wir stehengeblieben? Ich wusste es nicht mehr! Ich war noch immer vollends gefangen in dieser Zeitlupenaufnahme, gefangen in dem Shampoo-Werbespot, gefangen in diesem Moment absoluter Perfektion und Intensität. In einem ihrer Mundwinkel zuckte ein klitzekleines Lächeln. Kaum zu bemerken, aber doch so unfassbar reizend, dass ich weiß-Gott-was gegeben hätte, um es noch einmal zu sehen. Wusste sie, dass ich momentan ein wenig aus dem Rhythmus gekommen war? Scheinbar schon, denn plötzlich war da das Lächeln wieder. Sie ergriff das Wort, um die Pause zu beenden, bevor sie für einen von uns beiden peinlich werden konnte.
»Manchmal bin ich einfach ein unglaublicher Tollpatsch! Da stürme ich aus dem Aufzug und reiße Ihnen glatt den schönen Anzug in Stücke! Gott, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unangenehm mir das ist.“
Ich ergriff ihre Hand und versicherte ihr, dass es ihr nicht peinlich zu sein brauche, da die ganze Geschichte, genau betrachtet, meine eigene Schuld sei. Ich hätte schließlich damit rechnen müssen, dass Menschen aus dem Aufzug kommen würden. Ich fügte hinzu, dass mein Anzug wahrhaftig nicht mehr der Neueste war, und sie mir im Grunde genommen sogar einen Gefallen getan habe. Schließlich hätte sie mich jetzt in die angenehme Situation gebracht, endlich mal was für mein Outfit tun zu müssen; ein Schritt um den ich mich lange herumgedrückt hatte, und zu dem sie mich jetzt – auf wirklich charmante Art – geradezu gezwungen hätte.
»Sie sind wirklich nett.«
Ihre Stimme! Diese Stimme!
»Vielen Dank für die netten Worte. Trotzdem werde ich Sie natürlich entschädigen...«
»Glauben Sie mir doch bitte! Das hatte nichts mit Tollpatschigkeit zu tun, sondern vielmehr mit Ihrem offenbar untrüglichen Geschmack, was Kleidung angeht! Durch die Vernichtung meines Jacketts haben Sie Geschmack bewiesen! Und dafür habe ich Ihnen zu danken und nicht umgekehrt!«
Ich versuchte, möglichst unauffällig meinen Fuß von ihrem schweren Koffer zu befreien. Sie ließ mir nach meinem Vortrag, den ich – nebenbei bemerkt – noch heute für ziemlich gelungen halte, erneut einen ihrer verschmitzten kleinen Lächler zukommen. Am liebsten wäre ich bei dem Anblick ihres lächelnden Gesichts und ihrer gesamten Erscheinung in spontanen Applaus ausgebrochen. Dann hob sie den Koffer auf und schaute an mir vorbei mit fragendem Blick in Richtung der „Sie befinden sich hier“-Tafel an der gegenüberliegenden Wand.
(Jetzt nur keine Stille aufkommen lassen! Kruse, sag was! Irgendwas, du Idiot! Mach den Mund auf!)
»Ähm... Reisen Sie alleine? Ich meine, wenn Sie sich hier mit dem ganzen Gepäck herumplagen müssen...«
»Wie? Nein, äh... ich meine ja. Alleine, ja. Ich bin alleine unterwegs. Ich habe einen ziemlich wichtigen Termin auf einer der Inseln, die wir unterwegs anlaufen werden, und da dachte ich, bevor ich mich in den Flieger setze, kann ich genauso gut das Schiff nehmen und auf dem Weg noch ein paar Tage Urlaub machen.«
Wieder der Blick in Richtung Info-Tafel. Sie war offensichtlich nicht mehr voll bei der Sache. Sie war abgelenkt.
»Tja. Dann werden Sie gar nicht die ganze Reise über an Bord sein?« Es gelang mir, die Frage relativ unverfänglich klingen zu lassen.
»Nein, leider. Das wird wohl nicht gehen. Wie gesagt, es ist eher eine berufliche Angelegenheit. Die paar Tage auf See sind nur ein angenehmer Nebeneffekt. Ein paar Tage Ruhe, bevor es dann wieder weitergeht. Manchmal muss man sich seine Freizeit ergaunern, wissen Sie?«
(Angriff, Kruse! Attacke, du Depp!)
»Trotzdem schade. He! Ich sage Ihnen was: Wenn wir uns an Bord noch mal über den Weg laufen sollten, dann nehmen wir zusammen einen Drink und lachen uns über die Sache hier kaputt, was meinen Sie?«
Sie schien etwas überrascht, aber dann nickte sie.
»Gern! Warum eigentlich nicht? Ja, das klingt nett! Sehr gern, Herr... ähm...«
»Oh, Entschuldigung! Ich habe scheinbar meine Manieren noch nicht ausgepackt... Kruse! Ich meine Robert! Robert Kruse!«
»Schön!«, lachte sie, »Dann sind wir zwei jetzt verabredet, Robert Kruse!«
»Ich freue mich! Und einen schönen Tag noch!«
»Danke. Ihnen auch. Und nochmal zu Ihrer Jacke, Herr Kruse: Sind sie sich wirklich sicher, dass ich nicht doch...«
»Vergessen Sie es. Das war es mir wert.«
Sie hatte nicht einfach zugestimmt, sie hatte „gerne“ gesagt. Nicht schlecht, Robert. Meine Reise hatte noch gar nicht richtig begonnen, ich saß noch immer im Hafen, verdammt noch mal, und trotzdem hatte ich schon eine Verabredung mit einer unglaublichen Frau. Vorausgesetzt, wir würden uns noch mal über den Weg laufen, bevor sie das Schiff verlassen musste. Aber dafür konnte man ja sorgen. Hätte ich doch nur ihren Namen gekannt! Mir wurde erst jetzt bewusst, dass sie es versäumt hatte, sich ebenfalls vorzustellen. Irgendwie geheimnisvoll.
Die Sache gefiel mir immer besser.