Читать книгу Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDie Wasseroberfläche lag vor ihm wie ein riesiger, schwarzer Spiegel. Von der Tür aus sah Coubert jedes Detail des Bassins. Der Mond schien hell in dieser Nacht, fast so hell wie die Sonne tagsüber.
Keine Zeit für Schlaf, schon gar nicht, wenn ihn so viele Gedanken quälten. Sie begannen als sanftes Säuseln, bissen sich fest, zerrten an losen Stellen, und am Ende fegten sie wie ein Sturm durch jeden Winkel des Gehirns und ließen nichts zurück als Zweifel und Verwirrung.
Durch die Fenster des Wasserturms drängte das kühle Licht herein. Später würde der Mond sich in der Schwärze des Wassers spiegeln. Es war eines der Geheimnisse dieses verwunschenen Orts, dass nichts von dem, was unter der Wasseroberfläche war, sich jemals zu erkennen gab. Sogar an hellen Sommertagen, wenn das Licht spärlich durch die kleinen Fenster sickerte, reflektierte das Wasser lediglich seine Umgebung und enthüllte nichts von dem, was es bedeckte. Wenn es denn überhaupt etwas gab dort unten. Ein Physiker hätte sicherlich eine Erklärung dafür gefunden, aber Coubert, der nicht immer Coubert gewesen war, suchte nicht danach. Er nahm es hin und genoss die Magie, so wie er viele andere Dinge zu genießen gelernt hatte.
Wie oft hatte er nachts hier schon rauchend gestanden und in das Wasser geblickt, das in träger Dunkelheit einen langen Schlaf zu schlafen schien? Fast immer hatte er fast ängstlich auf etwas gewartet, war sich fast sicher gewesen, dass es kommen würde, die Ruhe zu stören. Vielleicht würde sich der klare Spiegel eintrüben, Schlieren werfen und Nebel aufsteigen lassen, aus denen sich dann Bilder von fremden Orten herausschälen. Bilder aus der Vergangenheit. Oder Bilder aus der Zukunft.
Oder das Silber des Wassers würde sich erheben in Säulen, die sich langsam zu menschlichen Körpern formten, rein silbern zwar, aber sonst in jeder Einzelheit wie die Bilder, die er tief in seinem Inneren vergraben hatte und die nun schon so lange tot waren.
Wesen der Vergangenheit. Darauf wartete er, wartete furchtsam, denn die Bilder konnten nichts Gutes bringen, sondern nur altvertraut Schlechtes. Sie konnten ihm nur das bringen, was er sowieso schon sah, jede Nacht, in seinen Träumen, wenn er sich in seinem Bett hin und her warf.
Aber niemals geschah etwas, immer nur war Frieden und Stille. Er stand und rauchte und sah auf die kleine Wasseroberfläche, und wenn ihm dann kalt wurde, zog er den Kragen enger und ging hinunter in sein Zimmer, zu der wenigen Habe, die ihm etwas bedeutete.
Manchmal aber, wenn er sich ganz schwach fühlte und seinen Gespenstern nicht zu trotzen vermochte, fuhr er mit dem winzigen Boot hinaus, von dem aus die Wartungs- und Reinigungsarbeiten an der Mauer gemacht wurden. Es war gerade groß genug für einen Mann. Er setzte sich, machte einen Schlag mit dem Paddel und befand sich sofort mitten auf dem kleinen See. Und seltsam, er war nur wenige Meter von der Treppe entfernt, hinter der seine Gegenwart lag, aber es schienen ihm viele Kilometer, und es schienen ihm viele Jahre, und er wurde ruhig.
Er beugte sich dann vornüber, barg den Kopf mit den widerspenstigen, schwarzen Haaren in den Händen und konnte endlich einmal ohne Schuldgefühl und Scham an das denken, was hinter ihm lag. Er konnte an sie denken, an ihre Jugend und Lebensfreude. Sie hatten wirklich gelebt, im tiefsten Sinne des Wortes, bis ein grausamer Tod sie ereilte. Sie hatten in die Zukunft geschaut, sie hatten Pläne gehabt und eine Zukunft – und sie hatten sicher mit allem gerechnet.
Nur nicht mit einem so bestialischen und unwürdigen Ende.