Читать книгу Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 7
3. Kapitel
ОглавлениеCoubert hielt das Buch in der Hand und wusste nicht so recht, was er tun sollte. Das Foto war ihm ein völliges Rätsel. Er sah es sich wieder und wieder an. Er wusste, dass er nicht der Mann auf dem Bild war. Die Ähnlichkeit war groß, aber es gab kleine Details, die nicht zu ihm passten. Soweit man das auf dem relativ kleinen Bild beurteilen konnte.
Er zog an seiner Zigarette.
Das Buch war eine Handschrift, ein Notizbuch oder Ähnliches. Der Text war in französischer Sprache. Französisch war für Coubert wie eine zweite Muttersprache. Aber dieses Buch machte ihm dennoch anfangs große Probleme. Es war der altmodische Stil, der zum antiken Einband des Buches passte. Nach einiger Zeit aber hatte er sich an die Sprache gewöhnt. Er las sich ein, und dann ging es immer besser.
Er hatte es sich gerade bequem gemacht, mit einer Tasse Kaffee auf dem Sofa, als das Telefon klingelte. Es war der Auktionator, der die Versteigerung geleitet hatte, bei der Coubert das Buch gekauft hatte. Der Mann, sein Name war Kringel, wirkte aufgeregt. Irgendjemand, so berichtete er, hatte sich bei ihm nach Coubert erkundigt, beziehungsweise nach dem Mann, der die Kiste alter Bücher ersteigert hatte. Er wollte seine Adresse von ihm haben. Offenbar hatte er dem Auktionator erzählt, dass er selber Interesse an den Büchern gehabt hätte, aber leider zu spät zur Auktion gekommen war. Jetzt, so sagte er, wollte er versuchen, Coubert über ein gutes Angebot einen neuen Handel schmackhaft zu machen.
Coubert fand das nicht besonders glaubwürdig, zog man den Zustand und die Auswahl der Bücher in Betracht. Schnell erklärte sich auch die Aufregung und Unsicherheit des Auktionators – es war sein schlechtes Gewissen. Er erzählte, er habe dem Anrufer die Geschichte nicht abgekauft. Er hatte ihm ein paar Fragen gestellt und gemerkt, dass dieser keinen blassen Schimmer hatte, um was für Bücher es sich handelte.
Dann aber, gab er am Ende zu, hatte er dem Anrufer Couberts Adresse gegeben.
Coubert überlegte. Das war ein starkes Stück, datenschutzrechtlich äußerst kritisch, zumal Kringel Auktionator war. Diese Leute leben, besonders bei größeren Geschäften, von ihrer uneingeschränkten Diskretion und Seriosität. Sollte das bekannt werden, würde es dem Auktionshaus nachhaltig schaden.
Der Anrufer sei eine Frau gewesen, die einen sehr merkwürdigen Eindruck auf ihn gemacht habe. Der Stimme nach musste sie so um die Vierzig gewesen sein. Sie war konfus, gab an, Coubert zu kennen. Dazu passte aber nicht, dass sie seine Adresse nicht hatte, und mit dem Plan, ihm die Bücher wieder abzukaufen, hatte es schon einmal gar nichts zu tun. Kringels Erklärungen machten es Coubert nicht unbedingt leichter zu begreifen, warum er ihr die Adresse gegeben hatte.
Er konnte es nicht erklären. Die Frau sei ihm so hilfsbedürftig vorgekommen. Tatsache war wohl, dass er etwas getrunken hatte, in leichtsinniger Stimmung war, eine Frau in Not, irgend so etwas – und da war es ihm rausgerutscht.
Und dann wurde es wirklich mysteriös. Coubert fragte nach dem Buch, das vor seiner Tür gelegen hatte; Kringel gab an, nichts darüber zu wissen.
Wenn er es nicht gewesen war, der das Buch vor Couberts Tür gelegt hatte, wer dann?
Die Ereignisse in der Locanda del Bosco Grande, die Leute, die ich des Mordes verdächtigte und die mir immer mehr aus dem Weg gingen. Und je mehr sie dies taten, desto mehr brannte sich der Verdacht gegen sie in meinen Geist ein, hielt mich in einem Zustand ständiger Unruhe und Anspannung. Ich kann nicht behaupten, dass der Urlaub damals besonders erholsam gewesen wäre.
Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Es wurde in mir zur Besessenheit. Ich wollte es wirklich wissen, und ich dachte, ich könnte einen Hinweis bekommen, wenn ich ein Gespräch mit den beiden beginnen würde. Vielleicht, wenn ich das Gespräch auf die Morde brachte, würden sie etwas von sich geben, dass mir ein Stück weiterhalf, ein kleines Mosaiksteinchen oder etwas, das auch nur meinen Verdacht weiter kräftigte.
Ich wollte sie eines Morgens ansprechen, wollte mich zu ihnen setzen beim Frühstück. Die Nacht davor konnte ich nicht schlafen, wälzte mich hin und her, während der Mond durch das Fenster schien und ein helles Viereck auf den Boden malte. Ich überlegte, wie es werden würde, was genau ich sagen wollte. Ich war nie sonderlich geschickt mit dem gesprochenen Wort, aber ich glaubte, es könnte nicht fehl gehen, wenn ich einen guten Plan hätte.
Als endlich der Wecker klingelte, war ich wie gerädert. Natürlich wurde alles anders, als ich es mir ausgedacht hatte. Ich betrat den Speisesaal, die beiden waren noch nicht zu sehen.
Ich griff mir die Zeitung. In den Gazetten gab es damals noch einen anderen Fall, der die Gemüter bewegte. In einigen Kirchen der Toskana, meistens kleineren, die nicht so stark den Touristenströmen ausgesetzt waren, kam es zu bestimmten mutwilligen Sachbeschädigungen. Jemand schlug den Figuren der Engel und Heiligen in den Gotteshäusern und auf den Friedhöfen die Hände ab. Der oder die Vandalen waren absolut spezialisiert, es waren nur die Hände, und diese verschwanden ebenso wie die Täter spurlos. Keine Zeugen, keine Verdächtigen. Zweimal war dies bisher geschehen – und beide Male war es am Abend vor den Morden an den Frauen gewesen.
Und an diesem Morgen berichtete das Blatt wieder von einem solchen Fall. Und wenn ich Recht hatte, würde an diesem Tag wieder ein Mord geschehen.
Das Paar erschien, betrat schnell den Speisesaal. Sie streiften mich mit schnellen Blicken, zu beiläufig, um desinteressiert zu wirken. Ich fühlte, sie mussten sich zwingen, mich nicht anzustarren, so wie ich mich zwang, den Blick nicht in ihre Richtung zu lenken.
Von der Terrasse der Locanda hatte man einen wunderschönen Blick über ein kleines, angrenzendes Tal, bis zu einer Hügelkette in etwa zwei Kilometern Entfernung. Ich sah hinaus ins Grün, während ich mir Kaffee und Weißbrot schmecken ließ. Im Glas des Fensters beobachtete ich die beiden Menschen, denen mein Interesse galt.
Der Mann – Calvin – war mittelgroß, schlank und drahtig. Er musste Mitte dreißig sein, aber sein Haar war schon von einem metallisch glänzenden Grau durchzogen. Sogar jetzt, zu morgendlicher Stunde am Frühstückstisch, wirkte er energiegeladen wie eine Sprungfeder. Unter dem dunkelgrauen Button-down-Hemd schienen eiserne Muskeln ihre Arbeit zu verrichten, das verriet die Art, wie er sich bewegte. Alles an ihm atmete Kraft und Geschmeidigkeit.
Die Frau war fast so groß wie er, schwarzhaarig und von beinahe ätherischer Blässe. Wenig ätherisch wirkte ihr Körper, drall, mit breiten Hüften und großen Brüsten. Ich hatte einmal gehört, wie er sie Bettina nannte.
Die beiden hatten mit dem Frühstück begonnen, sollte ich mich nun zu ihnen setzen? Ich war mir immer noch nicht klar darüber, wie ich das Gespräch anfangen sollte. Vielleicht ging es auch anders. Ein zufälliges Treffen nach dem Frühstück, draußen vor dem Haus. Bei den Autos vielleicht. Ich würde sie etwas zu ihrem Auto fragen, so würden wir ins Gespräch kommen. Ich würde versuchen, ihre sicherlich vorhandenen Bedenken zu zerstreuen, sie würden Vertrauen fassen, und dann wäre ich an der Quelle.
Ich erhob mich, verließ den Raum. Fast war ich sicher, dass ihre Blicke mir folgten.
Der Lieferwagen ragte aus der Reihe kleiner Fahrzeuge mit italienischen Kennzeichen hervor wie ein Monolith. Ich zündete mir eine Zigarette an, während ich mich ihm näherte. Ich umrundete das Fahrzeug, ging näher heran. Blickte durch das Fenster. Auf der Ladefläche, halb unter einer Decke verborgen, lag ein Meißel, mit grauem Steinstaub eingezuckert. Und unter der Decke, die ebenfalls grau bepudert war, schien noch mehr verborgen zu sein. Buckel, Wellen und Täler, aber es war unmöglich, etwas Genaues auszumachen.
Ich klemmte mir die Zigarette in den Mundwinkel, fasste auf den verchromten Türgriff, drückte ihn herunter. Es war abgeschlossen.
»Kann ich helfen?«
Calvins Stimme klang wie rostiges Eisen. Ich fuhr zusammen. Er musste sich angeschlichen haben, lautlos wie ein Indianer. Ich sah die Frau, wie sie bewegungslos, die Arme vor der Brust verschränkt, im Inneren des Hauses am Fenster stand.
Die nächste Minute lang bot ich grauenhafte, stotternde Verlegenheit, planloses Herumplanschen in einem Meer von Unsicherheit und Verlegenheit. Ich erinnere mich dunkel, dass ich etwas von Bildhauerei stammelte, angereichert mit vagen Anmerkungen zur Schönheit der hiesigen Architektur. Calvin blickte mich kalt an, ging auf nichts ein, sagte nichts, fixierte mich nur. Ich machte mich davon, so schnell ein Rückzug möglich war, verkroch mich für eine Stunde auf meinem Zimmer.
Als ich wieder herunterkam, waren die beiden fort.
Ich setzte mich in mein Auto und fuhr ziellos in der Gegend herum. Betrachtete den Sonnenuntergang von einem Parkplatz in den Bergen aus, rauchte, trank Wein aus einer Flasche aus dem Supermarkt. Kam spät nach Haus, ohne Ambitionen, die beiden zu treffen. Ich legte mich ohne Abendessen ins Bett und schlief bald ein.
Der nächste Tag brach an. Er veränderte mein ganzes Leben und machte mich zu dem, was ich heute bin.
Ich wachte sehr früh auf, durch lärmendes Rumoren auf dem Flur vor meinem Zimmer. Ich vernahm die beschwörenden Worte des Nachtportiers, der fast verzweifelt in weinerlichem Ton auf jemanden einredete. Eine raue Stimme antwortete ihm kurz und feindselig. Die Schritte mehrerer Menschen näherten sich meiner Tür, dann klopfte es energisch.
Der Portier rief mich beim Namen. »Sind Sie wach?«
Ich hatte mich halb aufgerichtet. Eine Hand tastete nach der Zigarettenpackung auf dem Nachttisch. »Was ist denn los?«
»Hier sind einige Herren von der Polizei, die sich mit Ihnen unterhalten wollen ...«
Augenblicklich wurde er unterbrochen. Ein Schlüssel kratzte im Schloss, die Tür öffnete sich.
Sie waren zu viert: der Portier und drei untersetzte Männer, denen man den Beruf schon von Weitem ansah.
»Signore? Sie verstehen unsere Sprache?«
Ich nickte bestätigend.
»Gut. Dann darf ich Sie bitten mitzukommen. Ziehen Sie sich an.«
Der Wortführer war der Kleinste und Kompakteste der Gruppe, mit tiefer, etwas verquollener Stimme, starker Hang zur Gewichtszunahme, schlecht sitzender, schwarzer Anzug, eine schreiend bunte Krawatte. Sein dunkles Gesicht mit den noch dunkleren Bartschatten drehte sich hierhin und dorthin, blickte misstrauisch in jede Ecke des Zimmers. Er wirkte deplatziert an diesem Ort, an dem es um Urlaub und Wohlbefinden ging. Sein Teint und überhaupt alles an ihm sahen so aus, als käme er aus dem Süden des Landes, aus den Gegenden, wo es für die meisten keine Hoffnung auf einen Job und eine Zukunft gab.
Die beiden anderen würdigten mich keines weiteren Blickes, sondern begannen, den Raum systematisch zu durchsuchen.
Ich zog eine Zigarette aus der Schachtel. Ich machte mir zwar keine großen Sorgen, aber das Verhalten der Polizisten irritierte mich. Sie wirkten sich ihrer Sache so sicher, bewegten sich so selbstverständlich in meinem privaten Umfeld, als wäre ich nur als Gegenstand vorhanden. Und sie sahen so aus, als wären ihnen meine bürgerlichen Rechte völlig gleichgültig. Aber ich war in Italien, da wurden diese Dinge vielleicht anders gehandhabt.
»Worum geht es denn?«
»Die Zigarette weg!«, sagte der Kleine, nicht laut, aber laut genug.
Ich tat, wie mir geheißen, langsam, ohne Hast, dann sah ich ihn abwartend an. Sein Haaransatz zog sich bis tief in die Stirn hinein, und er hatte eine für sein flächiges Gesicht zu kleine Nase.
Er wandte sich zum Fenster, beobachtete mich aber weiter in der Spiegelung der Fensterscheibe. Offenbar besann er sich auf die international allgemein gültigen Formen für Gelegenheiten wie diese.
»Ich bin Commissario Trussadi«, stellte er sich vor, »das sind Benelli und Comina. Wir haben einen Anruf erhalten. Der Anrufer bringt sie in Verbindung mit einigen unschönen Vorfällen in dieser Region.«
Er beobachtete mich immer weiter. Ich begegnete seinem Blick in der Fensterscheibe.
»Genau gesagt, mit den Mädchenmorden.«
Mir wurde heiß wie bei einem Fieberschauer. Mit vielem hatte ich gerechnet, aber damit nicht.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Aus schmalen Augen beobachtete mich der Commissario, dann bedeutete er mir mit einem Nicken des Kopfes, den Hörer abzunehmen.