Читать книгу Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman - Burkhard Ziebolz - Страница 6

2. Kapitel

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Liam Coubert hatte sich schon immer für Bücher interessiert. Früher waren sie Abenteuer für ihn gewesen, jedes Buch eine neue Welt, eine andere Zeit. Er besuchte Schatzinseln, kämpfte gegen Indianer und erkundete den Orient, oder er flog mit Raumschiffen ins All und zu den Planeten. Später wurden sie ihm Freunde, einige begleiteten ihn über viele Jahre. In trüben Zeiten wurden sie ihm Trost, gestatteten ihm immer wieder kleine Fluchten, an den Tagen, an denen sich das Leben von seiner schwarzen Seite zeigte.

Und es hatte viele dieser Tage gegeben.

Mit der Zeit war so eine kleine Sammlung zusammengekommen. Er war kein typischer Leser, und er war kein typischer Sammler von Büchern. Er bevorzugte kein Genre, es waren auch nicht unbedingt die Erstausgaben oder die alten, in Leder gebundenen Folianten oder die bibliophilen Sonderausgaben, die ihn interessierten. Für Coubert war an einem Buch lediglich wichtig, dass es ihn irgendwie ansprach. Die ausschlaggebenden Reize konnten dabei vollkommen unterschiedlich sein. Er nahm ein Druckwerk in die Hand und wusste, mit diesem würde er eine Beziehung eingehen können für-eine gewisse Zeit oder für immer. Manchmal, wenn ein Klappentext vorhanden war, fand er den nötigen Anreiz dort, aber manchmal war es auch nur ein Element der Aufmachung, des Einbandes, oder es war der Umstand, dass es zu einer Zeit oder an einem Ort geschrieben worden war, die ihm interessant erschienen. Manchmal war es eine altertümliche Type, die sich beim Druck tief in das Papier gekerbt hatte und fast mit den Fingerkuppen zu lesen war. Bisweilen fand er eine merkwürdige, Fragen aufwerfenden Widmung – und schon war es um ihn geschehen. Niemals suchte er nach diesen Dingen, vielmehr hatte er das Gefühl, sie fanden ihn, wenn er in Antiquariaten, auf Flohmärkten oder Auktionen herumging und in dem wühlte, was andere meistens keines Blickes würdigten.

Da stand er nun, mit dem alten Buch in der Hand, dessen Inhalt in einem massiv verklebten Block alten Papiers verborgen war. Er wog es in der Hand. Coubert schätzte das Gewicht auf fast ein Kilo, was schwer war für ein Buch dieser Größe. Der Einband war aus stabilem Pappendeckel von fleckigem Hellbraun und zeigte keinerlei Schrift, keinerlei Hinweis auf Inhalt oder Verfasser. Nur eines war vorhanden und hob dieses Buch für Coubert von allen anderen ab. Auf dem, was er für die Rückseite des Bandes hielt, gab es einen Fingerabdruck, und wenn ihn nicht alle seine Erfahrungen täuschten, war es ein blutiger Finger gewesen, der diesen Abdruck verursacht hatte.

Langsam ging er die lange Treppe hinauf in die Wohnung, in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durchspielend, die Seiten voneinander zu lösen. Coubert entschied sich dann für Wasserdampf. Die kleine Küche verfügte über einen Elektroherd. Schnell setzt er Wasser auf und stellt die Platte auf die höchstmögliche Stufe. Nach einiger Zeit bildeten sich am Grund des Topfes kleine Bläschen, die sich ablösten und nach oben stiegen. Es wurden mehr und mehr, und sie wurden größer und größer, und nach einer Viertelstunde stieg Dampf aus dem brodelnden Wasser. Er hielt das Buch hinein, sah zu, wie sich das Papier allmählich dunkler verfärbte. Mehr sah er aber nicht. Die Seiten blieben verklebt.

Er versuchte es noch eine Weile, dann gab er enttäuscht auf. Mittlerweile war es sehr spät geworden, und er beschloss, zu Bett zu gehen. Ein neuer Tag würde ihm vielleicht andere Ideen geben. Oder er konnte jemanden anrufen, der sich besser mit solchen Dingen auskannte.

Gegen Morgen erwachte er aus einem von Träumen zerrissenen, leichten Schlaf. Wie fast jede Nacht hatten ihn die Gespenster der Vergangenheit aufgesucht, seine Seele gegeißelt. Es war lange her, dass er eine Nacht wirklich gut geschlafen hatte. Manchmal, wenn er im Sommer in dem kleinen Park vor dem Turm in der Sonne saß, wurde das Verlangen nach einer Zeit völliger Entspannung fast übermächtig, das Sehnen nach tiefem, traumlosem Schlaf. Auch für sein Leiden wäre das von Vorteil gewesen. Keines der Schlafmittel, die er ausprobiert hatte, hatte ihm helfen können. Psychologische Hilfe konnte er nicht aufsuchen, ohne sich und seine Vergangenheit zu offenbaren – und dies wollte er auf keinen Fall.

Coubert stand auf, ging in die Küchenecke und drückte den Netzschalter der Espressomaschine. Lautlos begann sie ihr Leben, ein Kontrolllicht leuchtete auf, nach einer Minute ein zweites. Er drückte den Knopf an der Maschine, und lärmend startete der Automat den Spülvorgang. Sein Blick schweifte durch die Küche, die vom sanften Licht der Morgensonne erhellt war. Sie war schlicht und funktionell eingerichtet, der Kaffeeautomat war der einzige Luxus, den er sich hier gegönnt hatte.

Coubert blickte aus dem Fenster.

Die Stadt zu seinen Füßen erwachte gerade zum Leben, mit zögerlichen Bewegungen erprobte sie ihre Kraft. Die Morgenstunden von sechs bis acht Uhr waren ihm am liebsten. Im Sommer war es noch nicht zu heiß, und es war noch keinerlei Hektik zu spüren.

Er ließ Kaffee in einen einfachen Becher aus weißer Keramik laufen, gab Milch aus dem Kühlschrank hinzu. Dann fiel sein Blick auf das Buch, das er nach den vergeblichen Versuchen mit dem Wasserdampf neben dem Herd hatte liegen lassen. Irgendetwas daran war verändert. Er trat näher.

Der Papierblock war lockerer geworden. Als er ihn in die Hand nahm, sah er, dass sich die Seiten leicht voneinander trennen ließen.

Das Buch gab sein Innerstes frei.

Vorsichtig löste Coubert die erste Seite, sorgsam darauf achtend, dass keine Partikel der darunter liegenden Seite kleben blieben. Es gelang sehr gut. Das Buch erwachte unter seinen Händen zum Leben.

Was dort gedruckt stand, war alt klingendes Französisch, aber er hatte keine Schwierigkeiten damit. Die Zeit in der Legion hatte ihn vieles gelehrt, und einiges davon verursachte keinen Ekel in ihm.

Er las es, einmal, zweimal, und dann noch mal, um völlig sicher zu sein.

Ein Kürzel, das er zwar nicht kannte, dessen Sinn sich ihm aber im Zusammenhang erschloss. Namen, die ihm bekannt waren, aus dem berühmtesten Werk von Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. Die Hauptfigur, Edmond Dantes. Dann ein Hinweis auf die Nebenhandlung, Dantes’ Zeit vor der Rache, auf die er so lange zuarbeitete. Ein Stück Historie, die Ereignisse im Janina zur Zeit der Türkenherrschaft, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Noch ein Hinweis auf Geschichte, auf das Schicksal des Herrschers von Janina, Ali Pascha und seiner Familie. Dann wechselte der Ort, von den Resten eines riesigen Schatzes war die Rede, der irgendwo hingebracht worden war, in deutsche Lande, an einen Ort in dem Mittelgebirge, das als Pfalz bekannt war und nicht weit von Mannheim entfernt lag.

Coubert ließ das Buch sinken. Entweder hatte jemand vor sehr langer Zeit seiner Fantasie freien Lauf gelassen, oder er hatte hier etwas sehr Interessantes gefunden.

Immer weiter öffnete sich der Band, immer mehr Seiten wurden in Freiheit entlassen. Schließlich waren alle sauber voneinander getrennt. Er war am Ende angekommen. Als sich die letzte Seite umblättern ließ, sah er es: eine kleinformatige Fotografie. Offenbar war sie erst vor Kurzem hineingebracht worden. Zumindest sahen die Tesafilmstreifen neu aus, die sie in ihrer Position in der Mitte des Buchdeckels hielten. Der hintere Einband hatte sich deutlich leichter vom Rest gelöst als die anderen Blätter, auch das ein Hinweis darauf, dass an dem Buch manipuliert worden war. Er sah sich das Foto an, führte es nahe an sein Gesicht. Das Bild einer Frau und eines Mannes.

Kalter Schweiß brach Liam Coubert aus. Das Bild flackerte vor seinen Augen, und ihm war, als würde der Boden unter ihm Wellen schlagen und ihn abwerfen wie ein störrischer Gaul.

Vor vielen Jahren, Anfang der Neunziger, war ich für drei Wochen auf Urlaub in einem gottverlassenen Nest im Piemont. Vallumida ist ein kleines Weindorf ohne größere Bedeutung in der Szene der Vinophilen, und heute würde ich sicher den Weg dorthin nicht mehr finden. Damals wollte ich ausspannen, mich von ein paar herben Schlägen erholen, die mit einem Mädchen zu tun hatten, mit einem großen Versprechen, mit Plänen und mit vernichteten Hoffnungen.

Drei Wochen. Das Hotel war gut und ziemlich klein, es gab nur wenige andere Gäste dort, darunter ein deutsches Paar. Wir kannten uns vom Sehen, morgens beim Frühstück, manchmal abends im Restaurant. Keiner hatte Interesse am anderen, wir wollten nur unsere Ruhe. Ein wirklicher Kontakt kam nicht zustande. Dennoch begegneten wir uns zwangsläufig immer wieder.

Die beiden waren nur zum Frühstück im Hotel, danach verschwanden sie gleich mit dem Auto, waren den ganzen Tag unterwegs und kamen erst spät wieder. Viele von denen, die das Piemont bereisen, tun das. Sie sind auf den Weingütern unterwegs und verkosten die letzten Jahrgänge. Diese beiden allerdings waren anders. Sie hatten bei ihrer Rückkehr immer etwas Gehetztes im Blick, in den Bewegungen, sogar in der Sprache. Es war, als hätten sie sich bei einer sportlichen Aktivität verausgabt, und nun lief ihr Kreislauf immer noch auf Hochtouren und ließ sie nicht zur Ruhe kommen.

Bei ihr, einer schlanken Frau Mitte dreißig, mit langem, schwarzem Haar, wirkte das ganz seltsam auf mich. Immer dieses Wegschauen und dem anderen nicht in die Augen sehen können, ruckartige, unsichere Bewegungen, aufgeregtes, leises Reden – irgendwie machte mich das auch an. Sie war hübsch auf eine leicht kränkliche Weise, blass, mit schmalem Gesicht. Die Hüften waren breit und passten nicht recht zum Rest des Körpers. Dennoch, sie hatte eindeutig etwas erotisch Anziehendes. Der Mann war mittelgroß, schlank und wirkte sehr sportlich. Ich hörte, wie die Bedienung die beiden mit Signore und Signora Calvin ansprach. Sie waren aber sicherlich keine Italiener, wenngleich sie ganz gut – besonders die Frau – die Sprache konnten. Waren sie aber allein, sprachen sie deutsch.

Wenn sie überhaupt sprachen.

Zu der Zeit, als wir dort waren, erlebte das Piemont ein paar der übelsten Morde, die es dort jemals gegeben hatte. Morde, wie sie bestialischer nicht hätten sein können. Junge Frauen verschwanden und wurden wiedergefunden, zu Tode gefoltert auf besonders sadistische Art. Ich las es in den Zeitungen, mein Italienisch reichte dafür gerade aus.

Es waren zwei Mädchen, die im Abstand von wenigen Tagen gefunden wurden. Der Mörder hatte die Leichen so platziert – genauer gesagt, sie hatten sich selber platziert, aber er hatte es zugelassen –, dass man sie finden musste. Wahrscheinlich wollte er, dass man sein Werk bewunderte. Zumindest behaupteten die Psychologen das, die in den Artikeln die Taten des wahnsinnigen Mörders kommentierten.

Die Frauen waren jung und schlank, und sie hatten lange, dunkle Haare. Auf den Bildern sahen sie aus wie jüngere Schwestern der Frau, die ich jeden Tag beim Frühstück mit ihrem Partner sah. Die Polizei vermutete, dass es mehrere Täter waren, die die Morde gemeinschaftlich begingen. Sadisten, Perverse, fehlgeleitete Sektierer vielleicht. Wie immer gab es Hinweise aus der Bevölkerung, brandheiße Spuren, über die nichts verraten werden durfte, aber keine konkreteren Informationen. Man wollte den Tätern nicht zeigen, wie weit die Ermittlungen schon gediehen waren.

Dieses Paar in meinem Hotel, es ging mir nicht aus dem Kopf. Irgendetwas stimmte nicht mit den Leuten. Sie redeten kaum, wenn man sie sah, weder mit anderen noch untereinander, außer, wenn sie von ihren Streifzügen zurückkamen. Redeten sie mit Fremden, zum Beispiel mit dem Personal des Hotels, dann waren sie freundlich, auf eine sehr bemühte, fast schon verkrampfte Art. Sie schienen nur darauf zu warten, dass das Gegenüber etwas sagte, dem sie zustimmen konnten.

Zustimmung schafft Akzeptanz.

Zwei junge Frauen im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren. Die eine Hausfrau und Mutter zweier Kinder, die andere eine Kosmetik-Verkäuferin. Ihr Leiden hatte lange gedauert, ich konnte mir vorstellen, was in ihnen vorgegangen war, wie sich Panik und Hoffnung abgewechselt hatten und immer wieder von Schmerzen ausgelöscht wurden wie Kreideschrift auf einer Schultafel.

Man macht sich diese Gedanken, wenn man viel Zeit hat.

Als ich den Fall zu verfolgen begann, war gerade die zweite Tote gefunden worden. Die Leiche wurde in einem Waldstück entdeckt, etwa siebzig Kilometer von unserem Hotel entfernt. Keine Stunde Fahrt mit dem Auto. Über die Ähnlichkeit der Ermordeten mit meiner schönen Mitbewohnerin muss sich wohl die Verbindung hergestellt haben, jedenfalls, mir fiel auf, dass an keinem der beiden Mordtage – sollten meine Informationen über den Tathergang aus der Zeitung stimmen – das Paar zum Abendessen im Hotel gewesen war.

Du wirst sagen, dass das nichts zu bedeuten hatte. Ich wäre heute geneigt, dir Recht zu geben. Aber damals – du weißt, wie es ist, wenn man Urlaub hat nach einer langen Zeit der Anspannung. Man fällt in ein Loch, Zeit im Überfluss ist etwas Ungewöhnliches, mit dem man erst wieder umzugehen lernen muss.

Teils war es Langeweile, teils Neugier, teils nur ein Spiel. Ich begann, die beiden systematisch zu beobachten. Beim Abendessen suchte ich mir einen Platz in der Nähe ihres Tisches. Die Hoffnung, sie belauschen zu können, erfüllte sich nicht, denn sie waren meist schweigsam. Sie aßen wenig und sehr schnell, und dann verschwanden sie sofort auf ihr Zimmer. Beim Frühstück war es ähnlich, nur dass sie sich sofort danach in ihren Campingbus setzten und fortfuhren. Meist kamen sie am späten Nachmittag wieder zurück. Nur an den Mordtagen waren sie erst so spät ins Hotel genommen, dass ich es nicht mehr gesehen hatte. In jedem Fall war es erst nach elf Uhr gewesen.

Bis auf das schon Gesagte gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Du wirst sagen, dass dies nicht besonders viel war, aber damals reichte es mir aus. Die Tatsache, dass sie vor und nach dem Essen die Köpfe zu einem kurzen Gebet – jedenfalls hielt ich es dafür – senkten, ließ Rückschlüsse auf Religiosität zu. Zwar stand ich allen Kirchen und ihren Organen immer sehr kritisch gegenüber, ein Verdachtsmoment war dies aber sicher nicht.

Natürlich blieb mein Interesse den beiden nicht verborgen. Mein Eifer muss wie eine Flagge vor mir hergeweht haben. Nach ein paar Tagen gewann ich den Eindruck, dass sie meine Gegenwart als störend empfanden und darauf reagierten. Sie schienen es bewusst so einzurichten, dass wir uns nicht einmal zu den Mahlzeiten sahen, sie änderten ihre Essenszeiten fast jeden Tag, und meist waren sie schon fort, wenn ich zum Frühstück kam. Sie entzogen sich. Und je weniger ich sie sah, umso mehr blühte meine Fantasie.

Die Zeitungen kamen mit immer grausameren Details der Mordfälle. Man beschrieb das Offensichtliche, das Muster der Fälle, die Ähnlichkeit der Opfer untereinander. Aber ich war, so meinte ich, der Einzige, der den Schlüssel zur Lösung in der Hand hielt. Denn ich hatte noch einen Zusammenhang erkannt: In den Zeitungen ging es damals noch um einen anderen Fall. Eine ganz andere Geschichte, weniger spektakulär, aber für mich ganz klar mit den Morden verwandt.

Jemand schlug Engeln und Heiligen die Hände ab.

Ich bin Gabriel. Früher war ich jemand anderes, jemand ohne Bedeutung. Ich lebte ein Leben in Sicherheit, Bescheidenheit und Mittelmaß. Ich träumte von einer Frau, einem Kind, einer Familie. Von einem anderen Job, besser als der alte, von einem Reihenhaus, einem neuen Auto. Ich hatte Freunde, mit denen ich am Wochenende ins Kino ging, wanderte und mich manchmal betrankt. Ich hatte Urlaub, den ich an der See oder in den Bergen verbrachte. Ich hatte ein Sparbuch und ein paar Aktien. Ich hatte Träume, von Karriere und von noch mehr Wohlstand. Ich wusste, ich würde das kriegen, und bis dahin hatte ich alles, was ich immer gewollt hatte.

Nur kein richtiges Leben.

Der Entschluss zu werden, was ich bin und immer war, war nicht mal schwer. Es war wie damals als Kind, wenn ich einen Hang hinunterlief. Der erste Schritt kostet Überwindung, alle anderen gehen wie von selbst.

Es trieb mich vorher schon um, in meinen Träumen, später in meinen wachen Gedanken. Ich wollte Dinge tun, unbeschreibliche Dinge, aber ich konnte es nicht, denn der andere stand mir im Wege. Der andere verhinderte, dass ich der werden konnte, der ich immer schon war, er verhinderte es mit seiner kleinbürgerlichen Moral, mit seiner kindlichen Religion, mit seinem naiven Verständnis von Gut und Böse und von dem, was die Welt zusammenhält.

So trug ich es ein Jahr oder zwei mit mir herum. Ich war eine Raupe, hässlich und unbeholfen.

Was die Welt zusammenhält. Darüber dachte ich nach, wenn ich Zeit hatte, und eines Tages wusste ich es, ich konnte die Kraft identifizieren, die unsere Systeme antreibt, im Osten wie im Westen und wahrscheinlich über die engen Grenzen unseres Planeten hinweg. Es war eine Gewitternacht im Sommer, heiß und drückend wie ein Backofen, als mich Gottes Erkenntnis traf wie ein Pfeil ins Herz – schmerzhaft, aber am Ende stand die Befreiung. Ich trat über in eine Welt der Kühle, der Beherrschung. Ich bewegte mich auf einmal schneller, nahm die Bewegungen anderer um mich herum wie in Zeitlupe wahr. In dieser Nacht wurde ich Gabriel.

War es wirklich mein Wille? Ich denke, er war es nicht allein. Ich glaube, dass es Gottes ausdrücklicher Wunsch war, den er in seiner unendlichen Güte so in meinen Kopf einpflanzte, dass er mir wie mein eigener erschien.

Ich saß aufrecht im Bett, starrte in die Dunkelheit vor dem Schlafzimmerfenster, die unregelmäßig vom Zickzack der Blitze erleuchtet wurde. Ich war schweißnass, und meine Lippen bewegten sich lautlos.

Ich bin Gabriel. Ich bin Gabriel. Ich bin Gabriel. Vollstrecker Gottes. Ich tat, was er mir eingab, ich war SEIN Werkzeug. Und ich wusste, solange er mit mir war, konnte ich alles tun, was ich wollte. Und Gott würde immer mit mir sein.

Was die Welt zusammenhält, das ist die Angst. Ich überwand sie in dieser Nacht, aus der Raupe wurde ein Schmetterling, elegant, kraftvoll, allem überlegen. Ich stand außerhalb aller Systeme, sah mich zum Himmel aufsteigen, hell glühend wie Lava im Licht der aufgehenden Sonne.

Ich war Gabriel.

Neben mir bewegte sich eine Frau in den Kissen. Es war die Frau des anderen, der mir im Weg stand. Ich spürte ihre Wärme, roch sie, hörte ihren Atem, der regelmäßig wie das Ticken einer Uhr die Nacht einteilte. Im Licht des nächsten Blitzes sah ich ihre blonden, feinen Haare, strubbelig zerzaust, die feinporige, rosige Haut, die der andere so gern gestreichelt, die roten, halbgeöffneten Lippen, die er so gern geküsst hatte.

Ich tötete die Frau und das Kind noch vor dem ersten Hahnenschrei. Ich schnitt ihnen die Kehlen durch und sah ihr Leben rot in den Kissen des Nachtlagers versickern. Kurz bevor das Kind starb, öffnete es die Augen, die mich eisblau ansahen. Kein Laut, kein schmerzverzerrtes Gesicht, nur dieser Blick, der erlosch wie eine Kerze im Wind.

Ich spürte nichts, nur ein Brennen im Hals. Ich tauchte meinen Finger in ihr Blut und schrieb damit Gott auf die glatte, in leichtem Erstaunen gerunzelte Stirn.

Gabriel wurde geboren in dieser Nacht aus dem Blut der Frau.

Dann zog ich mich an und verließ das Haus. Ich nahm nur ein paar Kleider mit und etwas Bargeld. Mehr brauchte ich nicht, nur ein bisschen Geld für die ersten Stunden. Ich wusste, dass es mir von nun an an nichts mehr mangeln würde. Der Herr würde für mich sorgen. Ich sollte seine Arbeit tun, also würde er für mich sorgen. Ich war sein Bote, und ich war unbesiegbar.

Ich ging durch die Straßen der Stadt, mit neuen Sinnen. Ich sah und hörte Dinge, die niemand sonst sehen und hören konnte. Die Menschen lagen vor mir wie offene Bücher, in denen ich Zukunft und Vergangenheit las: Du stirbst morgen, du in einem Jahr. Deine Frau ist krank, und deine betrügt dich. Du schlägst dein Kind, du schändest es.

Die ganze Schlechtigkeit der Welt. Sie würde meine neue Aufgabe sein. Ich würde vernichten, was sich SEINER Ordnung entgegenstellte, was sie missbrauchte, was sie auf perverse Art für andere Zwecke nutzte.

Ich lebte eine Weile auf den Straßen, ohne mich zu verbergen. Anfangs studierte ich manchmal eine Zeitung am Kiosk, sah das Gesicht der Frau und mein eigenes, aber das interessierte mich nicht. Ich hatte mich schon sehr verändert, niemand erkannte mich. Bald würde ich gehen, hinaus in die Welt. Und ich würde nicht allein sein.

Ich beobachtete. Und bald sah ich, dass es einen Typus Mensch gab, der Keim war für das Dunkle, der es anzog, der andere damit infizierte. Es war ein besonderer Typus Frau.

Einige Monate später begann ich mein Werk. Die ersten wurden gerichtet, wie es ihnen bestimmt war. Über viele Jahre tat ich, was ich tun musste, und ich glaubte, es sei gut. Ich verfeinerte meine Arbeit immer mehr, ich fand den richtigen Weg.

Dann aber, nach einiger Zeit, keimte etwas in mir, eine Unzufriedenheit. ER nahm das Opfer an in seiner grenzenlosen Güte, aber es blieb eine kleine, eine winzig kleine Unsicherheit. Waren sie wirklich die, die es treffen sollte? Konnte es sein, dass ich mich irrte? Ich haderte mit mir, wälzte mich im Schlaf, stöhnte unter der Last der Verantwortung. Es musste etwas geben, das mir half, das Urteil zu fällen. Ich betete um Erlösung, um ein Zeichen. Und ich wurde erhört, ER schickte mir, was ich brauchte.

Ich fand den Ort. Die Stätte würde mir zukünftig Zuflucht sein in Zeiten der Not, denn niemand kannte sie und niemand konnte sie finden außer mir. Und, was noch viel wichtiger war – sie würde die Stätte des Gerichts werden, die Probe, die über Schuld und Unschuld entschied.

Wertheim beeilte sich. Nach dem ungewohnten Einsatz in der letzten Nacht mit den für ihn noch neuen Ermittlungstätigkeiten hatte er den Morgen verschlafen wie der Bär den Winter. Aus der Theorie wohl wissend, wie wichtig die ersten Stunden nach Entdeckung einer Tat sind, war ihm sein Zuspätkommen nun doppelt peinlich.

Er hastete den Korridor entlang. Sein Büro lag neben dem der Findeisen. Vielleicht hatte sie seine Abwesenheit noch nicht bemerkt. Wertheim konnte sich denken, dass sie am Morgen eine Menge Dinge zu tun gehabt hatte. Einer der wichtigeren Termine war sicher ein Gespräch mit dem Polizeipräsidenten gewesen, in dem sie ihn über den neuen Mordfall unterrichtet hatte.

Doktor Manfred Strasser war seit fünf Jahren Kopf der Mannheimer Polizei. Er hatte nach dem Studium der Kriminologie eine Bilderbuchkarriere hingelegt, was einerseits seinen Fähigkeiten, sich im rechten Augenblick in Szene zu setzen, andererseits einem unglaublichen Glück bei der Aufdeckung von Kapitalverbrechen in seinem Einflussbereich zu verdanken war. Nicht, dass er selber jemals etwas dazu beigetragen hatte – tatsächlich war er völlig unkreativ, ein guter Verwalter ohne die Spürnase, die ein Ermittler braucht. Aber er hatte alle Ergebnisse so effektiv unter die Leute gebracht, dass sie ihm zugeschrieben wurden, ohne dass er selber etwas dazu hätte tun müssen. Mittlerweile hatte er sich sogar auf Bundesebene einen Namen gemacht, der richtige Mann am richtigen Ort, und nicht wenige Leute im Justizministerium trauten ihm durchaus eine Karriere in der Politik zu.

Bei allem Dusel und dem daraus resultierenden Erfolg der letzten Jahre hatte er aber nicht vergessen, wer ihm dies alles beschert hatte. Seine Leute waren ihm wichtig, wobei ihm selber nicht ganz klar war, ob aus reeller Loyalität oder weil sie ein wichtiges Werkzeug zum Erreichen seiner Ziele waren; möglicherweise war beides der Fall. Wie auch immer, das Resultat war, dass er sich vor sie stellte, wann immer es nötig war. Und er tat, was er konnte, um sie mit Schulungen und moderner Ausrüstung noch besser und effektiver zu machen.

Dieselben Leute, die ihn schon in der Landespolitik sahen, betrachteten genau dies als seine größte Schwäche. »Seine Truppe ist seine Achillesferse«, hieß es in diesen Kreisen, »eines Tages wird einer seiner Leute Mist bauen, und er wird darüber stolpern und sich den Hals brechen.«

Susanne Findeisen saß im Augenblick von Wertheims Eintreffen bei Strasser und erstattete Bericht. Der graumelierte Enddreißiger hörte aufmerksam zu, nahm jedes Wort konzentriert auf, wälzte es schon im Kopf, wog seinen Wert ab und gab ihm eine mediengerechte Form.

»Die Spurensicherung hat nichts?«

»Nicht viel. Sie starb nicht dort, wo ihr die tödlichen Verletzungen beigebracht worden waren. Tatsächlich muss sie noch eine längere Strecke aus eigener Kraft gelaufen sein.«

»Wie weit kann man ... unter solchen Umständen denn laufen?« Strasser zog die gebräunte Stirn in kritische Falten. Er wirkte erholt; sein letzter Urlaub lag nur eine Woche zurück – der Versuch einer Versöhnungsreise auf die Malediven mit seiner zweiten Frau.

Susanne Findeisen wippte in dem Freischwinger vor dem Schreibtisch ihres Chefs. »Fast dreihundert Meter. Wir fanden ihre Hände an einem Waldweg, etwa dreihundert Meter vom Fundort des Körpers.«

Strasser stand auf, entnahm dem Humidor im Regal hinter seinem Stuhl eine Havanna und wog sie nachdenklich zwischen den Fingern. In seinem Büro durfte geraucht werden. »Das ist furchtbar. Ich darf?« Reine Formsache, aber er hielt die Zigarre kurz hoch, wartete Findeisens Nicken ab und entzündete sie dann ohne allzu viel Zeremoniell.

»Wir fanden sehr viel Blut am eigentlichen Tatort. Ein paar Reifenspuren. Zwei Zigarettenkippen, von denen ich aber nicht glaube, dass sie vom Täter – oder von den Tätern – stammen. Sie sahen schon sehr alt aus. Des Weiteren fanden sich im Gebüsch ein benutztes Präservativ und reichlich Kleenex und Toilettenpapier. Die Stelle ist nicht weit von der Straße entfernt.«

Strasser nickte nachdenklich. Bei allem Horror – die Details würden für Aufsehen sorgen, sollten sie bekannt werden der Fall hatte die Art Brisanz, die die Öffentlichkeit mobilisierte. Was nicht unbedingt von Vorteil sein musste.

»Wir schließen daraus, dass die Tat ziemlich schnell vonstatten ging. Der Täter musste damit rechnen, jederzeit gestört werden zu können. Hohes Risiko – wäre hinter ihm jemand in den Weg gefahren, hätte er ihm die Ausfahrt versperrt. Der Waldweg ist eine Sackgasse.«

»Vielleicht wusste er das nicht.« Der Polizeipräsident blies eine Rauchwolke von sich.

»Das kann natürlich sein. Das Mädchen war übrigens nackt.«

»Vergewaltigung?«

»Das wissen wir noch nicht. Ihre Kleider sind verschwunden, der Täter muss sie mitgenommen haben.«

»Gut, vielen Dank zunächst. Für heute Nachmittag werde ich eine Pressekonferenz einberufen. Halten sie sich bitte gegen drei Uhr zur Verfügung.«

Findeisen schloss einen Moment die Augen. Strasser ließ wirklich keine Chance aus, die Arbeit der Truppe und natürlich sich selbst in Szene zu setzen. Sie war da eher zurückhaltend. In Anbetracht der Tatsache jedoch, dass sie in der Nacht schon ein paar Informationen an Berliner gegeben hatte, war die Pressekonferenz aber vielleicht keine schlechte Lösung. »Ist gut. Wir zeigen ein Bild, vielleicht kennt sie jemand. Bis drei Uhr müssten auch die Ergebnisse der Gerichtsmedizin vorliegen.«

Strasser nickte sein abschließendes, verabschiedendes Nicken, Signal dafür, dass andere, wichtigere Aufgaben auf ihn warteten.

Hauptkommissarin Findeisen verließ das elegante Büro, das mit alten englischen Möbeln den unaufdringlichen Charme eines Londoner Clubs des neunzehnten Jahrhunderts verströmte. Strasser, der sich gerne mit schönen Dingen umgab, hatte es vorschriftswidrig, aber geschmackvoll aus dem Privatbesitz seiner Familie ausgestattet.

Ihr eigenes Arbeitszimmer war eher schlicht mit Möbeln bestückt, die dem Dienststellenstandard entsprachen. Ein Schreibtisch mit angegliedertem Besprechungstisch, zwei Besucherstühle, Aktenschrank, Regal mit Ordnern, Computer, Telefon. Alles sauber und ordentlich, sie hasste es, wenn zu viel Papier oder etwas anderes auf der Arbeitsplatte herumlag. Alles hatte seinen Platz in ihrem Büro, und was sie nicht unmittelbar brauchte, war abgelegt, fortgeräumt oder sonst wie unsichtbar gemacht. Der Schreibtisch eines Menschen, so glaubte sie fest, gab Aufschluss über die Art, wie er dachte. Sah es hier unordentlich aus, so galt das auch für das, was in seinem Kopf vor sich ging.

Florian Wertheim saß auf einem der Besucherstühle und blickte ihr unschuldig entgegen.

Sie nickte ihm mit ernster Miene zu und setzte sich hinter den Schreibtisch. »Sie sind zu spät. Ihr Wagen war heute früh nicht auf dem Parkplatz.«

Er seufzte. »Tut mir leid. Ich hab verschlafen. Aber ich hab dafür schon die Vermisstenmeldungen durchgesehen. Wir haben ein Mädchen, dessen Beschreibung auf die Tote passt.«

Susanne Findeisen nickte wieder. »Weiter ...?«

»Verena Brenner. Gestern von ihrer Mutter als vermisst gemeldet, davor zwei Tage verschwunden.«

»Angenommen, sie ist es, und sie ist letzte Nacht getötet worden. Wo war sie in der Zeit davor?«

»Vielleicht bei Freunden. Die Mutter erwähnte, dass sie einen Streit mit ihr gehabt habe. Danach sei sie aus dem Haus gelaufen.«

Die Hauptkommissarin stand auf, ging hinüber zur Kaffeemaschine, wo seit einer Stunde das starke, koffeinhaltige Gebräu durch permanente Hitzeeinwirkung immer stärker und koffeinhaltiger wurde und fast schon die Fließeigenschaften von Bitumen entwickelte. »Auch eine Tasse?«

Wertheim schüttelte verneinend den Kopf. Seine Ansprüche an Aroma und Konsistenz von Kaffee lagen deutlich über dem Durchschnitt der Dienststelle. Meist verzichtete er daher ganz darauf, wenn er im Büro war, obwohl er in letzter Zeit be sich einen Gewöhnungseffekt festgestellt hatte.

Sie goss sich einen Becher ein, strich sich die kurzen Haare zurück und nahm einen vorsichtigen Schluck.

»Also schön. Gibt’s schon was aus dem Labor?«

»Ich hab angerufen, aber sie wissen ja, wie Saalfelder ist. Er rückt wenig raus, bevor der Bericht wirklich fertig ist. Immerhin konnte ich von ihm erfahren, dass die Tote offenbar nicht missbraucht wurde. Der Bericht kommt so in etwa einer Stunde, sagt er. Offenbar hat Strasser ihm auch schon Dampf gemacht.«

Susanne Findeisen setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Fahren Sie zu der Mutter? Vielleicht können Sie anhand von Bildern schon mal vorchecken, ob das Mädchen überhaupt unsere Tote sein kann. Sollte sie es sein ...«

» ... dann bitte ich die Frau heute Nachmittag zur Identifizierung.«

Seine Chefin nickte. »Besser noch, Sie bringen sie gleich mit.«

Wertheim wandte sich um, war schon beinahe an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. Ihm war etwas eingefallen

»Es ist nur ...«

»Ja?«

»Ich habe so etwas noch nie gemacht. Wie bringe ich der Frau das bei?«

Sie beugte sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und musterte ihn prüfend. »Da gibt es kein Patentrezept. Es ist immer anders, und es wird ihnen immer wieder nahe gehen. Aber noch wissen wir ja nicht, ob sie das Opfer ist. Bisher ist es lediglich ein Verdacht. Die Frau ist noch nicht die Mutter der Toten, sondern lediglich eine Zeugin von vielen. Vielleicht versuchen Sie mal, das so zu sehen.«

Er fixierte einen Augenblick den alten Linoleum-Boden, dann blickte er ihr ins Gesicht. Ja, die Brücke, die sie ihm da baute, reichte ihm aus, fürs Erste. »Bis dann.«

Eine Sekunde später war er fort. Findeisen schüttelte eine Zigarette aus der Packung auf dem Schreibtisch, nahm sie auf, steckte sie sich zwischen die ungeschminkten Lippen, zündete sie aber noch nicht an.

Wertheim war ein unproblematischer Charakter, pragmatisch und zielorientiert, das hatte sie gleich im ersten Augenblick ihres Kennenlernens registriert, bis auf einen Aspekt: Er musste immer einen Weg für seine Gefühle finden. Sie sah es gleich, wenn ihn etwas bedrückte, und sie merkte, wenn es nötig war, ihm zu helfen. Ganz sicher war das bei der Polizeiarbeit von Nachteil, aber sie hoffte, dass sich das mit der Zeit geben würde.

Der Mord war grausam und unmenschlich in seinen Details, aber absolut faszinierend in kriminalistischer Hinsicht. Sie hatte es sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, sich von blutigen Details den Blick trüben zu lassen. Ohne diese Distanz konnte niemand so einen Job machen. Sie interessierte sich nur für Spuren, Details, Hinweise, Theorien. Sie beobachtete, analysierte, wertete, wie ein Forscher – fast wie ein Computer bei der Lösung eines rechnerischen Problems. Manchmal, wenn sie darüber nachdachte, fühlte sie sich deshalb schlecht. War sie derart abgebrüht, abgestumpft, dass sie nicht mehr fühlen konnte, was normale Menschen angesichts solcher Gräuel empfanden? Am Ende solcher Überlegungen kam aber immer die beruhigende Gewissheit: Wenn du nicht wärest, wie du bist, würdest du nicht deine Fälle lösen können, sondern immer nur in fassungsloser Lähmung auf das starren, was die Oberfläche der Tat war.

Sie musste darunter blicken, unter die Oberfläche, tief und immer tiefer darunter.

Und sie erinnerte sich. Irgendetwas hatte sich schon in der Nacht im Wald in ihr geregt, eine leise, wispernde Stimme. »Du kennst dieses Szenario. Es ist dir schon früher begegnet. Du hast darüber gelesen.« Sie ließ das Feuerzeug aufschnappen.

Natürlich. Es war einige Jahre her. Ein Fall in Oberitalien, wenn sie sich recht entsann. Auch in Deutschland waren die Zeitungen voll davon gewesen wegen der spektakulären Umstände. Auch hier gab es Opfer mit der gleichen Verstümmelung. Mehrere Opfer. Auch ihnen wurden die Hände abgehackt, bevor ihr Mörder sie laufen ließ.

Sie zog an der Zigarette, beobachtete die Glut an der Spitze. Es gab zwei Möglichkeiten, und beide waren gleich schlecht. Entweder, jemand kopierte den damaligen Fall. Oder sie hatten es mit der Serie von damals zu tun, die sich fortsetzte.

Liam Coubert war ein Stück die Planken, die Haupteinkaufsstraße der Stadt, hinaufgegangen. Irgendwann wandte er sich nach links, über die Kapuzinerplanken. Er ging langsam zwischen den Ständen des kleinen Sommermarkts hindurch. Früchte und Obst, geflochtene Körbe, kleine Metallarbeiten, Gewürze, Kerzen. Geduldige Gesichter des Verkaufspersonals bedeckten sich mit einem professionellen Lächeln, sobald sich jemand in der Öffnung ihres Standes zeigte, wurden aber sofort wieder ernst, wenn sich der Besucher zurückzog.

Nichts davon sah Coubert wirklich. Er passierte Geschäfte und Lokale und war umgeben vom flirrenden Leben des frühen Nachmittags. Er ging vorwärts wie eine Maschine, wie ein Roboter, ohne Kenntnis zu nehmen von allem. Seine Gedanken waren bei dem kleinen Foto, das er in der Hand trug und wieder und wieder anschauen musste. Und jedes Mal, wenn er das tat, wehte ihn ein eiskalter Hauch an.

Das Bild, das er in dem alten Buch gefunden hatte, war das Foto eines Mannes und einer Frau. Sie standen so dicht nebeneinander, dass sie sich berührten. Ihre Körperhaltung drückte die Vertrautheit vieler gemeinsamer Jahre aus, aber gleichzeitig auch eine gewisse Distanz. Sie hätten vielleicht Berufskollegen sein können, oder Mitglieder der gleichen Kirchengemeinde oder des gleichen Sportvereins.

Aber das waren sie sicher nicht.

Die Frau war diejenige, die Coubert vor vielen Jahren im Piemont getroffen hatte, an der Seite des Mannes, den er für einen Mörder hielt. Sie sah etwas älter aus als damals, die Haare eine Spur kürzer, der Körper etwas gerundeter und nicht mehr mit jener morbiden Ausstrahlung von damals. Sie wirkte aber immer noch genauso attraktiv – vielleicht sogar noch attraktiver.

Der Mann aber, der so vertraut neben ihr stand, war ganz ohne Zweifel er selber, Liam Coubert.

Das Blut rauschte in seinen Ohren und schien den Straßenlärm zu übertönen.

Es konnte nicht sein.

Er zwang sich zu Ruhe, betrat eine kleine Kaffeebar, stellte sich am Tresen an. Das Paar vor ihm konnte sich nicht entscheiden, schwankte zwischen Latte Macchiato und irgendeinem Tee mit Aromazusatz. Als er an der Reihe war und die Verkäuferin ihm einen Blick aus eisblauen Augen schenkte, nahm er Milchkaffee. Er trug ihn hinaus zu einem der wenigen Stühle vor dem Lokal, die noch frei waren, und setzte sich, nah an den fließenden, niemals endenden Verkehr der Kunststraße. Die Stühle waren an der Fassade des Hauses aufgereiht, immer zwei nebeneinander, mit einem kleinen Tisch dazwischen.

Der Kaffee brachte ihn zurück in die Realität. Beim zweiten Schluck arbeitete sein Gehirn schon wieder normal. Er sah sich das Foto noch mal an.

Es war klein, entsprach keinem der gängigen Formate. Die Kanten wirkten, als wäre es aus einem größeren Bild ausgeschnitten worden. Die Oberfläche war hochglänzend. Das Bild war ziemlich dunkel, der Vordergrund durch einen Blitz erleuchtet. Er und die Frau standen vor einem Haus, das im Hintergrund nur schwer auszumachen war.

»Kann ich etwas für sie tun?«

Er blickte auf. Es war die Verkäuferin, die ihm gerade den Kaffee verkauft hatte. Sie blickte auf ihn herab, das Gesicht fragend besorgt. Kleine Falten hatten sich auf ihrer ansonsten glatten Stirn gebildet. Coubert schätzte sie auf Anfang zwanzig.

»Sie wirkten vorhin so ... abwesend. Fehlt Ihnen etwas?«

Coubert lächelte sie an. Nicht sein normales Lächeln, das war ihm abhanden gekommen, sondern ein verzerrtes, gefälschtes. Der Schatten eines Lächelns, aber offenbar immer noch gut genug, um ihn anziehend wirken zu lassen und die junge Frau zu beruhigen. »Mir geht es gut. Aber danke der Nachfrage.« Er sah ihr hinterher, wie sie zurück in den Laden ging. Sie bewegte sich gut, sehr geschmeidig, wie ein Tier in der freien Wildbahn. Daran und an ihr langes, blondes Haar würde er sich später erinnern, wusste er.

Das Haus auf dem Bild. Es schien groß und aus rotem Sandstein in einem Stil erbaut zu sein, wie in den Weindörfern der Pfalz die reicheren Winzer im späten neunzehnten Jahrhundert ihre Häuser gebaut hatten. Davor ein Zaun aus Metallstäben. Dahinter Bäume, Wald, Park oder Garten, die Größe der Fläche war schwer zu schätzen. Irgendwie kam ihm die Szenerie so bekannt vor, als sei er in einem anderen Leben schon einmal dort gewesen.

Er drehte sich um, schaute durch das Schaufenster ins Lokal. Das Tresenmädchen lächelte ihm zu.

Coubert trank aus. Es war lange her, dass eine Frau Notiz von ihm genommen hatte. Das lag nicht an seinem Äußeren – tatsächlich war ihm klar, dass er von vielen Frauen als attraktiv eingestuft wurde. Aber er war in den letzten Jahren allem aus dem Weg gegangen, was eine persönlichere Bindung ergeben hätte. Er hatte ein paar alte Freunde, aber die meisten waren weit weg, und er hielt lediglich brieflichen Kontakt mit ihnen. Er wollte nicht, dass andere ihn sahen, wenn er einen seiner Anfälle hatte. Nach all den Jahren war es immer noch nicht selbstverständlich für ihn, dass er zeitweise ohne Kontrolle über seinen Körper war. Die Krankheit hatte ihm den Weg aus der Legion freigemacht, dafür war sie gut gewesen. Obwohl er sie mit Medikamenten einsperren konnte wie ein wildes Tier im Käfig, schwebte sie immer wie eine unsichtbare Drohung über ihm. Und wenn sie auftrat, dann nahm sie ihm alle Würde – so empfand er das –, und darum schickte er sich in seine selbstgewählte Isolation.

Coubert stand auf, winkte der Frau zu. Sein Lächeln diesmal war echt. Sie nickte grüßend zurück.

Sein Kopf wurde jetzt immer freier. Es gab nur ein paar Möglichkeiten, was den Ursprung des Bildes anbelangte. Entweder war es gefälscht. Oder er war gar nicht der Mann auf dem Bild.

Er blickte die Straße hinunter. Das Schaufenster des Ladens an der Ecke. Es war ein Geschäft für Friseurbedarf. Die Bedienung, die offenbar selber viel Zeit auf ihre Haare verwandte, blickte gelangweilt in den Straßenverkehr. Ihre Augen waren auf einen Punkt sehr weit weg gerichtet. Coubert ging auf sie zu. Seinerseits veränderte sich die Sicht, er fokussierte plötzlich auf das Glas des Schaufensters. Der Atem stockte ihm, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Unvermittelt blieb er stehen.

Eine ältere Frau mit krummem Rücken und vollen Einkauftaschen, die hinter ihm gegangen war, konnte gerade noch anhalten. In Mannheimer Mundart leise schimpfend, den Blick zu Boden gesenkt, ging sie in einem kleinen Bogen an ihm vorbei. Graue Locken wurden über die Gedankenlosigkeit der Mitmenschen geschüttelt.

Was Coubert in der Scheibe gesehen hatte, war wohl das Spiegelbild eines Spiegelbildes gewesen. Fast nur ein Schemen, war es blitzschnell aus seinem Gesichtsfeld entschwunden.

Der Mann. Der Mann, den er vor vielen Jahren im Piemont getroffen hatte und den er für einen sadistischen Mörder hielt, war hier in der Stadt. Und an seiner Seite war eine Frau, sehr ähnlich seiner Gefährtin von damals.

Blitzschnell fasste er sich, ging schneller, bog um die Ecke. Von hier aus konnte er die kurze Straße einsehen, die zu der Haupteinkaufstraße der Stadt führte, die sich vom Wasserturm zum Paradeplatz hinzog.

Ein Punk, die Haare kurz und kanariengelb. Ein alter Mann an einem Gehstock. Zwei Schülerinnen, etwa zehn Jahre, mit dicken, schweren Schultaschen. Kein hochgewachsenes, schlankes Paar.

Coubert lief schnell weiter, bis zur nächste Ecke, blickte die Planken hinauf bis zum Wasserturm und hinunter bis über den Paradeplatz hinaus. Nichts. Was er gesehen hatte – oder gesehen zu haben glaubte – war verschwunden. Es konnte nicht sein. Er begann, an seiner Wahrnehmung zu zweifeln. Und wie immer, wenn etwas bei ihm außerhalb normaler gesundheitlicher Rahmenbedingungen ablief, stellte er die Frage nach den Auswirkungen seiner Krankheit. Vielleicht sollte er mit dem Doktor reden. Vielleicht stimmte etwas nicht mit seiner Medikamenteneinstellung.

Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman

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