Читать книгу Mein großes Geheimnis - Buzz Bissinger - Страница 9
ОглавлениеOrtstermin in Vista, Kalifornien. Ich bin hier, um mich mit einem Elternpaar zu treffen, dessen Transgender-Sohn sich im Teenageralter umgebracht hat, weil er in der Schule und in den sozialen Medien gemobbt und drangsaliert wurde und zudem eine schwere Depression hatte.
Ich versuche mir auszumalen, welche Qualen er durchlitten hat, aber ich kann es nicht. Er war vierzehn Jahre alt. Vierzehn. Auch den Schmerz seiner Eltern und seiner Schwester kann ich mir nicht annähernd wirklich vorstellen.
Zugegeben, die ersten Monate nach der Transition habe ich in Wolkenkuckucksheim gelebt. Die Euphorie über die Verwandlung in Caitlyn erfüllte mich so sehr, dass ich die massiven Probleme unserer Community zuerst gar nicht wahrnahm. Dann begann ich, mich mit Studien zu beschäftigen. Zahlen zeigen aber nur, was ist. Sie verraten gar nichts.
Erst wenn man einer Mutter in die Augen sieht, deren Transgender-Sohn Selbstmord begangen hat, wenn man hört, wie sie sich fragt, was sie hätte anders machen können, obwohl es da nichts gibt – dann versteht man, dass die Transition nicht nur den Betreffenden selbst verändert, sondern die ganze Familie. Das Alter der Person, die eine Transition hinter sich hat, spielt keine Rolle, denn das Schicksal kann in jedem Alter zuschlagen. Und obwohl das Thema inzwischen stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist, haben wir trotzdem noch einen Marathon zurückzulegen, und ich glaube nicht, dass wir noch zu meinen Lebzeiten ans Ziel kommen werden.
Deswegen will ich jenen zuhören, die das Schicksal wirklich hart getroffen hat. Dazu gehört auch, ihnen zu sagen, dass es mir leid tut, obwohl dieser Ausdruck so hohl klingt. Ich muss meine eigenen Tränen vergießen. Aber all das stärkt meine Überzeugung, dass etwas getan werden muss.
In Vista begrüßen mich Katharine und Carl Prescott. Ihr Sohn Kyler hat sich am 18. Mai 2015 im Badezimmer seines Elternhauses selbst getötet. Seiner Mutter zufolge waren es nicht nur die Depression und das andauernde Cyber-Mobbing, die ihm das Leben zur Hölle machten, sondern auch Erwachsene, die sich weigerten, Kyler zu akzeptieren oder ihn mit dem richtigen Pronomen anzusprechen, obwohl er seinen Namen und seinen Personenstand bereits offiziell hatte ändern lassen.
Transgender im Teenageralter machen mir die meisten Sorgen, obwohl ich in letzter Zeit viele Förderprogramme für Kinder und Jugendliche, die genderqueer, gender-nonkonform oder transgender sind, besucht habe, die mir immer wieder Auftrieb geben. Aber die Sorgen bleiben.
Ein Blick in die Statistik zeigt es: Einer aktuellen Studie zufolge denken 51 Prozent aller Transgender-Jugendlichen über Selbstmord nach, und 30 Prozent haben zugegeben, es bereits versucht zu haben. Die Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Queer-Community (LGBTQ) hat schon immer wenig Unterstützung erfahren, und durch Cybermobbing haben sich die Probleme zusätzlich verschärft. Heute ist es noch schlimmer als früher, als Jungen und Mädchen irgendwo zusammen vor dem Klassenzimmer standen und über einen Mitschüler lästerten. Heute können sich Feiglinge hinter der Anonymität des Internets verstecken, aber die verletzenden und gehässigen Worte, die online gepostet werden, verschwinden niemals. Mein eigener Instagram-Account ist bereits ein schönes Beispiel: Wenn man sich die Kommentare dort ansieht, erkennt man, wieviel Bösartigkeit und Hass es in der Welt gibt. Wann immer ich etwas Positives über die Trans-Community schreibe, hagelt es sofort unbegreifliche Kommentare von transphoben, homophoben und rassistischen Usern.
Kyler hatte unglaublich viel Mut. Aber Mut allein reicht nicht. Erwachsene müssen dafür sorgen, dass Toleranz gelebt wird. Sobald irgendwo in einem sozialen Netzwerk gemobbt wird, stehen die Betreiber in der Pflicht, nicht nur die Postings sofort zu entfernen, sondern auch den Urheber auf der Stelle zu sperren. Die Verbreitung von Hass hat nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun. Hier geht es um die Freiheit der Wahl, um Selbstentfaltung und möglicherweise auch darum, Selbsttötungen zu verhindern.
„Es gibt nichts Schlimmeres, als das eigene Kind zu verlieren. Gar nichts“, sagte Katharine Prescott in einem Interview der New York Daily News. „Kyler war der liebste und sanfteste Mensch überhaupt. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Das einzige Wesen, das er verletzen konnte, war er selbst. Und wenn ich auch nur einer einzigen Familie helfen kann, einem einzigen anderen Transgender-Kid wie Kyler, dann will ich das tun – denn das muss aufhören.“
Katherine Prescott zeigt mir Fotos von Kyler. Sie erzählt mir, wie gern er Klavier gespielt hat. Sie zeigt mir ein Gedicht, dass Kyler über die Transition geschrieben hat. Sie redet voller Leidenschaft und Ergriffenheit, wie man sie nur spürt, wenn man an vorderster Front steht. „Ich habe gedacht, ich hätte alles Menschenmögliche getan, um seine Gender-Identität offen anzunehmen … aber mein Kind hat trotzdem Selbstmord gemacht, und ich tue mich sehr schwer damit, weil es mir so ungerecht erscheint.“
Später nehme ich mit der Familie und Kylers Freunden an einer Gedenkfeier teil, die an einem nahegelegenen Strand stattfindet, und wir lassen ihm zu Ehren Ballons aufsteigen. Die Kids stellen mir Fragen, wie ich das schon bei anderen Gelegenheiten erlebt habe, in Dubuque oder Brooklyn oder San Francisco. Ich antworte nach bestem Wissen und Gewissen und versichere ihnen: So schwer sie auch mit den verschiedensten Problemen kämpfen mögen, es wird nach und nach besser werden, egal, worum es sich handelt. Das mag sich abgedroschen anhören, aber ich glaube aufrichtig daran, dass es stimmt, solange Jugendliche Liebe und Unterstützung erfahren.
Wir müssen mehr tun. Ich muss mehr tun. Es ist ja nett, bei einer Oscar-Party mit Lady Gaga zu feiern, und ich bin sehr froh, dass sie meine Transition öffentlich so sehr unterstützt hat. Aber diese privaten Begegnungen mit Jugendlichen, die Rückhalt und Ermunterung brauchen, sind viel aufbauender.
Letztes Jahr habe ich bei einem Gottesdienst meine Handynummer einem Jugendlichen gegeben, der mit seiner Geschlechtsidentität kämpft und noch dazu Eltern hat, die sich damit sehr schwer tun. Er soll mich anrufen oder mir eine SMS schreiben, wenn etwas ist, habe ich gesagt, und das tut er auch.
Eine Mutter ist mit ihrer Trans-Tochter im Teenageralter von New Jersey zu mir geflogen, und wir haben bei mir zu Hause stundenlang geredet. Dazu lud ich eine Transfrau ein, die ich unter dem Namen Ella kennengelernt habe, und die kurz vor Abschluss der High School das Geschlecht gewechselt hat. Ich wollte, dass die Tochter sieht, dass Ella diese schwierige Zeit überstanden hat und jetzt gut zurechtkommt. Inzwischen folgen die beiden einander in den sozialen Medien.
Aber ich habe selbst Kinder, und deswegen kann ich mich auch mit den Ängsten der Mutter identifizieren – nicht nur hinsichtlich der Frage, ob ihre Tochter in der Schule und in der Gesellschaft akzeptiert wird, sondern auch wegen der Auswirkungen, die die Transition auf ihre eigene Beziehung hat. Ich erinnere mich, dass mich einmal jemand gefragt hat, wie ich damit umgegangen wäre, wenn eines meiner Kinder als Teenager das Geschlecht gewechselt hätte. Trotz meiner eigenen Transition bin ich mir sicher, ich hätte Angst gehabt, dass sich meine Tochter oder mein Sohn zu jemandem entwickelt, den ich nicht mehr kenne. Aber egal, wie schwierig das für mich gewesen wäre, ich hätte meinen Kindern nie im Weg gestanden. Die Mutter war erleichtert, als ich ihr vermitteln konnte, dass ihre Ängste vermutlich von allen Eltern geteilt werden.
Ich habe viele Tausend Briefe bekommen. Viele Menschen haben sich bei mir dafür bedankt, dass ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen bin, und haben mir geschrieben, dass es ihnen Mut für die eigene Transition gemacht hat. Manche haben auch erzählt, dass sie über Selbstmord nachgedacht haben und sich dann dagegen entschieden, weil ihnen meine Offenheit wieder einen Weg aufgezeigt hat.
Etwa vor einem Jahr kam ich mit einer Transgender-Frau aus South Dakota in Kontakt, die überzeugt war, dass sie wegen des transfeindlichen Klimas in ihrem Heimatstaat keine Arbeit findet. Erst kurz zuvor war dort heftig über eine Gesetzesvorlage gestritten worden, derzufolge Transgender-Schülern verboten werden sollte, sich nach dem gefühlten Geschlecht zu entscheiden, ob sie lieber die Jungs- oder Mädchentoiletten benutzen wollten; das Vorhaben scheiterte erst am Veto des Gouverneurs. Davon abgesehen waren in South Dakota weitere Gesetze in Vorbereitung, die sich gegen die LGBTQ-Community richteten. Sie hatte natürlich recht – die Atmosphäre war vergiftet.
„Niemand wird mich einstellen.“
Wir telefonierten mindestens ein Dutzend Mal. Als ich sie nach ihren Interessen fragte, erklärte sie, sich gut mit Make-up auszukennen und etwas in dieser Richtung machen zu wollen. Da ich gute Kontakte zu MAC Cosmetics hatte, schlug ich vor, dass sie sich nach Filialen des Unternehmens umsehen sollte, und versprach, dann bei der Geschäftsleitung anzurufen und mich für sie zu verwenden. Leider gab es keine MAC Stores in ihrer Nähe, und daher überredete ich sie, es doch einmal in einem Kaufhaus zu versuchen. Sie hatte schreckliche Angst vor dem Vorstellungsgespräch. Aber dann bekam sie den Job, und später schickte sie mir ein Video, auf dem sie vor lauter Glück in Tränen ausbrach.
Nichts davon macht mich zu etwas auch nur annähernd Besonderem. Es ist nur menschlich.
Man darf nie aufhören, sich für dieses Thema einzusetzen. In diesem Zusammenhang hat Chandi Moore einmal etwas sehr Wichtiges gesagt, das ich nie vergessen werde. Chandi ist die Transfrau, die später an I Am Cait, meiner Reality-Show im Fernsehen, entscheidend mitgewirkt hat, und sie hat viele Jahre im Children’s Hospital Los Angeles im Rahmen eines Förderprogramms zur Stärkung der Gesundheit mit Kindern gearbeitet, die trans oder gender-nonkonform sind. Gleich bei unserem ersten Treffen fiel sie mir ins Wort, wie das für Chandi so typisch ist, wenn es etwas gibt, das unbedingt gesagt werden muss.
„Man kann nicht jede Seele retten, aber man kann eine Seele nach der anderen retten.“
Ich verstand, dass man noch so oft über die großen Themen reden kann, und dass das auch wichtig ist, aber man muss auch auf persönlicher Ebene tätig werden. Das hat seine Grenzen. Natürlich kann ich nicht jeden Selbstmord verhindern, so sehr ich mir das auch wünschen würde. Aber ich weiß, wie entscheidend es sein kann, wenn man einen Menschen ganz direkt anspricht. Genau deswegen mache ich das auch immer wieder. Ich hoffe, dass andere in meiner Position sich anschließen werden. Wenn wir alle eine Seele nach der anderen retten, werden wir gemeinsam Tausende bewahren können.
Ich sehe den Ballons hinterher, die von dem schmalen Strand in den Himmel aufsteigen. In mir ist nicht nur Trauer, sondern auch Zorn. Das hier hätte nicht geschehen müssen, wenn sich unsere Gesellschaft ein wenig mehr um Akzeptanz als um Ablehnung bemühen würde, und um Inklusion statt Exklusion. Hört auf, Ausgestoßene aus uns zu machen. Wir sind eine sehr lebendige und vielfältige Community.
Unwillkürlich drängt sich mir das Bild auf, wie Kyler Prescott leblos auf dem Badezimmerfußboden liegt. Und wie seine Mutter ihn gefunden hat. Dann erinnere ich mich an das Gedicht, das er geschrieben hat. Es war nicht nur ungewöhnlich bewegend und schön für einen Vierzehnjährigen, es fing zudem genau ein, was ich stets gefühlt hatte, wenn ich in den Spiegel sah und mir jemand entgegenblickte, den ich nicht erkannte. Es beschrieb den Widerstreit in uns allen perfekt:
Mein Spiegel definiert mich nicht:
Nicht die Fremde, die mir entgegenblickt
Nicht das glatte Gesicht, das zu jemand anderem gehört
Nicht die Augen, in denen Traurigkeit schimmert
Wenn ich nach ihm suche und nur sie erkennen kann.
Mein Körper definiert mich nicht:
Nicht die schmalen Schultern, die nie anders sein werden
Nicht die Hüften, die mich verraten
Nicht die Brust, deren Anblick ich nicht ertrage
Wenn ich nach ihm suche und nur sie erkennen kann.
Meine Kleidung definiert mich nicht:
Nicht das T-Shirt und die Jeans
Die so perfekt an ihm aussehen würden
Und von denen ich weiß, dass sie mir niemals passen werden
Wenn ich nach ihm suche und nur sie erkennen kann.
Schon seit Jahren suche ich nach ihm
Aber ich scheine mich immer weiter von ihm zu entfernen
Mit jedem Tag, der verstreicht.