Читать книгу Stimme aus der Tiefe - Byung-uk Lee - Страница 5
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ОглавлениеBassam war schon immer bei uns gewesen. Ich bin sozusagen mit ihm aufgewachsen. Erst später erfuhr ich, dass er nicht mein leiblicher Baradar war. Meine Eltern dachten immer, dass sie keine Kinder bekommen konnten, daher haben sie sich Bassam geholt, aber dann kam ich, Djamal Hussein, zur Welt und für Bassam hatte sich schlagartig alles verändert.
***
„Das waren deine Eltern, die meinen kleinen Jungen entführt haben!?“ Entsetzt war Yassir von seinem Stuhl aufgestanden.
„Ja“, gestand Hussein leicht beschämt.
„Ich glaub das alles nicht. Was seid ihr für kranke Menschen“, fluchte Yassir ins Loch hinein. Er konnte sich kaum noch halten.
„Hören Sie auf so über meine Eltern zu reden“, entgegnete Hussein mit lauter Stimme, in der das höchste Maß an Selbstbewusstsein lag.
Yassir setzte sich im Schneidersitz auf den steinigen Boden und hielt sich angespannt die Stirn, hinter der es mächtig brodelte. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit, dass er mit dem Sohn der Entführer reden würde.
„Haben Sie sich wieder beruhigt?“, fragte der Gefangene.
„Er war damals noch ein Kind. Er war ja damals selbst noch ein Kind. Er kann nichts dafür“, wiederholte Yassir leise immer wieder diese Worte. Es erforderte große Anstrengung, bis er wieder die Fassung erlangte.
„Hören Sie, ich weiß, dass die Situation nicht einfach für Sie sein wird, aber egal was ich Ihnen erzähle, Sie müssen genau zuhören, und mich nicht ständig unterbrechen. Haben Sie mich verstanden?“
Ohne Widerworte blickte Yassir ins Loch. Der Boden unter ihm fühlte sich warm an. Was würde Nia dazu sagen? Er durfte ihr nicht davon erzählen, sonst würde sie am nächsten Tag mit Sicherheit mitkommen wollen, ohne dass er sie diesmal davon abhalten könnte. Diese schreckliche Erkenntnis würde sie wieder runterreißen. Ihre unbändige Wut und Enttäuschung würde sie wie einen Feuerball auf den Gefangenen schmettern.
Benommen trank Yassir noch einen großen Schluck aus der Wasserflasche und wischte sich den Mund ab.
„Ja, keine Unterbrechungen mehr, versprochen.“
***
Mein Vater, Siamak, und meine Mutter, Elham, liebten mich, wie man einen Sohn nur lieben kann. Mir fehlte es an nichts. Ich war ihr unerwartetes Geschenk, das vom Himmel gefallen ist, sagten sie immer. Auch Bassam hatten sie ihre Liebe geschenkt, aber mit meiner Geburt schwächte ihre Fürsorge für ihn zunehmend ab.
Wir lebten in einer kleinen Lehmhütte, die sich außerhalb des Dorfes befand. Viel Geld hatten wir nie besessen. Wir waren sogar bettelarm. Jeder Rial, den mein Vater verdiente, wurde für meine spätere Ausbildung gespart. Mein Vater, der auf dem Feld eines ansässigen Weizenbauern beschäftigt war, ging jeden Tag zur Arbeit, während meine Mutter das Haus hütete. Jeden Abend kam er Heim, mit schmutzigen Händen, die voller Schwielen waren. Er war ein tüchtiger Mann, der die schwersten Arbeiten nicht scheute und gut für uns sorgte.
Bassam und ich spielten häufig miteinander, aber schon als kleines Kind bemerkte ich, dass ihm etwas fehlte. Die fehlende Zuneigung seitens meiner Eltern wandelte sich immer mehr in Taten. Es begann damit, dass Bassam nicht mehr mit uns am Tisch essen durfte. Meistens hockte er auf dem dreckigen Boden oder ging hinaus, um sich auf einen Felsstein zu setzen. Die einzige Pritsche, die wir hatten teilten wir uns, wie eine Familie das nun mal macht. Bassam musste auf dem harten Boden schlafen. Das Essen, das er bekam, war auch schlechter. Meistens gab man ihm altes Brot oder sogar verdorbenes Fleisch, von dem er tagelang an Durchfall litt. Ich bemitleidete ihn, denn er war schließlich mein Baradar. Doch meine Eltern gaben mir zu verstehen, dass mein Mitleid unberechtigt war, bis ich es hinterher sogar für richtig hielt, ihn genauso zu behandeln.
„Er ist schlechter als du, mein Sohn“, sagte mein Vater.
„Wieso?“, fragte ich. „Er ist doch mein Bruder.“
Die Antwort war mehr als falsch, aber da ich noch ein Kind war, hielt ich sie für die Wahrheit. Denn ich glaubte alles, was mein Baba mir sagte.
„Weil er kein richtiger Hussein ist. Er gehört nicht zur Familie.“
Das reichte für mich als Erklärung vollkommen aus, obwohl ich damals nicht wirklich verstand, was er genau damit meinte. Sie duldeten es zwar, dass ich mit Bassam spielte, aber ich sollte nicht zu viel Zeit mit ihm verbringen. Während ich täglich die Dorfschule besuchte, musste Bassam meiner Mutter im Haushalt helfen. Einmal kam ich vom Unterricht heim und er saß auf dem Felsstein vor unserer Behausung. Schon von Weitem konnte ich ihn dort sitzen sehen. In gekrümmter Haltung lehnte er am warmen Stein. Erst als ich näher kam, sah ich, dass er weinte. Tränen liefen ihm unentwegt über die Wangen, die er sich beschämt, als er mich kommen sah, mit den Ärmeln seines grau gestreiften Gewands wegwischte.
„Was ist passiert?“, fragte ich erstaunt, da ich ihn vorher noch nie weinen gesehen habe, obwohl er täglich den Schikanen meiner Eltern ausgesetzt war.
„Nichts“, log Bassam und dabei ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen.
„Das glaub ich dir nicht.“
Er fing wieder an zu schluchzen.
„Elham hat mich geschlagen“, meinte er.
„Das glaub ich dir auch nicht, du lügst doch.“ Wütend starrte ich ihn an.
„Doch es stimmt“, erzählte er weiter. „Ich habe versehentlich beim Wasserholen den Tonkrug zerbrochen. Da ist sie laut geworden und hat mir eine Ohrfeige gegeben.“
Obwohl sein Anblick mir leid tat, hielt ich die Bestrafung für richtig. Denn ich dachte immer, dass meine Madar schon ihre Gründe hatte, Bassam so zu erziehen.
„Sei nächstes Mal etwas vorsichtiger“, sagte ich, während ich ihm auf die Schulter klopfte.
Zu meinem achten Geburtstag schenkte mir mein Baba ein selbst gemachtes Schahbrett. Ich freute mich dermaßen darüber, dass ich es sogar mit zur Schule nahm, um es meinen Freunden zu zeigen.
„Wenn ich von der Arbeit komme, werde ich dir die Regeln beibringen“, versprach er.
„Danke, Baba.“ Ich umarmte meinen Vater, der sich ein herzhaftes Lachen verkneifen konnte.
Bassam kam gerade zur Tür hinein und sah das Brett auf dem Tisch. In beiden Händen hatte er Tonkrüge, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt waren. Seine Arme zitterten, sodass ein wenig Wasser über die Ränder schwappte und den Boden befeuchtete.
„Kannst du nicht aufpassen“, schimpfte Siamak und schlug ihm mit der Handfläche auf den Hinterkopf.
Bassam erschrak und ließ beide Krüge fallen, die scheppernd auf dem Boden zerbrachen. Meine Mutter stand am Herd und blickte ihn entsetzt an. Wütend zog sich mein Baba den Gürtel aus und legte Bassam übers Knie. Das Peitschen bei jedem Schlag verursachte mir eine Gänsehaut.
„Bitte Baba, ich werde es nicht noch mal tun!“, schrie Bassam verzweifelt. Sein Gesicht hatte sich vor Schmerz unnatürlich verzerrt.
„Ich bin nicht dein verdammter Baba“, sagte mein Vater und schlug noch fester zu.
„Bitte Siamak, es kommt nicht wieder vor“, flehte Bassam.
Ich konnte nur daneben stehen und dabei zusehen, wie mein Vater ihn bestrafte. Bis ich es nicht mehr aushielt und mir beide Hände auf die Augen presste. Als ich nichts mehr hörte, nahm ich sie weg. Bassam war in eine Ecke des Zimmers gelaufen, wo er neben dem Ofen aus Gusseisen kauerte und weinte. Mein Vater aß seelenruhig weiter sein Brot, während meine Mutter begann, die Scherben wegzuräumen. Böse blickte sie zu Bassam, der sein Gesicht ängstlich hinter den verschränkten Armen versteckte, die dürr und an einigen Stellen mit Schmutz überzogen waren.
Der Brunnen vor unserem Haus konnte uns nur begrenzt mit Wasser versorgen. Waschen mussten wir uns trotzdem. Bei den hohen Temperaturen schwitzte man den ganzen Tag und der Gestank war nachts kaum auszuhalten. Dennoch wuschen wir uns nur einmal wöchentlich. Bassam durfte sich nur waschen, wenn er die Erlaubnis meiner Eltern erhielt, die er nur bekam, wenn er so sehr stank, dass man es im Haus kaum aushielt. Meistens waren sie darüber sehr verärgert und schimpften mit ihm.
„Wir stinken doch genauso, wenn wir uns nicht waschen“, verteidigte ich ihn.
„Das ist was anderes“, sagte mein Vater. „Bassam ist ein Sonderfall.“
Ein Sonderfall so nannte er ihn tatsächlich.
Bassam und ich legten unsere Kleider ab. Er war bis auf die Knochen abgemagert. Seine dürren Beine zitterten trotz der Hitze, die Haut hatte sich wie ein Zelt straff über jede Rippe gespannt. Prüfend blickte das knochige Gesicht die Umgebung ab. Die blauen Flecken am Hintern bemerkte ich erst später. Zu sehr hatte mich sein nacktes Antlitz erschüttert.
Nachdem Elham jeweils einen Eimer Wasser über uns ausgekippt hatte, rieb er sich mit einem Stück Seife ein, das er mir reichen wollte. Doch meine Mutter gab mir ein neues Stück. Wieso sie das tat, begriff ich erst Jahre später.
Liebevoll trocknete sie mich ab und kniff mir in die Nase, während Bassam zitternd beide Arme um den Oberkörper geschlungen hatte. Missgelaunt schmiss sie ihm das Handtuch vor die Füße, mit dem sie mich bereits abgetrocknet hatte.
„Dafür bist du jetzt alt genug“, sagte Elham.
Am noch feuchten Handtuch klebte Sand. Trotzdem hob es Bassam vom Boden auf und benutzte es. Dabei rieb er sich den ganzen Sand über den Körper.
Die Sonne war schon fast untergegangen, als ich von Weitem meinen Vater kommen sah.
„Baba!“, rief ich und lief ihm entgegen.
Seine Stirn glänzte vor Schweiß. Lachend hob er mich mit seinen kräftigen Armen in die Höhe.
„Schön dich zu sehen, mein Sohn“, sagte er, während er mich durch die Luft wirbelte.
Ich kicherte laut und bemerkte, dass meine Mutter verlegen eine Hand vor den Mund hielt, um ihr Lächeln zu verdecken.
Den restlichen Weg zur Lehmhütte trug er mich auf den Schultern, obwohl er müde aussah. Bassam stand wie angewurzelt da und sagte kein Wort. Ohne zu grüßen lief mein Baba an ihm vorbei und gab meiner Mutter einen Kuss. Gemeinsam gingen wir in die Hütte. Bassam blieb alleine draußen stehen und setzte sich auf den Felsstein. Sehnsüchtig schaute er sich den Sonnenuntergang an. Er war sogar noch draußen, als wir zu dritt am Tisch saßen und mein Vater das Brot in Stücke riss.
„Komm endlich rein“, rief er Bassam irgendwann zu. „Der verlauste Bengel treibt mich noch in den Wahnsinn.“
Selbst wenn Bassam nichts angestellt hatte, fluchte mein Vater über ihn. Mit gesenktem Kopf betrat Bassam die Hütte und griff sich ein Stück Brot vom Tisch, das er mit in seine Ecke neben dem Gussofen nahm. Still aß er dort, während er gelegentlich zu uns rüberblickte. Sobald mein Vater ihn scharf ansah, ließ er wieder den Kopf sinken.
„Los, geh Holz holen“, brummte Siamak unzufrieden.
Unverzüglich ging Bassam hinaus. Befehle von meinen Eltern wurden schnell ausgeführt, was ihm durch viele Strafen anerzogen worden war. Meine Familie hatte die Angewohnheit beim Essen sehr wortkarg zu sein. Geredet wurde bei uns überhaupt sehr selten. Jeder sich andeutende Konflikt wurde durch eisernes Schweigen verdrängt. So lebten wir jahrelang. Nur wenn es um Bassam ging, konnten sie laut werden.
Ich holte das Schahbrett aus meiner Schultasche, während meine Mutter anfing den Tisch abzuräumen. Bassam stand draußen, wo er Äste von vertrockneten Sträuchern abbrach, die er anschließend in einen Flechtkorb legte.
„Du hast es mir versprochen“, bettelte ich und hielt meinem Baba das Schahbrett entgegen.
Mit einem Nicken stimmte er mir schließlich müde zu und brachte mir die Regeln bei.
„Das Spiel erfordert Grips und List“, begann mein Vater, während er die Holzfiguren aufstellte. „Du musst deinem Gegner immer einen Schritt voraus sein und ihn zu Fehlern zwingen. Der Schah und die Dame werden zu Beginn in die Mitte gestellt… “
Es dauerte eine Zeit bis ich die Regeln vollständig begriffen hatte, obwohl sie mir mein Vater ausführlich und lange erklärt hatte. Das erste Spiel gewann er, wie auch das zweite. Bassam betrat mit dem Korb die Hütte und begann, das Feuer zu schüren, das uns in den kalten Nächten Wärme spendete. Immer wieder schaute er neugierig auf den Tisch. Meine Mutter schlief bereits auf der Pritsche, als wir die dritte Partie begannen. Die trockenen Äste knisterten im Ofen und es breitete sich eine wohlige Wärme im ganzen Raum aus.
„Du wirst besser“, meinte mein Baba nach den ersten Zügen.
Seine Worte machten mich so stolz, dass ich übers ganze Gesicht strahlte.
Schweigend stand Bassam neben dem Tisch und verfolgte unser Spiel.
„Hast du nichts zu tun!?“, schimpfte mein Vater, als er bemerkte, dass Bassam schon eine Weile gedankenversunken auf das Brett starrte. „Das ist nichts für dich. Du bist zu dumm dafür.“
Ängstlich zog Bassam sich in seine Ecke zurück und schloss die Augen. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb, bis er in den tiefen Schlaf gefallen war.
„Ja, gewonnen“, rief ich vor Freude, als ich meinen Vater Schachmatt setzte und Bassam durch meinen Aufschrei hochschreckte. Neckisch lächelte mein Baba mich an, sodass ich meine Zweifel bekam, ob er mich nicht vielleicht gewinnen ließ.
„Du hast extra verloren“, beschuldigte ich ihn.
„Nein, hab ich nicht“, beschwichtigte mich Siamak. „Du hast das Spiel halt schnell verstanden und bist besser geworden.“
Ich wollte mich nicht mit ihm streiten, deswegen beließ ich es dabei. Bis heute habe ich allerdings meine Zweifel, ob ich wirklich die dritte Partie gewonnen habe oder mein Vater mir einfach ein Erfolgserlebnis schenken wollte.
***
„Kannst du es mir beibringen?“, fragte Bassam und sah mich mit großen Augen an.
„Du hast doch gehört, was Siamak gesagt hat“, meinte ich. „Du wirst es nicht verstehen.“
„Bitte, zeig es mir. Ich will es wenigstens versuchen.“
Da meine Mutter ins Dorf gegangen war und mein Vater noch auf dem Feld arbeitete, ließ ich mich von Bassam überreden, der sich aufgeregt an den Tisch setzte. Misstrauisch über seine Euphorie begann ich die Holzfiguren aufzustellen, so wie es mir mein Baba gezeigt hatte.
Bassam verfolgte aufmerksam jede Handbewegung, als wenn er so die Geheimnisse des Schahspiels entschlüsseln konnte. Ich stellte sogar seine Figuren auf, weil ich es ihm nicht zutraute.
„Willst du die Schwarzen oder Weißen?“, fragte ich das Brett vor- und zurückschiebend.
„Die Schwarzen“, antwortete Bassam, wobei er seinen Blick nicht vom Schahbrett losreißen konnte.
Er verstand die Regeln erstaunlich schnell, sogar schneller als ich, was mich sehr wunderte. Daher fragte ich mich, wie mein Vater sich täuschen konnte. Vielleicht war Bassam nicht so dumm, wie wir alle dachten.
Wir spielten vier Spiele und alle gewann er. Mit jeder Niederlage wurde ich zorniger. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie mich Bassam so demütigen konnte. Wohlüberlegt tat er jeden Zug und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger auf sein Kinn. Die List, die man für dieses Spielt benötigte, schien er zu haben. Neidvoll sah ich dabei zu, wie er jeden Zug von mir zunichte machte oder zu seinem Vorteil kehrte, bis ich beim letzten Spiel die Geduld verlor.
„Du mogelst doch!“, brüllte ich und schmiss das Brett vom Tisch. Die Figuren rollten in verschiedene Richtungen. Einige unter die Pritsche, andere sogar unter den Gussofen.
„Nein, das stimmt nicht“, verteidigte sich Bassam.
„Doch, du hast mich betrogen!“, schrie ich.
Bassam schwieg und begann, die Figuren vom Boden aufzuheben, während ich enttäuscht aus dem Haus lief. Seitdem habe ich lange Zeit keine einzige Partie mehr gegen ihn gespielt.
Die darauffolgenden Tage redete ich mit ihm kaum, obwohl er nichts falsch gemacht hatte. Bassam erledigte die Aufgaben, die Elham ihm auftrug und wurde gelegentlich von meinem Baba zurechtgewiesen. Ansonsten schlief er viel, bis meine Mutter ihn wieder weckte, damit er weitere Hausarbeiten verrichten konnte.
„Kannst du nichts richtig machen!?“, brüllte ihn mein Baba eines Tages an. „Du bist zu nichts zu gebrauchen, zu nichts. Hast du mich gehört!“
Da Bassam hungrig war, hatte er sich hastig ein Stück von dem frischeren Brot genommen. In den Augen meines Babas ein schweres Vergehen. Denn die guten Lebensmittel durfte er nicht essen.
„Es war keine Absicht, Siamak“, stöhnte er, während er sich schützend seine Hände auf den Kopf legte.
Ich war noch wegen des Schahspiels wütend auf Bassam und wollte ihn daher nicht mehr verteidigen. Mit verschränkten Armen sah ich dabei zu, wie Siamak ihn grob an die Schulter packte. Heute kann ich nicht verstehen, wie ich so herzlos und bösartig sein konnte. Ich war nun mal ein Kind, die manchmal sogar grausamer als jeder Erwachsene sein konnten.
„Das passiert nicht noch mal“, meinte mein Baba warnend, während er Bassam drohend anblickte und ihm das Brot langsam entriss.
Wenn ich heute zurückblicke, erfüllt mich mein Herz mit Reue. Wieso nur haben wir unseren Bassam so schlecht behandelt? Es ist eine Frage, die mich jetzt noch quält.
***
Immer noch saß Yassir im Schneidersitz auf dem Boden. Die Fassung, die er kurzzeitig wiedererlangt hatte, hatte sich verflüchtigt.
„Was habt ihr meinem Sohn angetan?“, sagte er zunächst leise. „Was habt ihr ihm nur angetan!?“ Nun schrie er ins Loch hinein. Seine Finger griffen angespannt um die Gitterstäbe. Von unten kam eine Zeit lang keine Antwort.
„Es ist fast dunkel. Sie sollten jetzt besser nach Hause fahren.“
Yassir spürte plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.
„Er hat recht. Es ist Zeit zu gehen“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Erschrocken fuhr Yassir herum. Einer der beiden Polizisten stand plötzlich da. So sehr hatte ihn die Erzählung des Gefangenen entsetzt, dass er das Motorengeräusch des Polizeiautos nicht wahrgenommen hatte.
„Nein, warten Sie.“ Aufgebracht riss sich Yassir los. „Ich muss noch mit ihm reden. Hörst du mich da unten!“
Doch die einzige Antwort, die er bekam, war seine eigene Stimme, die als Echo wieder vom Grund hinauf hallte.
„Das bringt nichts“, meinte der Polizist. „Wenn der nichts sagen will, bekommen Sie nichts aus dem heraus. Selbst wenn man ihm die Scheiße aus dem Leib prügelt.“
Yassir raufte sich die Haare und erhob sich.
„Wenn Sie jetzt nicht kommen, fahre ich einfach ohne Sie los“, warnte der Polizist und machte sich wieder auf den Weg zum Dienstwagen.
Die Sonne war schon zur Hälfte untergegangen. Es sah so aus, als wenn sie vom Erdboden verschluckt worden war. Stiller kam es Yassir hier vor als am Vortag. Ein leichter Wind umwehte seine Nasenspitze und unter seinen Sohlen knirschte das Gestein. Müde ließ sich der Polizist hinter das Steuer fallen, während Yassir die Hintertür öffnete.
„Sie können auch vorne sitzen, wenn Sie wollen.“
Erst durch die dumpfe Innenbeleuchtung des Autos erkannte Yassir, dass der größere Polizist nicht anwesend war.
„Nein, danke“, lehnte er ab.
Der Mann zuckte mit den Schultern und fuhr los.
„Ach da fällt mir ein, dass der Polizeichef Sie sprechen wollte. Wenn es Ihnen keine Umstände macht, bringe ich Sie zuerst zum Präsidium, bevor ich Sie nach Hause fahre.“
Gedankenverloren blickte Yassir aus dem Seitenfenster. Längst überhört hatte er die Worte.
***
Noch zu später Stunde saß Polizeichef Iraj am Schreibtisch, wo er konzentriert einige Dokumente studierte. Hin und wieder legte er ein Blatt nieder, um darauf seine Signatur zu hinterlassen. Erst spät blickte er auf und bemerkte, dass Yassir in der offenen Tür stand.
„Aghaye Navid, sagen Sie doch etwas. Bitte treten Sie ein.“ Ein warmes Lächeln verzierte seine Lippen.
Wortlos betrat Yassir das Büro und blieb direkt vor Iraj stehen.
„Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Sie noch einmal sprechen wollte.“
„Ja, das tue ich.“
Das Lächeln Irajs verblasste langsam und die gewohnte Ernsthaftigkeit trat wieder zum Vorschein.
„Ich bin von Natur aus ein neugieriger Mensch, Aghaye Navid“, fing der Polizeichef seine Rede an. „Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich habe ständig das Bedürfnis, über alles und jeden Menschen gut informiert zu sein. Ich brauche Informationen sozusagen, wie die Luft zum Atmen.“
„Welche Informationen fehlen Ihnen denn, Aghaye Iraj?“
„Zum Beispiel, was hat dieser Bursche mit Ihnen vor? Was erhoffen Sie sich von den Treffen mit ihm?“
Yassir fühlte sich zu kraftlos für ein solches Gespräch, daher versuchte er mit Mühe den Respekt zu wahren.
„Natürlich will ich meinen Sohn wiederfinden. Das ist mein einziges Ziel.“
„Vielleicht wäre es besser, wenn Sie die Sache auf sich beruhen lassen. Der Richter hatte zwar seine Zustimmung für ein solches Arrangement gegeben, aber ich hielt es von Anfang an für reine Zeitverschwendung.“
„Das können Sie nicht von mir verlangen“, sagte Yassir. „Das ist die einzige Chance meinen Sohn wiederzufinden. Wenn ich die nicht nutze, werde ich es bis ans Ende meines Leben bereuen.“
Iraj atmete einmal tief durch. Sein Blick drückte mitleidiges Bedauern aus.
„Vielleicht habe ich mich gerade nicht deutlich ausgedrückt, als ich meine Frage stellte. Wie hoch denken Sie sind Ihre Chancen Ihren Sohn wiederzufinden?“
„Was sollen diese Fragen?“ Nun wurde Yassir etwas lauter. Er befand sich am Ende seiner Kräfte und das Gespräch zehrte an seinen bereits angeschlagenen Nerven.
Eine Zeit lang schwiegen beide.
„Wissen Sie etwas, was ich nicht…“
„Ich möchte Sie nur vor diesen Hussein warnen. Er ist ein sehr gerissener Bursche. Ehe Sie sich versehen, können Sie zur Marionette seines listigen Spiels werden. Also bitte ich Sie, sehen Sie sich vor.“ Iraj war ihm direkt ins Wort gefallen.
„Wissen Sie etwas, was ich nicht weiß?“
Angespannt nahm er sich die Schirmmütze vom Kopf, die er mit beiden Händen zerknüllte. In gewohnter Manier zog Iraj seine Stirnfalten hoch, das machte ihn älter. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, das ist alles.“
***
„Morgen um zehn werde ich Sie wieder abholen“, kündigte der Polizist an, als er in die kleine Gasse einbog. „Mein Name ist übrigens Mehran und mein Kollege, der heute nicht mitkommen konnte, heißt Omid.“
Argwöhnisch blickte Yassir durch das schwarze Gitter.
„Ich dachte nur, das wäre angebracht, da wir uns die nächsten Tage sehen werden“, fing Mehran an zu stottern, als Yassir immer noch schwieg.
Das Auto verlangsamte sich und blieb schließlich vor seiner Behausung stehen. Drinnen brannte Licht. Nia war noch wach und erwartete wieder eine Antwort. Am liebsten wollte Yassir weiterfahren, um die Nacht in einem Hotel zu verbringen. So sehr fürchtete er ihre Reaktion. Wut, Hass und Enttäuschung würden wieder in ihr aufleben, wenn sie wüsste, wie Bassam gelitten hatte. Doch dann stieg er aus und Mehran fuhr weg. Sehnsüchtig blickte Yassir dem Wagen nach.
Nia stand im Badezimmer, wo sie sich ihre Haare kämmte und sich dabei im Spiegel betrachtete. Eine ganze Weile stand Yassir hinter ihr und beobachtete sie. Er fand sie trotz ihrer grauen Strähnen und Fältchen im Gesicht immer noch wunderschön. Jeden Tag dankte er Allah dafür, dass er Nia begegnet war. Auch in Zeiten, in denen sie ihm ständig Vorwürfe wegen Bassam gemacht hatte, war er dankbar sie als Frau zu haben. Als sie ihn bemerkte, trat sie näher und küsste ihn sanft auf die Lippen. Sie nahm ihn an die Hand und führte ihn in die Küche. Die Ruhe, die sie ausstrahlte, überraschte Yassir, so dass er nicht einschätzen konnte, was ihn erwarten würde. In den letzten Tagen hatte sie sich ernorm gewandelt. Ein falsches Wort würde alles wieder zerstören.
„Setz dich und erzähl mir alles“, meinte sie.
„Nia, ich weiß nicht, was ich dir da sagen soll.“ Ratlos strich Yassir ihr über die Schulter.
„Irgendetwas, was mir wieder Hoffnung schenkt.“
„Er hat mir bisher nicht verraten, wo Bassam ist, nicht mal andeutungsweise. Er hat mir nur erzählt, wie er unseren Sohn kennengelernt hat. Erst wenn ich seine Geschichte gehört habe, wird er es mir sagen.“
Yassir wollte aufstehen, doch sie ergriff seine Hand, die sich weich anfühlte.
„Dann werde ich morgen mitkommen. Ich werde mit ihm reden. Er wird eine trauernde Mutter besser verstehen, als dich.“
„Das geht nicht. Er hat es verboten“, log Yassir nervös. „Eine Bedingung von ihm war, dass nur ich anwesend bin, wenn er mit mir redet, sonst wird er schweigen.“
Abrupt ließ Nia seine Hand los und die Sanftmütigkeit verschwand aus ihrem Gesicht. Sie verließ die Küche und ließ ihn allein.
Während der Nacht schlief Yassir kaum. Sein Kopf war voller Gedanken, vielmehr voller Sorgen. Nia, die mit dem Rücken zu ihm gewandt auf dem Bett lag, hatte nach dem Gespräch in der Küche, kaum mehr ein Wort mit ihm gewechselt. Keuchend stützte sich Yassir auf und saß eine Weile auf der Bettkante, von wo er das Foto auf dem kleinen Nachtschrank betrachtete. Es war nur einen Monat vor Bassams Entführung geschossen worden. Darauf war zu sehen, wie er Bassam, der in T-Shirt und einer bunten Sommerhose gekleidet war, auf dem Arm trug. Das Gesicht des Jungen strahlte vor Freude. Einige seiner schwarzen Locken hatten seine Stirn bedeckt. Nia stand daneben und drückte Bassam einen Kuss auf die Wange. Bei dem Anblick kamen Yassir fast die Tränen. Er versuchte seine Trauer zu unterdrücken, weil Nia ihn nicht so sehen sollte.
Er verließ den Raum, um sich in die Küche zu setzen. Das Foto nahm er mit. Auf dem Stuhl sitzend hielt er den Messingrahmen und die Sehnsucht nach seinem Sohn wuchs ins Unermessliche. Alles würde er die nächsten Tage für Bassam auf die Schulter nehmen. Dafür würde er jede qualvolle Wahrheit, die Hussein ihm geben würde, ertragen. Sein Entschluss stand fest: Diesmal wollte er dafür sorgen, dass sie wieder eine glückliche Familie sein würden.
Drei Stunden vor Mehrans Ankunft ging Yassir noch einmal aus dem Haus. Eine beruhigende Stille lag über der Stadt. Nur wenige Menschen kamen ihm in den engen Gassen entgegen. Aus der Ferne lockte ihn bereits die Stimme des Muezzins, die die morgendliche Ruhe wie ein Schwert durchschnitt.
Jungen mit bunten Rucksäcken auf dem Rücken kamen ihm laut schreiend entgegen gerannt. Sie waren vermutlich auf dem Weg zur Schule. In jedem ihrer kleinen Gesichter erkannte Yassir seinen Bassam. Es schmerzte ihn, sodass er sie nicht lange ansehen konnte.
Die Moschee war nicht mehr weit und die Stimme des Muezzins wurde lauter. Nicht besonders groß war das Gebäude, aber es wirkte trotzdem pompös. Braungelbe Backsteine waren mit unglaublicher Präzision aufeinandergesetzt worden. Lange, schmale Türme umzingelten die runde Kuppel, wie einen Gefangenen.
Yassir zog seine Schuhe aus, wusch sich die Füße und betrat das Gebäude. Die wenigen Menschen, die da waren, knieten auf bunt verzierten Teppichen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er das letzte Mal eine Moschee betreten hatte. Diesmal waren seine Sorgen so groß, dass er es für notwendig hielt, Allah um Unterstützung zu bitten. Er hoffte, durch den Glauben neue Kraft zu schöpfen, die ihm helfen sollte, die nächsten Tage zu überstehen. Obwohl die Moschee von außen eher klein wirkte, war sie innen erstaunlich geräumig. In einem schneeweißen Gewand gekleidet stand der Imam in der Mihrab und hatte eine ebenso weiße Kappe auf. Er blickte Richtung Mekka und hatte seinen Rücken den Betenden zugewandt, während er Verse aus dem Koran rezitierte, die von den glänzenden Kacheln der Mihrab zurückschallten und so den ganzen Gebetssaal erfüllten. Es kam Yassir vor, als spräche Allah direkt zu ihm.
Die Besucher der Moschee verbeugten sich gleichzeitig, wie Weizenähren, die vom Wind erfasst wurden. Ehrfürchtig kniete sich Yassir hin und drückte seine Stirn auf den harten Boden. Die Stimme des Imams nahm er kaum noch wahr. Denn er hatte sein eigenes Gebet vorbereitet:
Gütiger, allmächtiger Allah, ich flehe dich an. Ich brauche die nächsten Tage all meine Kräfte. Ich habe große Angst vor der Wahrheit, aber ich muss sie wissen. Lass mich die Stimme Husseins, die qualvolle Worte verkünden wird, ertragen. Schenk mir die Ruhe und Geduld mit ihm in Frieden auseinanderzugehen, damit ich mich nicht an ihm versündige. Bändige meinen Zorn auf diesen Jungen, denn ich weiß, dass er für all das nicht verantwortlich ist. Egal, was er mir erzählen wird, lass mich keine unüberlegten Dinge sagen oder tun. Gib mir nur einen Hoffnungsschimmer, ein kleines Zeichen, das mir zeigt, dass meine Mühen nicht umsonst sein werden.
Bei den letzten Worten presste Yassir seine Stirn fester auf den kalten Boden. So vertieft war er in seinem stillen Gebet. Als er aufblickte, sahen ihn einige Besucher der Moschee verwundert an. Es kümmerte ihn nicht, was die anderen dachten und was der Imam rezitierte. Denn diesmal wollte er sich direkt an Gott wenden. Nun verstummte der Imam und drehte sich um. Sein schwarzer, drahtiger Bart hing steif in der Luft, während sein Blick despotisch durch den ganzen Gebetsraum wanderte. Einige Besucher standen auf, um ihm die Hand zu geben. Yassir hingegen verließ die Moschee wieder.