Читать книгу Stimme aus der Tiefe - Byung-uk Lee - Страница 7
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Nachts konnte ich kaum schlafen. Die Ketten, die mein Baba besorgt hatte, schleiften laut über den harten Boden, wenn Bassam sich im Schlaf wandte. Es war ein grausames Geräusch, von dem ich jedes Mal wach wurde. Ich hörte ihn leise weinen und ging zu ihm hin. Wie ein Häufchen Elend lag er neben dem Ofen. Das fade Mondlicht, das durch die Fensteröffnung drang, schien auf sein knochiges Gesicht. Ich kniete mich nieder. Der Boden fühlte sich unheimlich kalt unter meinen Füßen an und nach kurzer Zeit zitterte ich am ganzen Leib. Wie schlimm erst musste Bassam frieren? Als Decke hatte man ihm nur einen zerlumpten Sack gegeben, der an vielen Stellen löchrig war.
„Du musst jetzt ruhig sein, sonst wird noch Siamak wach“, flüsterte ich ihm tröstend zu, während ich mit meinen warmen Fingern durch sein Haar fuhr. Es war lang und fettig, weil meine Mutter es eine Ewigkeit nicht mehr geschnitten hatte. Meistens nahm sie dazu eine rostige Schere, mit der sie grob alle langen Enden kürzte. Unsanft riss sie dabei Bassams Kopf von einer Seite zur anderen. Seine Frisur wirkte danach noch struppiger. Den Gestank nahm ich schon lange nicht mehr war. Nach der Zeit gewöhnte man sich daran. Allerdings konnte ich meine Mitschüler verstehen. Für Außenstehende musste so ein Geruch unerträglich sein. Bassam hielt sofort still, als ich ihn berührte. Denn ich war der Einzige, auf den er wirklich hörte und dem er vertraute. Zwar befolgte er auch die Befehle meiner Eltern, aber vielmehr aus Furcht vor ihnen. Stumm hockte ich da und streichelte Bassam. Für meine Eltern war er nichts anderes als ein Haustier, aber ich fühlte mich ihm verbunden, obwohl ich gelegentlich auch unmenschlich zu ihm sein konnte. Heute kann ich sagen, dass er mein Baradar war. Innerlich liebte ich Bassam wie einen Bruder, aber ich konnte ihm meine Wärme und Zuneigung nicht immer geben. Zu sehr hatten meine Eltern durch ihre Erziehung das Verhältnis zu ihm vergiftet. Sie verwirrten mich bereits in sehr jungen Jahren. Einerseits gaben sie mir all ihre Liebe und opferten sogar ihr ganzes Vermögen, um mir eine aussichtsreiche Zukunft zu ermöglichen. Dafür arbeitete sich mein Baba auf dem Feld die Hände blutig. Andererseits sah ich auch ihre hässlichen Charakterzüge, wenn sie Bassam quälten oder unrechtmäßig bestraften.
Ich legte mich wieder hin. Zum Glück war mein Baba nicht aufgewacht. Seelenruhig lag er neben Elham, die ihren Arm auf seine Brust gelegt hatte.
Doch irgendwann in der Nacht hörte man wieder das Schleifgeräusch. Ungewollt verursacht von Bassam. Seine verkümmerten Muskeln, rastlos, durch wilde Träume, die durch seinen Kopf spukten. Schon bei der kleinsten Bewegung rieb die schwere Kette über den Boden und machte einen unheimlichen Lärm. Die gleichmäßige Atmung meines Babas stoppte abrupt und er sprang regelrecht wütend von der Pritsche. Elham und ich wachten dabei auf.
„Dieser Junge macht nur Ärger!“, schrie er außer sich, sodass auch Bassam schreckhaft aus dem Schlaf gerissen wurde. Mit der flachen Hand schlug mein Baba einige Male auf ihn ein.
„Du gibst jetzt Ruhe!“, brüllte er, während er ihn immer wieder ohrfeigte.
„Es kommt nicht wieder vor“, flehte Bassam, der mit beiden Armen seinen Kopf schützte und mit schmerzverzerrter Miene die Schläge über sich ergehen ließ.
„Siamak, komm wieder ins Bett“, sagte meine Mutter mit schläfriger Stimme.
„Du bist jetzt still“, warnte mein Baba Bassam ein letztes Mal, bevor er der Bitte meiner Mutter nachging.
Die Zärtlichkeiten, die meine Eltern austauschten, wenn sie dachten, dass ich bereits schlafe, verwirrten mich ebenfalls. Wie konnten sie miteinander so liebevoll umgehen und Bassam so lieblos behandeln? Bis heute kann ich mir keine Antwort auf diese emotionale Zerrissenheit geben.
Wieder hörte man ein Geräusch, aber es war nicht Bassam. Irgendetwas bewegte sich am Boden. Bassam hatte es auch bemerkt und zog sich den Sack über den Kopf. Ein dunkler Schatten huschte durch den Raum. Ich fürchtete mich, aber wollte meine Eltern nicht wecken.
„Bassam, hast du das gesehen?“, flüsterte ich. „Da am Boden.“
Ich bekam nur ein Nicken von ihm, während sein Kopf noch von dem Sack bedeckt war. So lag ich fast die restliche Nacht hellwach auf der Pritsche.
Die Sonne ging schon auf, als mein Baba sich seine verschwitzte Arbeitskleidung anzog, Bassams Kette löste und das Haus verließ. Am Brunnen wusch er sich das schmutzige Gesicht, bevor er in der Ferne verschwand. Elham schlief noch tief und fest. Ich warf einen Blick unter die Pritsche, aber das unheimliche Ding war nicht zu sehen.
Das Frühstück fiel bei uns immer sehr dürftig aus. Meist gab es nur trockenes Brot und dazu ein Glas Wasser. Bassam bekam gar nichts zu essen, stattdessen wurde er von Elham mit einer Aufgabe beschäftigt. Ich saß am Tisch und sah ihm dabei zu, während ich auf dem zähen Stück Brot kaute, das ich mit einem Schluck Wasser gerade noch runterwürgen konnte. Meine Mutter fühlte sich an diesem Tag nicht so gut und legte sich wieder hin, um sich auszuruhen. So konnte ich mich mit Bassam ungestört unterhalten. Er humpelte leicht. Sein Fußknöchel war ganz wund, aber er hatte sich nie über die Schmerzen beschwert.
„Was war das gestern Nacht?“, fragte er mich, während er neues Holz in den Ofen legte, da es immer noch sehr kühl war.
„Irgendein Tier, denke ich.“
Bassam setzte sich im Schneidersitz vor mir auf den Boden, sodass ich mich etwas runterbeugen musste. Verwirrt blinzelte er zu mir hoch. In solchen Momenten fand ich ihn ganz liebenswürdig.
„Ich muss in die Schule“, sagte ich.
„Ist gut“, meinte Bassam mit gesenktem Kopf.
„Was hast du?“
„Kannst du nicht heute zu Hause bleiben?“ Voller Hoffnung sah er mir ins Gesicht.
„Das geht nicht. Wieso fragst du?“
Eine Antwort blieb er mir schuldig, stattdessen stand er auf und ging in seine Ecke, wo er sich wieder hinlegte. Als ich zur Tür hinausgehen wollte, hörte ich noch mal seine Stimme:
„Wann kommst du wieder?“
Seufzend drehte ich mich um. Wieder dieser Blick reiner Unschuld.
„Das weißt du doch. Immer zur gleichen Zeit.“ Eine absurde Antwort von mir, da im Haus keine Uhr hing. Ich war der einzige, der so etwas besaß. Ein Geschenk meiner Eltern. Es war eine elektronische Armbanduhr und ich dachte, sie würde mindestens eine Million Rial kosten. Wenn mein Baba pünktlich zur Arbeit musste, dann piepste sie leise.
Ich hatte den Brunnen schon fast erreicht, als Elham aufwachte.
„Was liegst du hier faul in der Ecke!?“, schimpfte sie.
Bassam stand auf und ließ sich Arbeit geben.
***
„Wie geht’s dem Stinktier von Teheran?“ In der Pause stand plötzlich Jamshed vor mir, hinter ihm sein übliches Gefolge aus zwei, drei Schülern. Obwohl alle den großen Jungen fürchteten, tat ich es nicht. Zu sehr hatten meine Eltern mein Selbstbewusstsein gestärkt, dass ich es nicht für nötig hielt, klein beizugeben. Stolz kann sehr gefährlich sein.
„Lass mich in Ruhe, Jamshed“, zischte ich ohne jede Regung.
Hinter ihm munkelten einige Schüler etwas. Ob sie es vor Erstaunen oder aus Ehrfurcht taten, wusste ich nicht. Verunsichert blickte Jamshed auf seine Anhängerschaft. Er packte mich am Arm.
„Geh nicht zu weit, Hussein. Oder benötigst du eine zweite Tracht Prügel?!“ Der säuerlich warme Atem Jamsheds schlug mir entgegen und mir wurde kurzzeitig übel.
„Und du rede nicht so über Bassam“, antwortete ich und riss mich los.
Jamshed richtete sich wieder auf und stand mit verschränkten Armen vor mir. Seine Größe beeindruckte mich allerdings nicht.
„Diese Missgeburt heißt also Bassam“, fluchte er laut lachend.
Ich spürte, wie die Wut in mir immer größer wurde. Meine Armmuskeln spannten sich. Das höhnische Lachen Jamsheds drang in mein Ohr, wie eine unverschämte Beleidigung.
„Deine ganze Familie stinkt, Hussein!“, rief Jamshed.
Ruckartig, ohne lang zu überlegen, schüttete ich ihm Wasser aus meiner Flasche ins Gesicht. Meine Mitschüler standen erschrocken hinter ihm, als konnten sie nicht glauben, was ich getan hatte. Auch Jamshed war zunächst sprachlos. Das Wasser tropfte von seinem kurzen, schwarzen Haar auf die Schultern und sein nasses Gesicht glänzte in der heißen Mittagssonne. Mit trägen Bewegungen wischte er sich mit den Ärmeln über die Augen.
„Du kleiner Bastard!“, brüllte er, während er mich am Kragen packte und auf den Boden warf. Jeden spitzen Stein spürte ich schmerzhaft an meinem Rücken, als ich mit voller Wucht unten aufschlug.
„Steh auf!“, schrie er. „Steh auf!“
Es hatte sich schnell ein Kreis aus Schaulustigen gebildet. Alle feuerten sie Jamshed an. Keiner traute sich meinen Namen zu rufen.
Langsam richtete ich mich auf und wollte für die Ehre meiner Eltern und die Bassams kämpfen. Ich verspürte Furcht, aber auch Stolz. Einfach aufgrund der Tatsache, dass ich bereit war, die harten Schläge Jamsheds und jeden Schmerz zu ertragen, um meine Familie zu verteidigen. Jamshed holte aus und traf mich mit der Faust auf den Wangenknochen. Die Erschütterung war so stark, dass ich wieder rückwärts zu Boden fiel.
„Wenn du schlau bist, bleibst du lieber liegen“, höhnte Jamshed. Er spuckte mir ins Gesicht.
Ich schnellte hoch und versuchte ihn mit all meinem Gewicht nach unten zu reißen.
Zu meiner Überraschung gelang es mir.
„So redest du nie wieder über meine Familie!“, schmetterte ich keuchend die Worte in sein überraschtes Gesicht, während ich seinen Hinterkopf auf die Erde drückte.
Jamshed hustete, da er Staub schluckte. Nun hatte ich ihn im Schwitzkasten. Die Anfeuerungsrufe für Jamhsed waren schon lange verstummt. Alle standen sie erstaunt um uns. Ich glaube, dass die meisten meiner Mitschüler sehr verwundert darüber waren, wie viel Widersetzungswillen ich zeigte. Mein Griff wurde immer fester und der Schweiß tropfte mir von der Stirn auf Jamsheds haarigen Nacken.
Jemand packte mich von hinten und riss mich weg. Es war Nersy.
„Verflucht noch mal! Was macht ihr da!?“
Der Kreis löste sich langsam und die dichte Staubwolke, die sich während unserer Rauferei gebildet hatte, legte sich. Jamshed lag immer noch auf dem Boden. Blut lief ihm aus der Nase.
„Hussein, ich bring dich um!“, brüllte er und spuckte auch noch etwas Blut aus.
Ich war stolz auf mich. Ganz allein hatte ich diesen Riesen überwältigt und damit allen anderen gezeigt, dass sie keine Angst vor ihm zu haben brauchten. Dass ich Ärger von Nersy zu erwarten hatte, war mir egal.
„Ihr beide kommt sofort ins Klassenzimmer!“, befahl der Lehrer.
Während uns Nersy belehrte, wie wir uns in der Schule zu verhalten hätten, blickte mir Jamshed zornig ins Gesicht. Ich hatte an diesem Tag einen Sieg über ihn errungen, und das wusste er. Daher konnte ich mir ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Was gibt es da zu lachen, Djamal? Findest du das komisch?“, fragte Nersy.
„Nein“, antwortete ich und zog eine reuevolle Miene. Dann lächelte ich wieder Jamshed frech an. Ich fühlte mich wie ein Gewinner.
***
Meine Mutter lag immer noch auf der Pritsche. Ich fasste ihr an die Stirn. Sie glühte.
„Was ist mit dir?“, fragte ich. „Madar, was ist mit dir?“
„Djamal“, flüsterte sie kraftlos. „Ich brauche Hilfe.“
Bassam kauerte ratlos in der Ecke.
„Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?!“, schimpfte ich. „Du hättest mich oder Siamak holen müssen.“
„Ich darf das Haus doch nicht verlassen“, verteidigte sich Bassam verängstigt. Einen solch harten Umgangston war er von mir nicht gewohnt.
„Du bist manchmal so dumm“, sagte ich ohne nachzudenken.
Bassam hatte beide Hände hinter dem Rücken versteckt.
„Was hast du da?“
„Nichts.“
Er presste seinen Körper enger an die schmutzige Wand, als ich mich ihm näherte.
„Du versteckst doch da was.“
Zögerlich zog Bassam die Hände hinter seinem Rücken hervor.
„Ein Ratte!“, rief ich.
„Bitte tu ihm nichts. Er ist mein Freund.“ Bassam bedeckte das Tier mit einer Handfläche, um es zu schützen, während die Ratte kaum genug Platz auf der anderen fand. Der fleischige Schwanz bewegte sich, wie ein Wurm. Das graue Fell glänzte ölig im Licht, als hätte man das Tier eingefettet. Von Nersy wusste ich, dass Ratten schmutzige Tiere waren, die Krankheiten übertragen konnten. Plötzlich war ich unheimlich wütend auf Bassam.
„Raus hier!“, brüllte ich, wie mein Baba.
Sofort rannte Bassam aus dem Haus. Diesmal befolgte er meinen Befehl aus Furcht.
„Das Tier hat Elham krank gemacht!“, rief ich noch hinterher.
„Aber er ist mein Freund“, sagte Bassam, während er sanft über das Fell strich.
Ich ging zu meiner Mutter. Im Fieberwahn murmelte sie etwas Unverständliches.
„Du bleibt hier. Ich hole Hilfe“, sagte ich zu Bassam und lief an ihm vorbei.
Ein leichter Wind wehte und trieb lose Erde vor sich her. Verdörrte Weizenschalen wirbelten durch die Luft, die mir in die Augen flogen. Blinzelnd suchte ich meinen Baba. An die vierzig Männer arbeiteten an diesem Ort. Neue Saat musste ausgestreut werden, sodass das gesamte Feld umgepflügt wurde, damit frische Erde an die Oberfläche kam und die durch Hitze trockene, poröse nach unten gewendet wurde. Die Arbeiter, deren Gesichter schweißgebadet waren, trieben keuchend ihr Gerät gewaltsam in den Boden. Mein Baba war nirgendwo in Sichtweite. Ich machte mir große Sorgen um Elham. Gleichzeitig verspürte ich eine riesige Wut auf Bassam. Seine Ratte hatte sie krank gemacht. Endlich entdeckte ich meinen Baba. Fleißig schwang er den Spaten und arbeitete sich Stück für Stück über den Feldboden. Ich bemerkte, dass seine Reihe am längsten war und die anderen Arbeiter weit hinter ihm lagen, daher hatte ich ihn nicht auf Anhieb finden können.
„Baba!“, rief ich, während ich auf ihn zulief.
„Bassam“, sagte er überrascht und unterbrach seine Arbeit. Mit dem Handrücken wischte er sich über die nasse Stirn. „Was machst du hier und was ist mit deinem Gesicht?“ Besorgt hob er mein Kinn, um sich die Blessuren, die ich Jamshed zu verdanken hatte, näher anzusehen.
„Baba!“ Ich musste erstmal tief einatmen, so schnell war ich gerannt. Die staubige Luft hatte mir zugesetzt und meine Lungen fühlten sich schwer an. „Mutter ist krank!“
„Was!?“ Mein Baba ließ sofort den rostigen Spaten fallen.
„Hussein!“, hörte ich plötzlich hinter mir eine Stimme. „Wieso arbeitest du nicht weiter? Du wirst nicht fürs Reden bezahlt.“
Nilan, der korpulente Landbesitzer, stand hinter mir. Die Arme hatte er in die Hüften gestemmt und sein Blick streng auf meinen Baba gerichtet. Der ungepflegte, lange Bart Nilans wurde gelegentlich vom Wind erfasst und schaukelte wie ein Pendel von einer Seite zur anderen. Ich konnte ihn nicht leiden, da er den ganzen Tag auf einem Stuhl am Feldrand saß, von wo er die anderen überwachte, die sich währenddessen die Hände rissig arbeiteten.
„Ich muss nach Hause“, sagte mein Baba. „Meine Frau ist krank.“
„Und was ist mit der Arbeit?“ Der Landbesitzer zeigte keinerlei Verständnis. „Wir wollen heute noch aussäen.“
Wortlos ging mein Baba an ihm vorbei.
„Wenn du jetzt gehst, streich ich dir den gesamten Wochenlohn“, drohte Nilan.
Mein Baba blieb bei diesen Worten kurz stehen, aber wirkte trotzdem unbeeindruckt.
„Dann tu es einfach“, meinte er und ging weiter. Er nahm mich an die Hand. Zusammen liefen wir eilig übers Feld. Die anderen beachteten uns nicht und waren vertieft in ihre Abreit. Kein einziger Baum stand in der Nähe, der ihnen bei der brütenden Hitze Schatten spenden konnte. Über die Schulter hinweg blickte ich Nilan scharf an. Er sollte wissen, dass ich ihn verabscheute.
Mein Baba fasste meiner Mutter an die heiße Stirn. Die besorgte Miene verriet, dass er sie wirklich von ganzem Herzen liebte.
„Endlich bist du da“, flüsterte Elham kraftlos. Sie konnte ihre Augen kaum öffnen, sodass bei dem Versuch ihre Lider zitterten.
„Ich bring dich zu einem Arzt“, sagte mein Baba, in dessen Stimme eine Fürsorge lag, wie ich sie nur selten erlebt habe.
Bassam saß in der Ecke. Die Ratte hatte er nicht mehr bei sich. Ich zögerte, meinem Baba von ihr zu erzählen. Obwohl Bassam nicht direkt schuld an der Erkrankung meiner Mutter gewesen war, so befürchtete ich trotzdem, dass mein Baba ihn als Sündenbock abstempeln würde. Eine Bestrafung wäre für Bassam die logische Folge gewesen. Der Arzt musste allerdings auch wissen, weswegen Elham erkrankt war, damit er ihr helfen konnte.
„Wir haben Ratten im Haus“,teilte ich ihm mit.
„Ratten!“, wiederholte mein Baba entsetzt.
„Ja, sie haben wahrscheinlich Madar krank gemacht.“
Bassam blickte überrascht auf. Trotz meiner Wut, hatte ich ihn nicht verraten.
Mein Baba wollte Bassam an den Ofen Ketten, bevor er meine Mutter ins Dorf trug. Panik stand ihm in den Augen, als Siamak mit der schwarzen Kette auf ihn zukam. Sie schleifte mit einem kratzenden Geräusch über den Boden.
„Ich werde hierbleiben und darauf achten, dass er nicht wegläuft“, sagte ich. „Bring Madar bitte schnell zum Arzt.“
Baba ging wieder zur Pritsche und hob Elhams schmächtigen Körper. Der Tschador hing schlaff herunter. Ihr Atem klang schwer. Mit ihr auf den Armen eilte er hinaus.
„Danke“, sagte Bassam, als er weg war.
„Wo hast du das Tier?“
„Das sag ich dir nur, wenn du ihm nichts tust“, forderte Bassam.
„Hast du es immer noch nicht verstanden. Das Tier hat Elham krank gemacht und es kann auch dich krank machen.“
„Er sieht doch so harmlos aus. Wie kann so etwas Kleines einen großen Menschen krank machen?“
„Wo ist das Tier?“, fragte ich erneut.
Bassam kniete sich hin und öffnete die Klappe des Ofens, die knarrte. Spröder Rost rieselte von den Scharnieren zu Boden. Vorsichtig holte er die Ratte heraus. Sie bewegte sich langsam auf beiden Handflächen und ihr Fell war mit etwas Asche bedeckt.
„Siamak wird ihn töten“, sagte Bassam besorgt.
„Woher weißt du, dass es ein Männchen ist?“
„Ich glaube es nur. Er ist mein Freund.“
„Ich bin auch dein Freund, aber einer, der Elham nicht krank macht.“
„Woher willst du wissen, dass er es war?“, fragte Bassam gereizt. Ich war ein wenig überrascht über seinen Gefühlsausbruch. So zeigte er sich nur sehr selten.
„Du Dummkopf, weil ich es weiß“, schimpfte ich. „Wenn du ihn behalten willst, dann musst du ihn draußen lassen.“
Mit gesenktem Kopf trat Bassam vor die Tür und ließ den Nager frei.
„Was machst du da?“, fragte ich. „Ich dachte, du wolltest ihn behalten.“
„Vielleicht ist es doch besser, wenn er in Freiheit lebt, als hier in Gefahr zu sein. Hier zu leben ist gefährlich und schrecklich.“ Sehnsüchtig blickte Bassam der Ratte hinterher, die flink über den Boden in die Ferne huschte.
„Warum bist du nur so undankbar!?“, meinte ich. „Elham und Siamak haben dich doch immer gut versorgt.“ Selbst ich wusste, dass Bassam mit seinen Worten nicht unrecht hatte, wollte es mir aber trotzdem nicht eingestehen.
Mein Baba sah aufgewühlt aus, als er wieder ohne Elham nach Hause kam.
„Wie geht es ihr?“ Ich stürzte sofort zu ihm hin.
Er antwortete zunächst nicht, sondern setzte sich erschöpft auf einen Stuhl. Ein Blick von mir genügte, damit Bassam aufstand und meinem Baba aus einem Tonkrug Wasser in einen Becher goss, den mein Baba in einem Zug leerte.
„Sie hat noch hohes Fieber“, sprach er schwer atmend. „Der Arzt wollte sie über Nacht dort behalten.“
Aus seiner Tasche zog er eine durchsichtige Plastikfolie, in der sich schwarze Krümel befanden.
„Wir werden diese verdammten Biester jetzt ausrotten“, sagte er, während er begann, einige Krümel in die Ecken zu streuen.
„Das darfst du nicht.“ Bassams Worte waren unbedacht.
Die Augen meines Babas weiteten sich vor Zorn. Langsam ließ er den kleinen Beutel in der Hosentasche verschwinden und ging mit geballten Fäusten auf Bassam zu.
„Was darf ich nicht?“
„Du darfst die Ratte nicht töten.“
Der Stoß war so fest, dass Bassam mit dem Hinterkopf gegen die harte Wand aufschlug. Wimmernd hielt er sich den Kopf, während er gekrümmt auf dem Boden lag.
„Du hast das schmutzige Ding also hier reingeschleppt. Das passt zu dir. Bist selbst so ein dreckiges Ding.“
Sofort versuchte ich meinen Baba davon abzuhalten, weiter auf Bassam einzuprügeln.
„Er war es nicht. Die Ratte ist von selbst ins Haus gekommen.“ Flehend zog ich meinen Baba zurück, der sich wieder besinnungslos auf den Stuhl fallen ließ. Dort vergrub er das Gesicht in seine Handflächen. So betrübt hatte ich ihn noch nie erlebt.
***
„Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann“, sagte Yassir. „Je mehr ich von dir erfahre, desto mehr verfluche ich dich. Sag mir doch einfach, wo mein Sohn ist, statt mich mit deinen Worten zu quälen.“ Yassir war, während Husseins Erzählung, zu Boden gesunken und wusste nicht mehr weiter.
„Wir hatten eine Abmachung, die ich gerade einhalte.“ Djamals Stimme klang wie immer klar und fest. „Sie hingegen wollen Ihren Teil nicht erfüllen.“
„Doch das tue ich, aber es fällt mir schwer. Versteh doch. Ich kann mir das nicht länger anhören und weiß immer noch nicht, was der Sinn des Ganzen sein soll.“
„Das werden Sie früh genug erfahren. Ich kann Sie zwar nicht sehen, aber ich spüre, dass Sie ein guter Mensch sind, genauso wie Bassam.“
„Wenn mein Junge ein so guter Mensch war, warum habt ihr ihm das alles angetan!?“
„Deswegen bewundere ich Sie und Ihren Sohn“, meinte Djamal. „Erst durch ihn konnte ich Recht von Unrecht unterscheiden. Vorher war mir das unmöglich, da ich immer dachte, dass ich und meine Eltern rechtmäßig gehandelt haben. Ich sehe nun ein, dass ich für meine Taten bestraft werden muss, sonst würde ich nicht hier in diesem Verlies sitzen. Jeder Mensch muss seine Strafe akzeptieren, anderenfalls verkommt man zu einem Feigling.“
„Bitte, ich kann es nicht mehr.“ Der Verzweiflung nahe lag Yassir gekrümmt auf dem Boden, wo er sein Gesicht auf den harten Grund legte. Das Gestein, das die Hitze des Tages konserviert hatte, verbrannte seine Haut, aber der Schmerz um den Verlust von Bassam überwog. Sein Körper fühlte sich erschöpft an und sein Herz war leer.
Eine Zeit lang sagte Djamal nichts. Es wehte ein kräftiger Wind durch die steinige Landschaft, der die Einsamkeit an diesem Ort noch stärker untermalte. Yassir war erleichtert, als er den Dienstwagen in der Ferne erspähte. Von Djamal hörte er nichts mehr, als hätte er sich die Stimme aus der Tiefe nur eingebildet.
Fast gleichzeitig öffneten Mehran und Omid die Seitentüren. Ihre adretten Uniformen waren durchtränkt mit Körpersäften. An den schwarzen Ledergürteln baumelten die Schlagstöcke. Allzeit bereit, Kriminellen die Härte des Gesetzes zu spüren zu geben.
Omid begleitete Yassir zum Wagen, während Mehran auf das Gitter zulief.
„Hussein!“, brüllte der kleinwüchsige Polizist hinunter. „Ich soll dir von Iraj bestellen, dass du den guten Mann nicht verarschen sollst. Und er will wissen, wie oft wir ihn noch hierhin fahren müssen. Ehrlich gesagt, hab ich die Schnauze voll, nur deinetwegen jeden Tag in diese gottverlassene Einöde zu fahren. Ich hab besseres zu tun, hörst du!“ Die letzten Worte sagte Mehran mit einem verächtlichen Lachen. Er spuckte auf das Gitter. Der Speichelfaden zog sich in die Länge, bevor er von den Stäben in die Tiefe tropfte.
„Es ist bald vollbracht“, hörte Mehran von unten.
***
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Polizeichef Iraj, während er steif in seinem Ledersessel saß.
Yassir schüttelte den Kopf.
„Aghaye Navid, darf ich Sie fragen, was für einen Eindruck Sie in den letzen Tagen sammeln konnten?“
„Was meinen Sie damit?“ Misstrauisch blickte Yassir in das fleischige Gesicht des Polizeichefs.
„Verzeihen Sie mir meine unklare Formulierung, eine furchtbare Angewohnheit von mir. Was denken Sie, ist Djamal Hussein für ein Mensch? Mit welchen Charakterzügen hat Allah ihn gesegnet oder verflucht?“
„Warum wollen Sie das so genau wissen? Es spielt doch keine Rolle, was für einen Charakter er hat. Er hat das Gesetz gebrochen und gehört ins Gefängnis. Was er genau getan hat, haben Sie mir außerdem immer noch nicht mitgeteilt.“
„Wie ich Ihnen schon gesagt habe, bin ich ein Mensch, der über alles und jeden Bescheid wissen muss. Informationen sind heutzutage lebenswichtig, Aghaye Navid. Vertrauen Sie mir, ich frage Sie nur, um sie zu schützen.“
„Wieso sitzt Djamal Hussein im Gefängnis?“ Yassir klopfte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, die so sauber gewischt war, dass sich kein einziges Staubkorn auf ihr befand.
Seufzend stand Iraj auf und ging zum Fenster. Eine Weile blickte er hinaus, ohne etwas zu sagen.
„Mord“, fiel das entscheidende Wort plötzlich aus seinem Mund.
„Mord!“, wiederholte Yassir entsetzt.
„Ja, er hat einen Menschen getötet. Oder glauben Sie etwa, dass wir ihn in eine so grausame Gefängniszelle stecken nur weil er einen Apfel gestohlen hat.“
„Nein, natürlich nicht, aber ich dachte nicht gleich an Mord. Hussein kam mir nicht gerade wie ein gewalttätiger Mensch vor. Immerhin hat er sogar Medizin an der Universität von Teheran studiert.“
„Das ist irrelevant.“ Der Polizeichef setzte sich wieder hin und massierte sich den Nacken.
„Kann ich ihn wieder mitnehmen?“
Mehran stand in der Tür.
„Ja, nehmen Sie ihn wieder mit“, antwortete Iraj. Der Polizeichef wirkte schlagartig resigniert. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Yassir scheute sich allerdings nachzufragen, sodass er einfach aufstand und Mehran folgte.
***
Ihre Nasenflügel bewegten sich leicht, bei jedem Atemzug. Yassir beobachtete sie gern, wenn sie bereits schlief. In solchen Momenten strahlte sie eine Friedfertigkeit aus, die ihn an schönere Zeiten erinnerte. Zeiten, in denen sie noch eine heile Familie waren. Der Kern ihrer Glückseligkeit, Bassam, war ihnen gewaltsam entrissen geworden und ihr Leben glich nun einer trostlosen Landschaft. Yassir ging wieder in die Küche, statt sich zu seiner Frau zu legen. Er konnte ohnehin nicht schlafen. Zu viele Gedanken quälten ihn. Djamals Geschichte war auch seine Geschichte, weil Bassam ein Teil von ihr war. Zurzeit fühlte er sich leer, verspürte weder Hunger, Durst noch Müdigkeit. So saß er die halbe Nacht auf dem Küchenstuhl und blickte aus dem Fenster. Die Stadt lag friedlich vor ihm, wie ein schlafendes Kind. Nur aus der Ferne konnte er das tosende Treiben im Stadtkern erahnen.
„Du bist ja da“, hörte er die zerbrechliche Stimme seiner Frau.
Sie hatte ihm immer noch nicht verziehen, dass er sie daran gehindert hatte, mit Djamal zu reden. Auch hatte er ihr Informationen verschwiegen, was sie spürte.
„Was hat er erzählt?“, fragte sie mit der Gewissheit, dass er ihr nichts sagen würde, obwohl Yassir einen kleinen Funken Hoffnung heraushören konnte, den er allerdings mit seiner Antwort ersticken würde.
„Wie er unseren Sohn kennengelernt hat, Azizam“, antwortete Yassir. „Geh wieder ins Bett. Du siehst sehr mitgenommen aus.“
Statt Worten schleuderte sie ihm ein verächtliches Schnauben entgegen, bevor sie sich wieder ins Schlafzimmer zurückzog. Yassir beschloss, auf dem Boden der Küche zu schlafen. Ohnehin würde er von Nia nur Verachtung ernten, wenn er sich in ihrer Nähe befand. Alles war wieder wie vorher. Er rollte den Teppich aus, auf dem er normalerweise betete, und legte sich nieder. Nachdenklich starrte er die rissige Zimmerdecke an. Die Dunkelheit, die ihn wie eine Hülle der Ungewissheit umschloss, ließ ihn an die Finsternis in Husseins Gefängniszelle denken. Erdrückende Schwärze, die einem den Atem rauben konnte. Schließlich fragte er sich, wie ein Mensch sich so etwas freiwillig antun konnte. Wie viel Willenskraft war dafür nötig, tagelang in einem finsteren Loch zu fristen, ohne Licht? Und Nachts in unerträglicher Kälte und Einsamkeit seine Schuld abzusitzen, während jenseits der Einöde das Leben weiter floss? Welchen unsäglichen Mord hatte Djamal Hussein begangen, dass er sich selbst dieser Tortur aussetzte? Fragen über Fragen, die drohten, Yassirs Kopf zu sprengen. Dazu kamen noch die Dunkelheit in seinem Herzen, die Hoffnung, Bassam wieder in seine Arme nehmen zu können und das Leid, das seinem Sohn wiederfahren war und das ihn genauso quälte, als wäre er selbst davon betroffen gewesen.