Читать книгу Stimme aus der Tiefe - Byung-uk Lee - Страница 6
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ОглавлениеOmid schmiss einige Wasserflaschen und in Folie verpacktes Essen in die Dunkelheit.
„Das müsste reichen“, murmelte er und ging zurück zum Wagen.
Hinter sich konnte Yassir den lauten Motor und das Gestein, das unter den Reifen knirschte, vernehmen, als der Polizist davon fuhr.
„Hussein!“, rief Yassir runter.
„Ich möchte eines klarstellen. Sie müssen wissen, dass ich all das nicht tue, um Sie zu quälen, sondern damit Sie meine Lage verstehen“, fing Djamal plötzlich an zu reden, als musste er so schnell wie möglich diese Worte loswerden. Aus seiner Stimme konnte Yassir Betrübtheit heraushören.
„Geht es dir gut?“, fragte Yassir sich über die Gitterstäbe beugend. Die Schwärze erdrückte ihn fast.
„Die Hitze des Tages, die Kälte der Nacht und vor allen Dingen die ständige Dunkelheit machen mir zu schaffen.“
„Wieso tust du das alles? Wieso sitzt du freiwillig in diesem Loch und nicht in einer normalen Gefängniszelle?“ Eine Frage, die sich Yassir schon seit dem ersten Tag gestellt hatte, daher wunderte er sich, weswegen er sich jetzt erst danach erkundigte.
„Um zu leiden“, anwortete Hussein hustend.
„Um zu leiden?“
„Ich will leiden“, sagte er etwas leiser. „Leiden, wie ihr Sohn gelitten hat. Ich sehe es als gerechte Strafe an. Ich will nachvollziehen können, wie es Bassam all die Jahre ergangen war.“
„Du hast doch nichts verbrochen.“
„Wieso sollte mich die Polizei festnehmen, wenn ich nichts Unrechtes getan habe?“
Yassir schämte sich für diese törichten Worte. Denn der Gefangene hatte recht.
„Darf ich fragen, was du getan hast?“
„Das werde ich Ihnen später sagen“, antwortete Hussein. „Also ich möchte jetzt gerne meine Erzählung fortsetzen.“
***
All die Jahre lebte ich in dem Glauben, das Richtige getan zu haben. Die Lebensweise war mir von meinen Eltern anerzogen worden. Bassam war für uns ein niederes Wesen, nicht mal ein Mensch. Ein Haustier, das für uns arbeitete, wie Zuchtvieh. Gelegentlich half ich ihm bei den Hausarbeiten, aber nur wenn mir langweilig war. Bassam war ein sehr schweigsamer Charakter, nur das Nötigste sagte er. Die Angst, die er vor meinem Baba hatte, war ihm anzusehen. Ständig stand er unter Anspannung und wirkte nervös. Obwohl er wusste, dass Fehler gnadenlos bestraft wurden, machte er relativ häufig welche.
Tief im Inneren mochte ich Bassam, was ich ihn allerdings selten zeigte. Die Sache mit dem Schahspiel hatte ich schon längst vergessen. Wenn meine Eltern nicht im Haus waren, behandelte ich ihn sogar recht freundschaftlich. Die restliche Zeit verhielt ich mich zu ihm wie mein Baba, kühl und distanziert. Trotzdem war ich für Bassam die größte Vertrauensperson. Ich war der Einzige, der ihn ansatzweise wie einen Menschen behandelte.
Ich erinnere mich, als wir einmal auf dem warmen Felsstein vor unserer Lehmhütte saßen und uns miteinander unterhielten.
„Wie ist es in der Schule?“, fragte er mich.
„Langweilig“, antwortete ich, während ich mit einem Stock Bilder in den Sand ritzte.
„Ich würde auch gern zur Schule gehen.“
„So toll ist es nicht. Die meiste Zeit sitzt man rum und schreibt Dinge auf.“
„Was für Dinge?“ Bassam hatte sich zu mir gewandt und blickte mich voller Neugier an.
Irgendwie war es mir unangenehm, wenn er mich auf diese Weise ansah.
„Stell nicht so dumme Fragen. Dinge halt! Wenn wir Mathematikunterricht haben, Zahlen. Wenn wir Farsi lernen, Wörter.“
„Ich würde gerne mal mitkommen und auch etwas lernen.“
„Das würde Siamak nicht erlauben. Außerdem würdest du die Hälfte sowieso nicht verstehen“, meinte ich herablassend.
In der Ferne konnte ich meinen Baba sehen, der von der Arbeit zurückkam.
„Baba!“, rief ich, während ich ihm entgegen lief.
Bassams Gesicht hingegen verfinsterte sich.
„Wo ist deine Mutter?“, fragte mich Siamak. Die Feldarbeit hatte ihn kräftig gemacht. An meinem Körper spürte ich die Wärme seiner muskulösen Arme, während er mich trug.
„Im Dorf, was zu essen kaufen.“
Wortlos lief er an Bassam vorbei und ließ mich im Haus wieder runter. Die meiste Zeit ignorierte er Bassam. Nur wenn er sich ärgerte, zog er den Jungen zu sich. Allerdings schimpfte oder brüllte er dann sogar laut. Heute danke ich Allah dafür, dass es auch Tage gab, an denen alles harmonisch ablief und Bassam seine wohlverdiente Ruhe vor uns hatte.
Nur einen Tag nachdem Bassam und ich das Gespräch über die Schule hatten, ereignete sich ein Vorfall, der mich heute noch tief erschüttert:
Es war früh am Morgen. Ich betrat mit ein paar anderen Schülern unser Klassenzimmer, das nichts anderes war als eine schlecht zusammengezimmerte Holzbaracke. Sie stand mitten im Dorfzentrum. An besonders heißen Tagen lief uns der Schweiß die Waden runter und die stickige Luft war kaum auszuhalten. Fenster gab es nur zwei, die allerdings immer verschlossen waren. Keine Geräusche von draußen sollten uns vom Lernstoff ablenken.
Unser Lehrer war ein langgewachsener, dürrer Mann mit Schnurrbart namens Nersy, der sogar in der Hauptstadt studiert, aber seine Wurzeln in unserem Dorf hatte. Er war sehr engagiert, da es ihm wichtig war, dass auch Kinder aus seiner Heimat es später zu etwas brachten. Obwohl sein Gehalt, trotz seines Bildungsgrads, sehr niedrig ausfiel, merkte man ihm an, dass er seine Arbeit mit uns liebte. Er war der typische Idealist.
Im Laufe des Unterrichts bemerkte ich, dass jemand am Fenster stand. Wenn ich hinblickte, duckte sich die Person schnell. Überrascht stellte ich fest, dass es Bassam war, der von den anderen unbemerkt seine Nase gegen die Scheibe drückte, während er mit großen Augen die Kreidestriche, die Nersy an die Tafel malte, verfolgte. In der Schulpause ging ich hinaus.
„Was machst du hier?“, fragte ich streng.
„Ich will was lernen“, antwortete mir Bassam und blickte verlegen zu Boden.
„Weiß Elham, dass du hier bist?“
Das Kopfschütteln genügte, um zu wissen, dass Bassam großen Ärger zu erwarten hatte. Daher scheute ich mich davor, ihn Heim zu schicken. So erlaubte ich ihm, den Rest des Tages mit mir in der Schule zu verbringen.
In der Pause stellte ich ihm die anderen Schüler vor, die Bassam neugierig musterten. Besonders Jamshed, der körperlich Größte in unserer Klasse, schenkte ihm seine volle Aufmerksamkeit, zum Leidwesen von Bassam.
„Was sind das denn für schmutzige Lumpen?!“, meinte Jamshed, während er das grau gestreifte Gewand Bassams so hoch anhob, dass der sich schämte.
„Und der Junge stinkt auch noch, wie der Teufel“, fügte er seine Nase rümpfend hinzu.
Die anderen Schüler taten es ihm gleich, obwohl ich den Geruch nicht besonders schlimm fand. Bassam blickte die ganze Zeit über verlegen zu Boden, während er von meinen anderen Mitschülern umzingelt wurde. Der Kreis löste sich erst, als sich Nersy näherte.
„Und wer ist dieser junge Mann?“, fragte mein Lehrer im freundlichem Ton. Lächelnd kniete er sich zu Bassam runter und hob dessen Kinn, um sein Gesicht besser sehen zu können.
„Das ist mein Cousin, Bassam, aus Teheran. Er besucht uns über die Ferien“, log ich schnell.
„Dann muss wohl das Waschen in Teheran zur Sünde erklärt worden sein“, meinte Jamshed im Hintergrund, woraufhin alle anderen in lautes Gelächter fielen.
„Er ist sehr schüchtern und sagt nicht viel“, erklärte ich Bassams Stillschweigen.
„Auch das Reden scheint dort eine Sünde zu sein“, scherzte Jamshed erneut. Alle lachten.
„Jamshed, ich will mit dir sprechen“, sagte Nersy im strengem Ton und mit bösem Blick, während er ihn am Arm packte und ins Klassenzimmer zerrte.
Mein Lehrer hatte sich vermutlich mit dieser einfachen Antwort zufrieden gegeben. Denn er stellte keine Fragen mehr über Bassam. Nun waren wir es, die unsere Gesichter gegen die Scheiben drückten. Im Klassenzimmer stand Nersy vor Jamshed, der trotz seiner Größe um Längen kleiner war als unser Lehrer. Mit dem Zeigefinger deutete Nersy auf ihn, während er lautstark schimpfte. Irgendwann bemerkte uns Jamshed und schaute zornig zu uns rüber, woraufhin wir uns schnell wieder vom Fenster entfernten.
Gemeinsam gingen Bassam und ich nach der Schule über den staubigen Pfad nach Hause. Hinter uns bemerkten wir plötzlich Schritte. Jamshed war uns mit drei anderen Schülern gefolgt. Als wir uns umdrehten, blieb die ganze Gruppe stehen.
„Warum lauft ihr uns nach?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits ahnte.
„Wegen deinem Stinktier von Cousin habe ich heute Ärger bekommen“, sagte Jamshed. Dabei ließ sein wütender Blick Bassam keine Sekunde aus den Augen.
„Du bist selbst schuld. Du hast dich über ihn lustig gemacht.“ Schnell trat ich einen Schritt vor. Bassam hingegen versteckte sich hinter mir. Mein Herz klopfte, da Jamshed fast zwei Köpfe größer als ich war und auch noch Verstärkung hatte. Trotzdem wollte ich verhindern, dass er Bassam etwas zufügte.
„Halt dich da raus, Hussein“, drohte Jamshed. „Oder du bekommst auch was ab.“
Mit großen Schritten näherte er sich, aber trotz meiner Furcht vor ihm, wich ich nicht von der Stelle. Ich blickte zu Jamshed hoch und sah nur noch von unten sein spitzes Kinn. Mein ganzer Körper war angespannt und beide Hände waren zu Fäusten geballt.
„Letzte Warnung, lass mich durch.“
Ich blieb stehen. Jamshed verlor die Geduld und packte mich am Kragen. Einige Zentimeter hob er mich vom Boden, den ich nur noch mit den Zehenspitzen berührte. Ich nahm all meinen Mut zusammen und boxte ihm kraftvoll in die Magengrube. Der Griff lockerte sich. Jamshed stöhnte auf. Keuchend hielt er sich mit beiden Händen seinen Bauch. Panik ergriff mich, als er sich wieder aufrichtete. Sein Blick sprühte vor Hass. Er schlug mir mit seiner Faust direkt auf mein Auge. Die Erschütterung war so stark, dass ich rückwärts auf den Boden fiel, wo ich mit dem Hinterkopf auf einen Stein aufschlug. Mein linkes Auge brannte und die Kopfschmerzen waren unerträglich. Geschockt stand Bassam da. Hilflos sah er dabei zu, wie Jamshed mich am Nacken packte und mich mit dem Gesicht auf den Boden drückte. Ich hustete kräftig, da ich Staub einatmete. Der Griff war so fest, dass ich ein unerträgliches Ziehen verspürte.
„Das hast du nun davon“, sagte Jamshed außer Atem, und drückte meinen Kopf fester auf den Boden, sodass ich mir die Stirn aufriss. Plötzlich stürmte Bassam auf meinen Peiniger los, aber sein schmächtiger Körper wurde von Jamshed mit Leichtigkeit zurückgestoßen. Dabei stieß er ein hämisches Lachen aus, das durch die Wüste schallte.
„Mach ihn fertig!“, hörte ich einige Schüler rufen.
Endlich lockerte Jamshed seinen Griff. Schmerzverzerrt lag ich auf dem Rücken. Die Sonne schien mir grell ins Gesicht, als würde sie mich auslachen. Mein Schädel dröhnte. Alles tat mir weh. Die Gruppe verließ uns, allen voran Jamshed. Alle fürchteten ihn, sodass er automatisch das Oberhaupt unserer Klasse war. Zögernd näherte sich Bassam, während ich noch stöhnend auf dem Boden lag. Fürsorglich kniete er neben mir und versuchte mich hochzuziehen.
„Lass mich“, wehrte ich verärgert seine helfende Hand ab.
Mühsam richtete ich mich auf. Ich fuhr mir mit der Hand über mein Gesicht, das voller Dreck und blutverschmiert war. Bassam schien sich zu schämen, obwohl er keinen Grund dafür hatte. Grundlos war ich auch wütend auf ihn, da er mir an diesem Tag ungewollten Ärger gebracht hatte. Den Rest des Weges strafte ich ihn daher mit Schweigen.
„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich mehrmals, aber ich ignorierte ihn.
Kurz vor unserem Haus bemerkte uns Elham, die gerade dabei war Wasser aus dem Brunnen zu ziehen. Sofort ließ sie den Strick los und rannte uns entgegen. Platschend fiel der Holzeimer ins Wasser.
„Du meine Güte“, klagte sie laut, als sie mir ins Gesicht sah. Mit dem Rand ihres Tschadors versuchte sie vergeblich das getrocknete Blut abzuwischen. Dann sah sie Bassam an.
„Was hast du getan? Warum bist du einfach davongelaufen?“, brüllte sie laut. Außer sich zog sie Bassam am Ohr ins Haus. Er schrie vor Schmerzen. Sie gab ihm noch einige Ohrfeigen, bevor er in seine Ecke kroch. Gekrümmt kauerte er neben dem Ofen und versteckte sein Gesicht reumütig hinter schmutzigen Händen.
„Warte nur ab, bis Siamak davon erfährt“, drohte sie giftig in Bassams Richtung.
„Bitte sag es ihm nicht, bitte.“ Man hörte seine Stimme kaum, da er sein Gesicht immer noch hinter den knochigen Händen versteckt hatte.
„Das hättest du wohl gerne. Kannst schon mal eine saftige Strafe erwarten.“
Mit einem nassen Tuch wischte mir meine Mutter übers Gesicht. Die Wunde an der Stirn brannte noch heftiger, als sie mit Wasser in Berührung kam. Meine Miene verzog sich zu einer Grimasse.
„Er kann nichts dafür“, sagte ich, da mir Bassam plötzlich leid tat.
„Und du nimm ihn noch in Schutz. Nein, er muss bestraft werden.“
Bei Sonnenuntergang sah man den dunklen Umriss meines Vaters, der sich unserem Haus näherte. Elham lief ihm entgegen. Durch die offene Tür konnte ich sehen, wie er ihr einen Kuss auf jede Wange gab. Sie schien ihm das Geschehene zu berichten. Denn abrupt änderte sich seine Körperhaltung. Angespannt hatte er seine Arme verschränkt und nickte bei jedem ihrer Worte. Dann kam er mit großen Schritten herbeigeeilt. Besorgt blickte ich zu Bassam, der immer noch reumütig in seiner Ecke kauerte. Mein Baba sah müde und gereizt aus. Auf seiner Stirn, auf der einige fettige Haare klebten, glänzte der Schweiß.
„Du verdammtes Hurenkind!“, brüllte er bereits kurz vor der Haustür.
Als Bassam seine zornerfüllte Stimme hörte, igelte er sich noch mehr ein. Mein Baba betrat energisch das Haus. Grob versuchte er Bassam zu greifen, aber der setzte sich zur Wehr. Wild trat er um sich. Schließlich packte Siamak seinen Fußknöchel und schleifte den Jungen aus dem Haus. Bassam schrie, als er über den groben Boden gezogen wurde. Die Haut am Rücken war aufgerissen und hinterließ eine dünne Blutspur. Erschrocken rannte ich hinterher, aber ich traute mich nicht, mich für Bassam einzusetzen. Zu groß war die Wut meines Babas, dass ich befürchtete, Siamak würde auch mich strafen, wenn ich es wagen sollte, mich einzumischen. Bis zum Brunnen zog er Bassam, dessen qualerfüllter Schrei mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Aufstehen!“, schrie ihn mein Baba an. „Steh auf, du dreckiges Tier!“
Erst ein kräftiger Tritt gegen den Brustkorb brachte Bassam dazu, sich aufzurichten. Benommen vor Schreck taumelte er, wie ein Betrunkener. Über sein ganzes Gesicht liefen Tränen, während er sich schmerzverzerrt seinen aufgerissenen Rücken hielt und um Atem rang.
„Bitte Simak, ich werde nie wieder weglaufen“, flehte er. Dabei hatte er die Hände wie zum Gebet gefaltet.
„Dreh dich um!“, befahl mein Baba.
Diesmal hörte Bassam sofort auf ihn und stützte sich mit beiden Händen am Rand des Brunnens ab. Schon vom Haus aus konnte ich seinen lauten Atem hören, der sich zunehmend beschleunigte. Ruckartig riss mein Baba einen langen Ast von einem der Sträucher ab. Mit kräftigen Hieben schmetterte er ihn abwechselnd auf Bassams Waden. Es bildeten sich Risse und das warme Blut lief ihm die Beine runter. Bei jedem Schlag schrie Bassam kurz auf und drohte einzuknicken. Mein Baba verausgabte sich so sehr, dass er am ganzen Leib schwitzte. Zwischenzeitlich musste er sogar eine Pause einlegen, damit er sich den Schweiß vom Gesicht wischen konnte. Irgendwann schrie Bassam nicht mehr, sondern winselte nur noch leise. Der Stock war am anderen Ende blutverklebt, als mein Baba ihn achtlos in den Sand warf. Ohne sich weiter um Bassam zu kümmern, der nun erschöpft auf den Boden sackte und mit dem Rücken an der Außenwand des Brunnens lehnte, ging er ins Haus. Bassam blieb dort sitzen, bis es dunkel wurde. Schweigend blickte er den sternenbedeckten Himmel hoch. Keiner von uns kam auf den Gedanken, ihn ins Haus zu holen. Mein Baba war zu geschafft von der Arbeit und schnell auf der Pritsche eingeschlafen. Elham schlich sich hinaus, um Bassams Wunden zu behandeln. Ich begleitete sie und fand mit ihr einen Bassam vor, der apathisch zum Himmel blickte, als wenn er sich wünschen würde auf einen dieser zahlreichen Sterne zu sein.
Mit einigen Kräutern, die sie vorbereitet hatte, wickelte sie beide Waden und ein Teil des Rückens ab. Mehrmals zog Bassam misstrauisch seine Beine weg.
„Jetzt hab dich nicht so. Ich will dir doch helfen“, murrte sie leise.
Obwohl sie Bassams Wunden versorgte, bemerkte ich bei meiner Mutter keine Spur von Reue. Sie war der Meinung gewesen, richtig gehandelt zu haben und war sich keiner Schuld bewusst. Gemeinsam mit ihr stützte ich Bassam ab und brachte ihn leise ins Haus zurück. Er wog kaum etwas. An meiner Schulter spürte ich seinen Arm, der fast nur noch aus Knochen bestand.
Mitten in der Nacht wurde ich wach. Ich hörte Bassam in seiner Ecke winseln.
„Sei still“, flüsterte ich mehrmals zu ihm rüber, aber es half nichts.
Irgendwann stand mein Baba auf und zündete die Kerze auf dem Tisch an. Das Feuer im Ofen war bereits erloschen. Im dumpfen Schein konnte ich erkennen, wie er Bassam einige Male gegen die Beine trat.
„Ich kann wegen dir nicht schlafen. Jetzt gib endlich Ruhe“, schimpfte er. Dann gab Bassam endlich keinen Ton mehr von sich. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er größte Qualen durchlitt.
Ein zweites Mal wurde ich wach, aber diesmal war es nicht Bassam, von dem ich etwas hörte. Vielmehr schienen sich meine Eltern etwas zuzuflüstern. Ich tat so, als würde ich noch schlafen und belauschte das Gespräch.
„Das können wir nicht tun. Das würde zu weit gehen“, meinte meine Mutter.
„Weißt du etwa eine andere Möglichkeit? Er wird es irgendwann noch mal versuchen und uns verraten.“ Die tiefe Stimme meines Babas klang besorgt.
Ich wusste, dass sie über Bassam redeten. Allerdings konnte ich nicht ahnen, was ihre Worte zu bedeuten hatten.
Die Antwort darauf erhielt ich schon am folgenden Tag. Nach der harten Strafe wollte ich Bassam etwas aufmuntern, indem ich mehr Zeit als sonst mit ihm verbrachte. Zusammen saßen wir im Sand, wo wir mit kleinen Holzfiguren spielten, die mir mein Baba geschnitzt hatte. In unserem Spieltrieb vertieft stellten wir die Seeschlacht von Salamis nach, von der mir Nersy in der Schulpause erzählt hatte, allerdings die Bassam völlig unbekannt war. Mein Baradar wirkte abwesend und verstört. In seinem Gesicht konnte ich keine Spur menschlicher Emotion erkennen, als wenn etwas in ihm gestorben war. Vielleicht ein Stück seiner Seele.
Elham traute sich nicht mehr, Bassam allein im Haus zu lassen, daher beauftragte sie mich, im Dorf einige Besorgungen zu machen. Ich bemerkte, dass Bassam mir folgte, da er sich lieber bei mir aufhielt, als bei meiner Mutter. Schließlich schlug und beschimpfte ich ihn nicht.
„Du kannst nicht mitkommen“, ermahnte ich ihn, nachdem ich stehen geblieben war und mich zu ihm gedreht hatte.
Ohne auf mich zu hören, trottete er mir nach. Meine Mutter hing gerade nasse Wäsche an eine Plastikleine zum Trocknen auf. Heimlich hatte sich Bassam wieder von ihr davon geschlichen.
„Willst du wieder von Siamak verprügelt werden?“, warnte ich Bassam meine Stimme hebend.
Elham kam sofort zu uns gelaufen.
„Warum bist du nur so ungezogen“, schimpfte sie und zog Bassam am Ohr zurück zum Haus. „Hast du nicht schon genug Schläge bekommen!? Willst du noch mehr!?“
Bassam schrie, da sie so fest zog, dass sich der Knorpel dehnte und sein Ohr rot anlief. Alleine ging ich weiter. Gelegentlich blickte ich über meine Schulter zurück und sah noch aus der Ferne, wie meine Mutter drohend ihren Zeigefinger hob und laut fluchte, während Bassam beschämt auf den Boden blickte. Über die Jahre war sein Rücken etwas buckliger geworden. Die geschundene Seele hatte auch seine äußere Erscheinung geformt. Ein Teil seiner Wirbelknochen wölbte sich am Nacken auf.
„Pedarsag!“, beschimpfte meine Mutter ihn mehrmals laut. Obwohl sie meist das Fluchen vermied, tat sie es selten, wenn mein Baba nicht da war und sie dachte, dass ich es nicht hören würde.
Niedergeschlagen setzte sich Bassam auf den Rand des Brunnens, von wo er mir zaghaft zuwinkte. Elham widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Wäsche.
„Ich bin bald zurück!“, rief ich ihm noch zu. Doch er hatte mich nicht gehört. Gedankenverloren saß er da und blickte traurig in die Ferne.
Unser Dorf war nicht besonders groß, vielmehr war es nur eine kleine Ansammlung von Lehmbauten, aber man konnte hier alles Lebenswichtige finden. Vor manchen der zerfallenen Türen sah man eine Ziege oder ein Schaf, das einzige Anzeichen von Zivilisation. Ich sollte für meine Mutter etwas Brot, Knoblauchzehen und ein Dutzend Eier besorgen, da sie für Siamak Koukou-e-Sabzi, sein Lieblingsgericht, zur Belohnung für die harte Arbeit machen wollte. Der Brothändler, Zhaabiz, ein sehr alter Mann mit freundlichem Gemüt lächelte mir zu. Dabei kam es mir vor, als wenn er noch mehr Falten im Gesicht als gewöhnlich hatte.
„Wie geht es deinem Baba?“, fragte er mich. „Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
„Ganz gut, Zhaabiz“, antwortete ich, während ich den Korb, den mir Elham mitgegeben hatte, mit Brot füllte. „Er arbeitet viel.“
„Dann grüß ihn mal von mir“, meinte der Händler.
„Haben Sie auch noch altes Brot?“
„Ja, aber es ist steinhart. Willst du es wirklich haben?“
Ich nickte.
„Daryaa!“, rief er mit heiserer Stimme ins Haus.
Seine Frau, die viel jünger aussah, wusste sofort bescheid und kam mit einem Stoffbeutel, in dem sich alte Brotstreifen befanden, aus dem Haus direkt hinter dem Verkaufsstand. Als sie die Tür öffnete, konnte ich einen Blick in die Backstube erhaschen. Im Tandoor glühte die Kohle hellrot, über der frische Teigfladen gerade aufbuken, wie die Sonne stiegen sie hoch.
„Hier, mein kleiner Sultan.“ Sie übergab mir den Beutel, nachdem sie sich das Weizenmehl von ihrem schwarzen Kopftuch geklopft hatte. Kleiner Sultan so nannte sie mich immer, wenn ich bei dem alten Ehepaar einkaufte.
Ich hatte mich schon einige Meter von dem Stand entfernt, als ich wieder die heisere Stimme Zhaabiz´s vernahm.
„Djamal, was ich dich schon immer fragen wollte: Wofür braucht ihr eigentlich das ganze alte Brot? Das kann doch kein Mensch mehr essen.“
Mein Herz klopfte bei dieser Frage, weil ich ein schlechter Lügner war. Sichtlich fiel es mir schwer, Zhaabiz eine plausible und glaubhafte Antwort zu geben. Langsam drehte ich mich um. Ich erblickte das freundliche Gesicht des alten Mannes, dem ich nicht in die Augen sehen konnte. Zum Glück war Daryaa schon wieder ins Haus gegangen, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen. So musste ich nur den alten Mann anlügen.
„Ich füttere damit die Hühner des Nachbarn.“ Meine Stimme zitterte heftig. Zhaabiz´s sonst so vertrauenswürdigen Augen verformten sich zu schmalen Schlitzen. Er schien mir nicht zu glauben. Innerlich ärgerte ich mich, da ich mich verdächtig und den Händler mit meiner Antwort misstrauisch gemacht hatte.
„Wieso holst du die Eier dann nicht von deinem Nachbarn?“, fragte Zhaabiz, auf die Pappschachtel deutend, die sich in meiner Hand befand.
„Seine Hühner legen zu wenig. Er braucht sie selbst.“
Ich hoffte mit dieser Erklärung, die Neugier des Mannes besänftigt zu haben. Schnell lief ich davon.
Mein Baba war noch nicht zu Hause, als ich wieder zurückkam. Nur widerwillig berichtete ich meiner Mutter von dem Gespräch mit dem Brothändler. Da sie täglich dort ihre Einkäufe tätigte, war es besser ihr davon zu erzählen, falls auch er sie mal ausfragen würde. Schließlich dachte ich, dass sich unsere Geschichten gleichen mussten. Niemand im Dorf wäre auch nur auf den Gedanken gekommen, dass wir ein Kind entführt und auch noch jahrelang misshandelt haben. Wir, die Husseins, waren sogar sehr willkommen, auch wenn ich und mein Baba nur selten ins Dorf kamen. Es war meiner Mutter zu verdanken, dass wir trotz unserer seltenen Besuche ein gewisses Ansehen genossen. Wäre die ganze Sache aufgeflogen, hätte man meine Eltern ins Gefängnis gesperrt und ich wäre als ein Waisenkind aufgewachsen. Dieser Gedanke machte mir die größte Angst, schon allein deswegen weil ich tagtäglich mitbekam, wie es Bassam erging. So versuchten wir gemeinsam als Familie, alles zu vertuschen. Meine Eltern luden nie Besuch ein und unsere Verwandtschaft, mit der wir uns ohnehin verstritten hatten, wohnte glücklicherweise in Mashhad, im Nordosten des Landes. Mein Baba verriet den anderen Feldarbeitern nicht, wo wir wohnten. Niemand wusste daher, dass am äußersten Rand des Dorfes überhaupt noch eine Lehmhütte stand.
„Mach dir keine Gedanken, sonst platzt noch dein hübscher Kopf“, scherzte meine Mutter. „Er hat es dir bestimmt geglaubt.“
Trotzdem beruhigten mich ihre Worte keineswegs. Zumal ich immer noch das argwöhnische Gesicht Zhaabiz´s im Kopf hatte. Von draußen hörte ich ein seltsames Geräusch. Es hörte sich wie ein Rasseln an, als wenn jemand zwei metallische Gegenstände aneinander reiben würde. In der Tür stand plötzlich Siamak. In seiner Hand hielt er eine längliche, schwarze Kette. Er sagte nichts und blickte nur auf Bassam, der sich ängstlich in seiner Ecke einkugelte. Meine Mutter schwieg ebenfalls. Da wusste ich sofort, dass sie mit meinem Baba gestern Nacht etwas geplant hatte. Darüber wurde also getuschelt. Bassam versuchte zu flüchten, aber mein Baba ergriff seine Schulter, die er so fest drückte, dass er niedersank und anfing zu schreien.
„Du sollst stillhalten!“, brüllte er den Jungen an.
Gewaltsam band er die Kette um Bassams linken Fußknöchel, der sofort bläulich anlief. Das andere Ende befestigte er am Gussofen und versiegelte es mit einem Schloss. Den Schlüssel steckte er in die Hosentasche und setzte sich zu uns an den Tisch. Ich war einfach nur sprachlos.
„Bitte, Siamak, ich werde nie wieder weglaufen“, flehte Bassam, während er an der Kette zerrte. Die Haut an seinem Knöchel war bereits nach kurzer Zeit wund gerieben.
„Jetzt nicht mehr“, sagte mein Baba trocken, ohne Bassam dabei in die Augen blicken.
Mir tat er so leid, dass ich zu ihm gehen wollte.
„Bleib sitzen!“, befahl mein Baba und drückte mich zurück auf den Stuhl.
Elham begann, das Abendessen vorzubereiten. Die Unbekümmertheit, mit der sie mit dieser Situation umging, erstaunte mich. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich das, was meine Eltern taten, als falsch und schämte mich deswegen. Ich machte mir selbst Vorwürfe, nicht weil ich Mitleid mit Bassam hatte, sondern vielmehr weil ich die Erziehungsmethoden meiner Eltern bezweifelte. Ich hielt mich damals auf einen Schlag für einen schlechten Sohn. Auf den Gedanken das ich mit meinem Zweifel richtig lag, kam ich nicht mal.
***
Yassir griff in den Boden und bekam zwei Steine zu fassen. Seine Hände zitterten, als er sie zu Fäusten ballte, um das Gestein zu zerdrücken. Es knirschte, aber zerfiel nicht. Angestrengt versuchte er sich das Versprechen, das er in der Moschee gegeben hatte, in Erinnerung zu rufen. Keinesfalls wollte er Djamal verurteilen, strafen oder verantwortlich dafür machen, was mit seinem Sohn geschehen war. Jetzt zitterte er am ganzen Leib und rang um Fassung.
„Wieso erzählst du mir das?“, fragte er gequält.
„Damit Sie verstehen.“ Djamal hörte sich besonnen an. Ein junger Mann, der niemals die Nerven zu verlieren schien.
„Was soll ich verstehen?!“, sagte Yassir nun etwas lauter. „Was soll ich verstehen?!“
Mit voller Wucht schmiss er die Steine durch das Gitter. Das Echo hielt nicht lange an, ein dumpfes, kurzes Geräusch.
„Es gibt Dinge auf dieser Welt, die kann man nicht auf Anhieb begreifen. Denn sie sind winzig kleine Mosaike eines Gesamtbildes. Ich habe Ihnen bisher nur ein kleines Mosaik gegeben. Erwarten Sie etwa, dass Sie jetzt schon das ganze Werk erkennen?“
„Ich weiß nur, dass ihr meinen Bassam gequält habt, und das ist unverzeihlich.“
Schwer atmend stützte sich Yassir auf dem Boden ab. Er war am Ende und wusste nicht, ob er sich überhaupt noch überwinden konnte, weitere Einzelheiten aus dem Leben Bassams zu erfahren.
„Ich denke, es ist für heute genug. Sie sollten sich ausruhen. Ich will Ihnen nicht zu viel zumuten.“
Völlig aufgewühlt stand Yassir auf und setzte sich auf den blauen Stuhl, der unter seiner Last leise knarrte. Er blickte in die Ferne. Die Landschaft so eintönig und trocken, wie sein derzeitiges Leben. An manchen Stellen war der Boden aufgrund der Dürre rissig.
„Sind Sie noch da?“, fragte Djamal von unten.
„Ja“, antwortete Yassir.
Hinter sich konnte er das Polizeiauto hören, das sich im langsamen Tempo der Gefängniszelle näherte. Zwei Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Die beiden Polizisten hatten also wieder gemeinsam Dienst. Verzweifelt vergrub Yassir sein Gesicht in den Händen. Wie beim letzten Mal legte sich sanft eine Hand auf seine Schulter. Die grellen Sonnenstrahlen verhinderten einen genauen Blick, aber vage konnte Yassir das schmale Gesicht Omids erkennen.
„Gehen wir“, sagte der Polizist nur.
Seit seinen Besuchen war es das erste Mal, dass er von diesen Ort so schnell wie möglich verschwinden wollte, daher stand er ohne zu zögern auf und folgte Omid zum Wagen. Mehran lehnte an der Kühlerhaube und rauchte.
„Hat der Bastard Ihnen etwas Wichtiges erzählt?“, fragte er mit einem neckischen Grinsen.
Yassir ignorierte den kleinwüchsigen Polizisten und stieg sofort auf den Rücksitz. Aus dem Fenster sah er noch zum Gitter. Wie einsame Insel umgeben von einem Meer aus Dürre war es da, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Niemand schien über die Existenz einer solchen Gefängniszelle Kenntnis zu haben. Es war offensichtlich ein streng gehütetes Geheimnis des iranischen Rechtssystems. Yassir war es zu dem Zeitpunkt egal, unter welch unmenschlichen Bedingungen Djamal verwahrt wurde. Sein Groll gegen ihn war jetzt zu groß geworden, um Mitleid zu empfinden. Das was er vermeiden wollte, war nun eingetreten. Er verspürte Hass und Trauer.