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Telefongespräch mit Berit

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»Du, Berit! Du mußt herkommen! Auf die Schnelle! Sonst weiß ich nicht, was ich tu ... Hier sieht’s saumäßig aus, wie nach einem Bombenangriff ... Gleich nachdem du weg warst, kam eine ganze Horde von Typen, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, und die haben sich hier aufgeführt wie die Wilden ... Was heißt da nein sagen, wie stellst du dir das vor? Eine Bande riesiger Kerls mit Flaschen voll scharfem Zeug. Die sind echt einfach reinmarschiert... War denen doch scheißegal, was ich sagte! Und diese Puppe, die Micke angeschleppt hat, diese Susi, du weißt schon, mit den weißen Haaren und der Lederjacke ... Ja, genau die, also, die war die schlimmste von allen. Die hat den ganzen Teppichboden im Wohnzimmer vollgekotzt. Stark, was? ... Nein, klar kannst du das nicht. Ist schon erledigt, ich hab nämlich eine Firma angerufen, und die sind hergekommen und haben den Teppich mit einer Maschine saubergemacht, mit lauter Schläuchen und Schaum und Dampf ... und ob! Sauteuer ... Meine Mutter ist mit fünfhundert rausgerückt ... Klar hab ich das nicht gesagt, da wär sie doch echt übergeschnappt. Sie ist auch so ziemlich sauer geworden. Ich hab nämlich behauptet, daß ich für das Geld, das ich von meinem Vater bekommen habe, Kleider gekauft hätte, und da mußte ich mir eine lange Predigt anhören, daß ich nicht mit den Moneten umgehen könnte und daß es komisch wäre, daß ich wie ein Besen aussähe, obwohl ich so teure Kleider kaufte, aber schließlich hat sie mir das Geld doch gegeben. Und dann wollte sie mich doch tatsächlich zum Laden begleiten und Lebensmittel dafür einkaufen, aber da bin ich ausgebüchst!

Bestimmt ruft sie jetzt bald an und checkt, ob ich da bin ... Was meinst du, kannst du mir wohl beim Aufräumen helfen? Du bist doch so praktisch. Ich bin ganz durcheinander und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Zu zweit ist das viel einfacher ... Also, dann nach dem Abendessen? ... Die Sendung kannst du dir doch hier anschauen ... Doch, dafür reicht die Zeit bestimmt. Zu zweit schaffen wir das viel schneller. Ach ja, übrigens, erinnerst du dich an die Hose, die hast du doch so super gefunden ... Wenn du willst, verkauf ich sie dir. Für ’nen echten Ausverkaufspreis! Ich hab dreihundertfünfzig dafür bezahlt, und du kannst sie für hundert haben, ich hab sie nur das eine Mal angehabt ... Doch, du wirst echt sagenhaft damit aussehen ... Nein, du bist nicht zu dick!

Also, kommst du? ... Ja, komm, wenn du fertig bist. Du, ich hab auch noch einen echt starken Lidschatten, der zu der Hose paßt, also, wenn du sie nimmst, schenke ich dir den! Spitze, Berit. Du bist ein Engel, aber ehrlich! Die beste Freundin der Welt! Wenn du mal in der Klemme steckst, kannst du mit mir rechnen, das garantier ich dir! Ach ja, kannst du bitte ein Scheuerpulver mitbringen und irgendwas, mit dem man Holz sauberkriegt? Aber sag deinen alten Herrschaften lieber nichts. Versprich es! Denn dann darfst du bestimmt nicht mehr mit mir verkehren! ... Doch, sag, daß wir mein Zimmer umräumen und saubermachen wollen! Das klingt so richtig brav und vorbildlich ... So, jetzt hören wir auf, nur noch eine Sache. Was ganz Scheußliches, mir wird schlecht, wenn ich bloß dran denke. Vorhin, als ich heimkam, lag ein Zettel im Briefkasten, vom Hauswirt!... Hier bei uns sei so ein Wahnsinnslärm gewesen, und das ganze Haus habe sich beklagt, und sie wollten uns bei der Polizei anzeigen und so. Einer der Nachbarn sei »bedroht« worden, als er sich habe beschweren wollen ... Keine Ahnung. Wahrscheinlich, als sie die Stereoanlage auf vollen Touren laufen ließen. Wir sollten mit dem Hauswirt Kontakt aufnehmen, steht da, also muß ich jetzt da raufgehen und mich anbiedern! ... Ja, er hat ’nen superfiesen Sohn, der ist stark wie ein Gorilla. Die hassen mich. Aber ich glaube, eigentlich steckt die alte Frau Persson dahinter, der bin ich schon lang ein Dorn im Auge ... Du weißt schon, die mit dem fetten Dackel ... Wann glaubst du, daß du kommen kannst? ... Also hören wir jetzt lieber auf, dann bist du um so schneller hier. Ich erzähl dir dann alles noch genauer. Ciao!«

Als Berit aufgelegt hatte, blieb Natti eine Zeitlang mit dem Hörer in der Hand sitzen, bevor sie ihn sachte auf die Gabel hinuntergleiten ließ. Am liebsten hätte sie das Gespräch noch ewig fortgesetzt, obwohl sie genau wußte, daß Berit sich beeilen mußte, wenn sie noch kommen wollte. Berits vertraute Stimme und sachliche Kommentare hatten ihr ein Gefühl der Geborgenheit eingeflößt. Jetzt fühlte sie sich wieder verlassen und unwirklich. Widerstrebend stand sie auf. Sie blieb an der Wohnzimmertür stehen und besah sich die Verwüstung. Dort drüben der Plattenspieler mit dem scheußlichen Schmierkram auf dem Plattenteller, einem kaugummiähnlichen Brei aus Asche und Drinks. Die Luft war stickig und roch nach den chemischen Dämpfen von der Teppichreinigung und nach altem Zigarettenrauch. Sie sollte ein Fenster aufmachen, um Luft hereinzulassen, konnte sich aber nicht dazu überwinden.

In ihrem Kopf summte es, als hätte sich ein Bienenschwarm darin niedergelassen. Ihr Magen schrie und knurrte immer wieder vor Hunger, um sich anschließend krampfhaft zusammenzuziehen, und im Mund hatte sie einen bitteren Geschmack. Sie sank auf die Armlehne eines Sessels und versuchte die Situation ganz klar zu durchdenken. Lange blieb sie so sitzen, die Füße auf dem Sesselsitz und den Kopf auf die Knie gestützt. Als sie sich schließlich wieder aufrichtete, sah sie zufällig auf ihre Hände – unmöglich, wie der schwarze Nagellack von den Fingernägeln abblätterte! In ihrem verwirrten Gehirn formte sich langsam eine Idee, wie sie die nächste halbe Stunde verbringen könnte, nämlich im Badezimmer!

Doch das war auch kein Zufluchtsort. Toilette und Waschbekken verbreiteten einen so widerlichen Gestank, daß Natti sich prompt übergeben mußte, allerdings kam nichts als bittere Flüssigkeit heraus, die ihr Sodbrennen nur verstärkte. Sie spülte mehrmals hintereinander und ließ das Waschbecken mit Wasser vollaufen, doch da stellte sich heraus, daß der Abfluß verstopft war. Das ekelte sie so sehr, daß sie immer wieder aufs neue würgen mußte. Sie begann wie wild, Eau de toilette um sich zu spritzen, das half aber auch nichts. Erschöpft schwankte sie aus dem Badezimmer, sank im Flur auf den Boden und schluchzte verzweifelt, ohne daß Tränen kamen.

Nach geraumer Zeit raffte sie sich auf und ging wieder ins Bad. Diesmal richtete sie ihren Blick beharrlich auf die weiße Badewanne, die immer noch sauber und blank war. Sie konzentrierte sich darauf, nur an die saubere Wanne zu denken, an die glänzenden Wasserhähne und das weiße Regal, auf dem eine glatte, gelbe Zitronenseife, ein rosa Badeschwamm und ein paar runde geblümte Flaschen mit Haarwaschmittel in hygienischer Harmonie ruhten.

Natti steckte den Stöpsel ein, ließ warmes, klares Wasser in die Wanne strömen und fixierte währenddessen die grüne Badeseife, die an einer Schnur befestigt war. Sie wußte, daß die Seife nach Kiefernnadeln duftete, wagte aber nicht, den Griff von Daumen und Zeigefinger um ihre Nase zu lockern. Mit weiterhin zugehaltener Nase schälte sie sich aus ihren Kleidern und tauchte in die Badewanne ein.

Das dampfend heiße Wasser umschloß ihren Körper. Sie ließ die Seifen um die Wette schäumen, die Badeseife und der Schwamm veranstalteten eine Regatta auf dem Badewannenmeer, eine kleine Nagelbürste war die Jolle, und die runden Fläschchen verströmten reichlich Kräutershampoo.

Der Duft, der Wasserdampf und die frische Luft, die zur offenen Badezimmertür hereinkam, beruhigten Natti so sehr, daß sie ab und zu den Griff um die Nase zu lockern und vorsichtig einzuatmen wagte. Während die Wärme sich in ihrem Körper ausbreitete, begann Natti sich wohler zu fühlen, ja allmählich sogar fast munter! Sie seifte sich ein und redete sich selbst Mut zu. Bestimmt würde alles noch irgendwie gut werden!

Bald würde Berit kommen, die zuverlässige gute alte Berit! Auf Berit war Verlaß. Dadurch war das Aufräumen schon weniger problematisch. Und wer weiß, vielleicht würde Berit tatsächlich schwach werden, die Hose für hundert Kronen kaufen und damit Nattis Finanzen aufbessern. Das Riesenproblem Plattenspieler mußte bis morgen warten. Das Riesenproblem Nummer zwei, der Hauswirt, mußte dagegen schon heute in Angriff genommen werden. Jetzt gleich nach dem Bad, in ganz neuer Aufmachung. Für geile Frisuren und schwarzen Nagellack hatte der Hauswirt keinen Sinn, da kam man besser mit ungeschminktem Gesicht, höchstens ein Hauch von Wimperntusche und etwas Lippenglanz. Außerdem eine brave, platte Frisur, die Stirnfransen vielleicht mit dem Lockenstab leicht gewellt. Kleidung: adrett und schlicht.

Die Sache hatte nur einen Haken! Natti besaß keine Kleider, die für verärgerte Hauswirte paßten. Nur einen einzigen grauen Pulli. Der Pulli wäre an sich in Ordnung, nur brauchte sie dazu noch einen schön faden, schön langen, schön weiten Rock. Am besten marineblau oder kariert. Weinrot ginge zur Not auch. Doch so etwas besaß sie nicht.

Aber Kerstin! Bestimmt war irgendwo in Kerstins Kleiderschrank genau so ein braver kleiner Rock versteckt. Das wäre eine Untersuchung wert.

Der Gedanke an Kerstins Kleiderschrank machte Natti fast vergnügt. Das war etwas ganz Neues. Sonst pflegte die bloße Vorstellung von gediegenen Nachmittagskleidern, weißen Blusen, gebügelten Hosen und neutralen Röcken zu genügen, um Natti kalte Schauer des Entsetzens über den Rücken zu jagen.

Sie beeilte sich, die letzten regenbogenfarbenen Reste aus dem Haar zu duschen, wickelte sich in ein Badetuch und wollte sich ans Werk machen.

Doch in der Türöffnung zu Papas und Kerstins Schlafzimmer erstarrte sie und begann zu frieren. Das Zimmer vor ihr war nicht das Zimmer, das sie kannte, Papas und Kerstins Allerheiligstes. Das riesige Bett, das das halbe Zimmer einnahm, sah wie ein Schlachtfeld aus, Bettzeug und Kissen waren im ganzen Zimmer verstreut. Die eine Nachttischlampe war ins Bett gefallen, ein Nachttisch war mitsamt Wasserglas und Papas Lesebrille umgekippt, und Natti konnte von der Tür aus nicht feststellen, ob etwas zu Bruch gegangen war. Auf dem anderen Nachttisch war ein Glas über der Bettlektüre ausgegossen worden. Zwei schwarze Herrensocken bildeten die Krönung des Werkes, der eine baumelte über dem Toilettentisch, und der andere ruhte in einsamer Majestät auf der nackten Matratze.

Es war, schlicht gesagt, der reinste Alptraum.

Natti holte tief Luft und huschte zum Kleiderschrank hinüber. Sie bewegte sich, als erwartete sie, daß die Gegenstände jeden Augenblick hochschnellen und sie schlagen könnten, weil sie das alles zugelassen hatte.

Sie zögerte noch kurz, bevor sie es wagte, den Kleiderschrank zu öffnen. Plötzlich war die Wärme vom Bad wie weggeblasen. Ihre bloßen Schultern fröstelten, unter dem Badetuch liefen ihr eiskalte Schauer über den Rücken, so daß sie eine Gänsehaut bekam. Sie sammelte den letzten Rest ihrer früheren Entschlossenheit zusammen und begann mit kalten Fingern die wohlgeordneten Kleiderreihen zu durchkämmen.

Alles, was dort hing, war ihr vertraut: Seidenblusen mit Schleifen, Lambswoolpullis und Acrylwesten in passenden Kombinationsfarben, geschmackvolle Kleider und diskrete Röcke, Hosen aus knitterfreiem Jersey mit Dauerbügelfalten. Aber heute kam es ihr gespenstisch vor, das alles zu berühren – fast wie eine Grabschändung.

»Nur Mut, Natti!« flüsterte sie sich selbst zu. Und nach einem raschen Blick zum Bett hinüber sagte sie entschuldigend: »Ich tu’s für euch!«

Das graue Dämmerlicht, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien hereinsickerte, verlieh allem einen unwirklichen Schimmer. Sämtliche Farben waren an diesem verhexten Tag dunkler als sonst.

Plötzlich entdeckte sie das, was sie suchte. Ein schwarz-weißgrau karierter Faltenrock! Als sie ihn rasch vom Bügel nahm, glitt ein anderes Kleidungsstück mit herunter und fiel auf den Boden. In diesem Augenblick läutete das Telefon! Sie packte den Rock und das heruntergefallene Kleidungsstück und stürzte wie ein überrumpelter Dieb aus dem Zimmer. Im Flur schloß sie die Tür hinter sich und lehnte sich kurz dagegen, um Atem zu holen, während das Telefon weiterläutete. Das Badetuch hatte sich gelockert und hing jetzt wie ein erbärmlicher nasser Lappen an ihr herunter.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis sie endlich am Telefon war. Ach du lieber Himmel! Wenn das nur nicht Berit ist, die mir absagen will, dachte sie. Das wäre zuviel!

Natti meldete sich:

»Ach so, du bist es ... Ich war gerade in der Badewanne ... gut ... in der Badewanne, hab ich doch gesagt ... Berit kommt nachher ... Nein, wir wollen nirgends hin, nur ein wenig fernsehen ... Nein, jetzt ist niemand hier ... Wieso, was heißt da komisch? Ich klinge doch nicht komisch! ... Also, ich hab gerade gebadet und bin klitschnaß! Unterhältst du dich etwa gern, wenn das Wasser an dir runtertropft? ... Also, bitte ... Nein, wir gehen nirgends hin, hab ich gesagt! Hörst du schlecht? ... Das hab ich dir doch schon gesagt, daß ich das nicht will ... Nein, ich bin lieber allein ... Was ist denn auf einmal an Ostern so aufregend? ... Du hast doch Lennart ... Aha, ich soll also als fünftes Rad am Wagen dabeisitzen. Einfach super ... eine Menge uralter Leute ... Ja, klar, die ist zwölf Jahre alt. Was soll ich mit der denn anfangen? Mit Puppen spielen? Mensch ärgere dich nicht? Wirklich umwerfend! ... Ich will trotzdem nicht. Jetzt muß ich mich anziehen. Berit kommt gleich. Ja, hab ich ... Fischstäbchen ... Doch, ich komm gut allein zurecht ... Bin ja schließlich kein kleines Kind mehr ... Tschüs!«

Mit einem Seufzer legte Natti den Hörer auf. Annette mit ihrem ewigen Gerede, daß Natti sie über Ostern besuchen sollte, ging ihr mächtig auf die Nerven. Aber jetzt mußte sie sich sputen. Den Rock anprobieren! Aber was war denn das? Ein schwarzes Kleidchen, tief ausgeschnitten, mit einer platten Schleife auf der Brust und langen flügelähnlichen Chiffonbahnen auf dem Rükken. Bestimmt sehr alt. Und kurz. Könnte vielleicht irgendwann Anwendung finden. Sie hatte Kerstin noch nie darin gesehen. Natti hielt das Kleid ein Weilchen vor sich hin, während sie überlegte, ob es auf elegante Art häßlich war oder einfach nur ein spießiger Fetzen. Dann ließ sie es auf einen Stuhl fallen. Jetzt mußte sie sich am Riemen reißen. Es ging schließlich nicht um das Kleid, sondern um den Rock.

Und um den Hauswirt!

Natti

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