Читать книгу Natti - Camilla Gripe - Страница 8

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Als die Frau des Hauswirts die Tür öffnete, erblickte sie eine kleine, seltsame Gestalt in schlechtsitzenden Kleidern. Unter einem dicken grauen flauschigen Wollpulli, der bis weit über die Hüften reichte, hing ihr ein karierter, offensichtlich zu weiter Rock bis an die Knöchel herab, dann kamen dicke graue Wollsocken, die erstaunlicherweise in leuchtendroten Lackpumps mit flachen Taftschleifen steckten.

Über dem Pulli schaute ein blasses kleines Gesicht mit großen Augen zur Hauswirtin auf. Die steif abstehenden Augenwimpern erinnerten an die Sonnenstrahlen auf einer Kinderzeichnung. Die mausbraunen Haare hingen in geraden Strähnen herab, bis auf ein paar nicht ausgekämmte Korkenzieherlocken über der Stirn.

»Guten Tag«, sagte das merkwürdige Geschöpf.

»Guten Tag? Und was ...?«

»Ist er nicht daheim?«

Aha, sie wollte also zu Kennet!

Ohne Nattis intensives Kopfschütteln zu bemerken, begann die Hauswirtin ihren Sohn zu rufen. Kennet war fast noch schlimmer als der Hauswirt, fand Natti. Kennet war groß und stark und hatte ein freches Mundwerk. Er tauchte immer dann auf, wenn man ihn überhaupt nicht brauchen konnte. Harte Schneebälle mit eingebackenem Kies, das Hänseln kleiner Kinder, Schimpfworte und Beinstellen waren ein paar von seinen Spezialitäten. Die einzigen Personen, die Kennet für den anständigsten und nettesten Vertreter der jungen Generation hielten, waren seine Eltern.

Inzwischen wurde die Türöffnung von Kennets kräftiger Gestalt ausgefüllt. Er hatte einen großen Kopf mit flammendroten Haaren, und über dem breiten Mund war der Ansatz eines ebenso roten Schnurrbarts zu ahnen. Nicht einmal die großen Jungs aus der Umgebung riskierten ohne zwingenden Grund Kennets Mißbilligung.

»Da bist du ja«, sagte seine Mutter mit freundlicher Kindergeburtstagsstimme.

Kennet trat aus der Türöffnung auf Natti zu, die daraufhin ein paar Schritte zurückwich. Er musterte sie mit halb zugekniffenen Augen und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. Seine Mutter trat diskret zur Seite und bedachte Natti mit einem freundlichen Kopfnicken, etwas, das Natti im Augenblick dringend nötig hatte.

»Wenn ihr was haben wollt, braucht ihr es nur zu sagen! Vielleicht eine Tasse Kakao?«

Als die Hauswirtin auf die Tür zusteuerte, die vermutlich in die Küche führte, blickte Natti hilflos hinter ihr drein. Da ertönte Kennets Stimme, die im Verhältnis zu seinem Körperumfang erstaunlich hell klang.

»Mama! Siehst du denn nicht, wer das ist?«

Der Blick der Hauswirtin flatterte noch ein weiteres Mal fragend über Nattis Person. Sie schüttelte den Kopf.

»Neeein ... Ich bin mir nicht ganz sicher... Kennen wir uns?«

»Okay, Muttchen! Kakao wäre nicht schlecht! Und ein paar belegte Brote mit Fleischklößchen und gebratenen Eiern! Ich erklär’s dir nachher. Und vergiß die Gurke nicht.«

Die Mutter verschwand, und Natti rückte wieder ins Zentrum von Kennets Aufmerksamkeit. Sprungbereit stand sie am Rand des Treppenabsatzes.

Kennets Augen verengten sich zu kalten grauen Strichen.

»Hast es wohl eilig, was?«

»Nein, aber eigentlich wollte ich mit deinem Vater sprechen.«

»Der ist aber nicht daheim, also kannst du auch mit mir reden!«

»Die Sache geht dich doch überhaupt nichts an«, sagte Natti und versuchte sicherer zu klingen, als sie sich fühlte.

Kennet lächelte überlegen.

»Aha. Soso! Weißt du auch, daß ich mich bloß an dich anzulehnen brauche, um dir sämtliche Rippen zu brechen? Soll ich’s mal probieren?«

»Nein, besten Dank.«

»Na, also! Um was geht es? Müßt ihr nicht demnächst ausziehen?«

»Wieso ausziehen?«

»Doch, ich bilde mir ein, mein Vater hätte so was erwähnt. Daß ihr ausziehen müßt. Bestimmt ist es das, worüber du mit ihm sprechen willst, was? Wann ihr ausziehen müßt, oder?«

Natti schnappte nach Luft. Das war entschieden zuviel. Instinktiv trat sie noch einen Schritt zurück, einen Schritt zu weit nach hinten, über den Rand der Treppe hinaus. Mit Kennets stimmbruchheiserem Wiehern im Ohr kullerte sie eine Treppenstufe nach der anderen hinunter. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihre eine Schulter. Jede einzelne der vielhundertjährigen Treppenstufen machte sich als harter Stoß bemerkbar. Als Natti endlich auf dem unteren Treppenabsatz gelandet war, blieb sie erst einmal ein Weilchen mit geschlossenen Augen liegen.

Kennets Gelächter war verhallt, sie hörte auch keine Schritte, die näher kamen, also wagte sie es, die Augen zu öffnen. Die Treppe über ihr war leer, und das helle Rechteck der geöffneten Tür dort oben war nicht mehr zu sehen. Kennet hatte es gar nicht nötig gehabt, sich an sie anzulehnen. Der bloße Gedanke hatte genügt!

Völlig zerschlagen setzte sie sich auf eine Treppenstufe. Der viel zu lange Rock hatte sich um ihre Beine gewickelt, der Pulli war verrutscht, und ein Schuh fehlte. Außer der Schulter schmerzten jetzt auch noch Hüften, Knie und Ellenbogen. Ein würdevoller Abgang war das nicht gerade gewesen, dennoch konnte sie nicht umhin, vor sich hin zu kichern, während sie ihre schmerzenden Gliedmaßen massierte.

Durch die schmutzigen Scheiben des Treppenhausfensters fiel blaßgraues Dämmerlicht auf Natti herab.

»Und was mach ich jetzt?« fragte sie laut.

Die einzige Antwort war ein monotones Summen, das vom Fenster herkam. Eine Fliege? Natti stand vorsichtig auf und stakste zum Fenster hin. In einer Ecke des Fensters zappelte eine einsame Fliege in einem dicken alten Spinnennetz. Natti stocherte mit den Fingern ein Loch ins Spinnennetz und pulte die Fliege los. Die Fliege summte in ihrer Hand weiter. An den Flügeln hingen noch ein paar graue Spinnwebfetzen. Natti setzte sich wieder und begann die Fliege sorgfältig von dieser hinderlichen Hülle zu befreien, während sie an das zurückdachte, was soeben passiert war.

Einerseits war es nur gut, daß es so gekommen war. Sonst hätte sie dort oben stehenbleiben und sich gegen Kennet behaupten müssen, und schließlich hätte Kennet sie bestimmt die Treppe hinuntergestoßen, und da wäre der Sturz vermutlich noch schmerzhafter ausgefallen.

Am schlimmsten war, daß sie es nicht wagte, noch einmal zum Hauswirt hinaufzugehen. Und wenn das, was Kennet über ihre Kündigung gesagt hatte, nun tatsächlich stimmte? Was dann? Inzwischen summte die Fliege schon etwas fröhlicher. Natti entfernte noch ein paar lästige Fäden, worauf die Fliege abhob und hoch hinauf an die Decke verschwand. Natti blickte ihr fast sehnsüchtig nach, dann zog sie die langen Pulliärmel über ihre kalten Hände und hauchte ihre Finger durch die Wolle hindurch an.

Unten ging die Haustür auf, das Licht wurde angeknipst, ein gelber Schein durch eine trübe Lampenschale, ein Hund kläffte, und schwere Schritte stapften herauf. Vermutlich Herr und Frau Persson, das waren die einzigen im Haus, die einen Hund hatten. Wieder wurde eine Tür geöffnet und geschlossen, es wurde wieder still. Natti atmete auf.

Doch unmittelbar darauf ging die Haustür unten erneut auf, abermals näherten sich Schritte. Natti erhob sich und legte die Hand aufs Treppengeländer, als wäre sie nach unten unterwegs. Wenn das jetzt der Hauswirt war! Er wohnte ja ganz oben, und die Schritte waren nach oben unterwegs. Natti bekam Herzklopfen, mit zitternden Fingern versuchte sie, ihre Kleider zurechtzuziehen.

Allmächtiger! Was sollte sie eigentlich sagen? Das hatte sie sich noch gar nicht überlegt! Die Kleidung war eine Sache, aber man mußte ja außerdem etwas zu sagen haben. Und jetzt fehlte ihr auch noch ein Schuh – wie peinlich!

Ganz recht! Die schwere Gestalt des Hauswirts tauchte im Treppenhaus auf.

Der Herrscher des Hauses hatte Natti noch nicht entdeckt. Das Treppensteigen fiel ihm schwer. Die hohen alten Stufen waren weder für seine Kondition noch für seinen Umfang geeignet. Er ächzte und fluchte leise vor sich hin. Unter der dicken Biberfellmütze perlte der Schweiß. Jetzt ging auch noch das Treppenlicht aus! Ein weiterer Fluch entfuhr ihm, als er plötzlich fast über Nattis zerrupfte kleine Erscheinung gestolpert wäre. Genau wie seine Frau vorhin erkannte er sie nicht wieder. Der Gedanke, daß sie seinen Fluch vielleicht gehört haben könnte, irritierte ihn, überhaupt flößte ihm das ganze Geschöpf ein unbestimmtes Unbehagen ein.

Er packte seine Aktentasche mit festerem Griff. Was mochte das nur für eine seltsame Gestalt sein, die ihm hier in der Dämmerung auflauerte?

Alte Häuser haben manchmal etwas Geisterhaftes an sich. Ein unerklärliches Geräusch, ein ungewohntes Licht, und schon glaubt man, Wesen aus einer entschwundenen Zeit zu ahnen – unsichtbar, aber dennoch fast greifbar.

Der Hauswirt empfand wohl etwas Ähnliches, als er Natti in der Dämmerung vor sich sah, klein, blaß und grau wie eine Spinnwebe. Doch dann beeilte er sich, nach realistischen Erklärungen zu suchen.

Wie konnte dieses verdächtige Individuum in sein anständiges Haus hereingekommen sein? Wieso stand eine so zweifelhafte Figur mitten auf der Treppe, um ihn in seiner mühsamen Wanderung nach oben aufzuhalten? Hatte sie etwa vor, ihm seine Tasche zu entreißen? Was hatte das alles zu bedeuten?

Natti ahnte natürlich nichts von den Gefühlen, die sie im Hauswirt auslöste. Sie sah nur, daß der gefürchtete Mann vor ihr stehengeblieben war, weil sie ihm den Weg versperrte. Daher räusperte sie sich und schluckte und brachte schließlich ein zittriges »Guten Tag« heraus.

Diese einfache Äußerung entwaffnete den Hauswirt so sehr, daß er sie mit einem undeutlichen, aber nicht unfreundlichen Brummen beantwortete.

Die kleine Person hatte offensichtlich nicht vor, ihm seine Aktentasche zu entreißen oder ihm den Schädel einzuschlagen. Aber was dann? Wollte sie vielleicht etwas verkaufen? Im Treppenhaus hing zwar ein eindrucksvolles Messingschild, auf dem zu lesen stand: Betteln und Hausieren in diesem Hause strengstens untersagt. Der Hauswirt. Aber dennoch kamen immer wieder die verschiedensten Händler und Vertreter vorbei, die von Staubsaugern bis zu wundertätigen Heilmitteln und Glaubenslehren alles Erdenkliche anboten.

»Wir sind nicht interessiert, brauchen nichts! Hast du das Schild denn nicht gelesen?« sagte er daher ziemlich barsch.

»Nein«, sagte Natti verblüfft. »Das Schild? Nein, aber den Zettel habe ich gelesen ... Also, deswegen wollte ich ...«

»Was für einen verflixten Zettel?«

Was wollte die Göre eigentlich?

»Also, auf dem Zettel stand, man solle mit dem Hauswirt Kontakt aufnehmen, ja, und oben bei Ihnen war ich ja schon... aber... irgendwie ...«

Der Hauswirt hatte die Existenz dieses Zettels inzwischen vollkommen vergessen, jetzt tauchte er undeutlich wieder in seinem Bewußtsein auf. Ach so, das ... Am betreffenden Abend war er nämlich gar nicht zu Hause gewesen. Frau Perssons lebhafte Beschreibung und die schlecht verhohlene Schadenfreude seines Sohnes hatten ihn veranlaßt, jenes Schreiben zu verfassen, das die ohnehin schwer geprüfte Natti jetzt so sehr belastete. Für ihn selbst war dieser Abend nur mit der Erinnerung an eine feuchtfröhliche Feier verbunden.

Daher fiel es ihm jetzt schwer, den richtigen Zornesfunken zu erzeugen.

Die Kleine sah eher hilflos aus, fand er. Wie konnte dieses kleine Mädchen so großen Ärger verursachen? Aber seine Rolle als Herrscher des Hauses verlangte dennoch eine gewisse Strenge. »Und was wolltest du mir jetzt eigentlich sagen?« erkundigte er sich von oben herab.

Natti zwirbelte und zog an der Unterkante ihres Pullis und schlang sich den schuhlosen Fuß ums andere Bein.

»Ja, also ... Ich möchte mich ganz verd ... besonders für alles entschuldigen ... Das wird nie mehr ... Das wird nie mehr ... wird nie mehr vorkommen ... Das verspreche ich! Ehrenwort!« Eine Fliege begann jetzt wie besessen um das schweißtriefende Gesicht des Hauswirts zu kreisen, was sehr zu seiner Gereiztheit beitrug.

»Schon gut, schon gut. Aber wenn ich mich recht erinnere, sollte mich doch der verantwortliche Mieter aufsuchen. Oder nicht?«

Die Fliege hatte vor, auf seiner Nase zu landen. Der Hauswirt blies und schlug nach ihr.

Natti versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Ihr Blick hing an der Fliege, die sie vorhin gerettet hatte. Trotz allem war der Hauswirt weniger furchteinflößend als sein Sohn. Er schien sehr erschöpft zu sein und wollte wohl am liebsten in seine Wohnung.

»Ich bin zur Zeit allein daheim. Und daher bin ich jetzt wohl die Verantwortliche«, sagte Natti.

»Dann müssen deine Eltern mich eben aufsuchen, wenn sie wieder zurück sind, damit wir darüber reden können.«

Er machte Anstalten, sich an Natti vorbeizuschieben.

»Aber die haben doch nichts damit zu tun! Die waren doch nicht mal daheim ...«

»O doch, deine Eltern haben durchaus was damit zu tun. In höchstem Maße, würde ich sagen.«

Der Hauswirt schnaufte und sah sehnsüchtig die Treppe hinauf.

Die ganze Angelegenheit dauerte ihm zu lang.

»Aber, ich meine, die haben doch nichts getan«, sagte Natti. »Sollen sie denn für etwas büßen, was sie nicht getan haben?« Der Hauswirt verteilte sein Gewicht gleichmäßig auf beide Beine und bereitete sich auf eine längere Ansprache vor.

»Jetzt hör mir mal zu. Die Erziehungsberechtigten sind zwar nicht selbst störend aufgetreten –«

»Sie waren doch gar nicht da –«

»Eben. Aber da sie einer noch nicht volljährigen Person die Verantwortung überlassen haben, tragen sie dennoch die endgültige Verantwortung, da sie ja den Mietvertrag für die Wohnung haben.«

Nattis Hände setzten ihre rastlose Wanderung über den Pulli fort. Sie sah erst auf ihren einen Schuh hinunter und hob dann den Kopf, um den Hauswirt mit einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn anzublicken.

»Das ist ungerecht! Nur weil man nicht volljährig ist!«

»Nun, so ist es eben. Und ich als Hauswirt muß die Beschwerden entgegennehmen. Wenn du das gerecht findest!«

»So meine ich das nicht, aber ...«

»Am besten besprichst du das Ganze mit deinen Eltern, die können sich dann mit mir in Verbindung setzen. Wir zwei kommen jetzt nicht so recht vom Fleck, habe ich das Gefühl.«

Widerstrebend wich sie zur Seite. So eine hartnäckige Göre – eigentlich war sie ja fast schlimmer als der aufdringlichste Hausierer. Er hätte die Eltern persönlich verständigen sollen. Als er an ihr vorbeiging, wich er ihrem Blick aus. Er fühlte sich, als hätte er einen Bettler abgewiesen.

Ein paar Stufen weiter oben begegnete ihm ein roter Lackschuh. Ein kurzer Blick über die Schulter sagte ihm, daß sie immer noch dastand und hinter ihm herstarrte. Er begriff selbst nicht, warum er sich bückte, den Schuh aufhob und damit zu ihr hinunterging. Ihr Dankeschön war kaum vernehmbar.

»Das werden wir schon wieder einrenken. Du hast ja versprochen, daß es nicht wieder vorkommen wird, nicht wahr?«

Ein schwaches Nicken.

»In einem Mietshaus müssen sich alle wohl fühlen. Das begreifst du doch sicher ...«

Wieder ein schwaches, kaum merkliches Nicken.

Er begann sich erneut treppaufwärts zu bewegen, während er der Bettlerin sein letztes Kleingeld hinstreute.

»Du mußt das selbst mit deinen Eltern so in Ordnung bringen, wie du es für richtig hältst.«

Was war in ihn gefahren? Wieso glaubte er, diese kleine Rotznase trösten zu müssen? War er denn nicht mehr ganz bei Trost? Und wie lief die Kleine überhaupt herum – die sah ja völlig unmöglich aus!

Unten ging das Treppenhauslicht an, und als er sich das nächstemal umdrehte, war sie verschwunden. Ein Gespenst wäre ihm lieber gewesen!

Natti

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