Читать книгу Luramos - Der letzte Drache - Carina Zacharias - Страница 11
Die Reise beginnt
ОглавлениеRalea lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie schlief über dem Zimmer ihrer Eltern in einem kleinen Raum direkt unter dem Dach. Durch ein kleines rundes Fenster fiel das erste Tageslicht auf sie und die Wand neben ihr. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon unbeweglich dalag und an die Dachbalken über ihr starrte. Sie wusste, dass sie schon längst hätte aufstehen müssen. Morgana hatte an Tag zuvor noch angekündigt, dass sie am nächsten Morgen vorbeikommen wollte, um ein paar wichtige Sachen für ihre Reise mit ihr zu besprechen, und sie konnte jeden Augenblick auftauchen. Doch trotzdem – oder gerade deswegen – konnte Ralea sich nicht dazu aufraffen, sich auch nur irgendwie zu bewegen.
Solange sie einfach nur hier lag und so tat, als schliefe sie, konnte sie die Gedanken an ihre Reise und den ganzen Rest in den hintersten Winkel ihres Kopfes verbannen und so tun, als wäre das ein ganz normaler Morgen wie jeder andere auch. Doch ganz verdrängen ließen sich die Gedanken natürlich nicht. Vor allem die Gesichter der Leute gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Als sie am Abend nach ihrer Entscheidung aus dem Haus getreten war, hatte sich die Kunde über Raleas Auftrag schon überall herumgesprochen und in der Stadt hatten sich alle Bewohner darüber unterhalten.
Leider hatte Ralea nicht mehr als einzelne Worte aufschnappen können, denn sobald die Menschen sie bemerkt hatten, waren sie verstummt und hatten sie und den leuchtenden Elfenstein an ihrer Brust anklagend angeschaut. Anklagend – das war das richtige Wort. Anklagend, misstrauisch und oft auch beunruhigt. Ralea konnte sich natürlich denken, was in ihren Köpfen vorging. Wahrscheinlich dachten sie, sie hätte die Versammlung in irgendeiner Weise manipuliert, um gewählt zu werden. Was für ein Irrsinn! Wie hätte sie das denn anstellen sollen? Und warum? Sie würde liebend gerne mit diesen Menschen tauschen, wenn sie ihr dann glauben und ihre Aufgabe übernehmen würden!
Aber fast noch schlimmer war, dass ihr das alles erst jetzt klar wurde. Am Vortag hatte sie die Blicke und das Flüstern zwar wahrgenommen, doch sie hatte sich nicht darum gekümmert. Sie war so berauscht gewesen von ihrem Glücksgefühl, dass es überhaupt nicht richtig bis in ihr Bewusstsein gedrungen war. Doch wo war dieses Glücksgefühl jetzt? Die Zuversicht, die sie gestern noch verspürt hatte, war verschwunden und hatte nur einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.
Ralea griff unter ihr Leinenhemd und holte den Elfenstein hervor, den sie die ganze Nacht über um den Hals getragen hatte. Jetzt leuchtete er zwar nicht mehr, doch war sein Blau trotzdem immer noch wunderschön.
War er etwa verantwortlich für ihre gestrige Gehirnwäsche? Denn nichts anderes war es doch gewesen! Auf einmal hatte er sein merkwürdiges Licht verstrahlt und sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie diese Reise antreten musste. Doch andererseits war es immer noch ein Stein. Natürlich kein gewöhnlicher, aber trotzdem konnte er doch gewiss nicht selbstständig denken oder handeln. Vielleicht war es einfach die in ihm gespeicherte Elfenmagie, die ihr nicht bekam.
Doch warum legte sie ihn dann – jetzt, wo ihr dies alles klar geworden war – immer noch nicht ab?
Ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinab, sie steckte den Elfenstein wieder unter ihr Hemd und stand auf, um nicht länger darüber grübeln zu müssen. Das half nun schließlich sowieso nichts mehr. Ihre Entscheidung war gefallen. Ihr Vater war überglücklich gewesen und selbst die misstrauischen Mienen der anderen Leute hatten ihn nicht davon abbringen können, stolz zu grinsen und ihr auf dem Nachhauseweg einen Arm um die Schultern zu legen.
Er hatte es ihr gegenüber nie erwähnt und sich bemüht, es sie nicht spüren zu lassen, doch Ralea wusste, dass er sich insgeheim immer einen Sohn gewünscht hatte. Nach ihrer Geburt war ihre Mutter noch viele Male schwanger gewesen, doch hatte sie jedes Mal eine Fehlgeburt gehabt. Das hatte ihre Eltern stark mitgenommen und ohne ihre Tochter wären sie wahrscheinlich daran zugrunde gegangen. So bemühten sie sich umso mehr, Ralea ein glückliches Leben bereiten zu können, und sie von ganzem Herzen zu lieben. Aber trotzdem hatte Ralea immer das Gefühl gehabt, sie müsse so gut wie drei Kinder auf einmal sein. Als sie jetzt die Freude und den Stolz ihres Vaters gesehen hatte, glaubte sie zum ersten Mal, dass es ihr vielleicht sogar gelungen war. Dass sie vielleicht genau so gut war wie der Sohn, den sich er sich immer gewünscht hatte. Ralea klammerte sich an diesen Gedanken, als sie die Tür öffnete und langsam die knarrenden Stufen der schmalen Treppe nach unten stieg.
Dumm nur, dass ihre Mutter völlig anders reagiert hatte als ihr Vater. Sie hatte Ralea fassungslos angesehen und ihre Augen hatten geglänzt vor zurückgehaltenen Tränen. Unter dem Einfluss der Elfenmagie hatte Ralea keinen Blick dafür gehabt, doch nun plagten sie schreckliche Schuldgefühle und Gewissensbisse. Wie gern würde sie ihr die Wahrheit sagen: Dass sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte und schreckliche Angst hatte fortzugehen. Doch was würde das bringen? Es würde alles nur noch schlimmer, nur noch schwerer machen.
Als sie am Fuß der Treppe angelangt war, stand sie in einem einfachen Raum, der als Küche und Wohnzimmer diente. Ihre Eltern saßen am Tisch und schienen sich eben noch angeregt unterhalten zu haben. Nun blickten sie jedoch Ralea an und ihre Mutter sagte: „Guten Morgen, Schatz. Hast du Hunger?“ Ralea schüttelte den Kopf und setzte sich zu ihnen. Sie sahen beide müde und erschöpft aus. Wahrscheinlich hatten sie am Abend noch lange diskutiert. Sie meinte sogar, dass ihr Vater gar nicht mehr so zuversichtlich aussah, wie gestern noch. Doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
Ihre Mutter gab den Versuch nicht auf so zu tun, als wäre das ein ganz normaler Tag. „Wie hast du geschlafen?“, fragte sie.
„Ganz gut“, antwortete Ralea. Das war die Wahrheit, doch nun fühlte sie sich fast ein bisschen schuldig deswegen, da ihre Eltern wahrscheinlich nicht viel Schlaf bekommen hatten. Gerade wollte ihre Mutter noch etwas sagen, da klopfte es an der Tür. Das Lächeln, das sie bis dahin so tapfer aufrecht erhalten hatte, verrutschte nun vollends zu einer Grimasse. Ralea konnte förmlich sehen, wie ihre Mutter ihre vergeblichen Bemühungen aufgab, als Morgana ungebeten den Raum betrat.
Die alte Frau nickte ihnen höflich zu und schloss die Tür hinter sich. Raleas Vater murmelte einen Gruß, doch ihre Mutter presste nur die Lippen aufeinander und schaute auf ihre Hände.
Wie es Morganas Art war, redete sie nicht lange um den heißen Brei herum. „Ich denke, es ist am besten, wenn wir wieder unter zwei Augen miteinander reden, Ralea.“
„Ach, denkst du?“ Die Stimme von Raleas Mutter durchschnitt die Luft wie ein Peitschenhieb. „Ich denke, Merdrid und ich haben genau so ein Recht darauf zu hören, was du zu sagen hast.“ Sie sah Morgana mit zornesfunkelnden Augen an. „Es geht immerhin um unsere Tochter“, fügte sie noch hinzu.
Morgana hielt ihrem Blick mühelos stand. Ralea fand es ziemlich ungerecht von ihrer Mutter, dass sie der Geschichtenerzählerin scheinbar die Schuld für das Ganze gab. Doch diese nickte nur langsam und sagte ruhig: „Wahrscheinlich hast du recht. Verzeiht mir.“ Die Alte stützte sich schwer auf ihren Gehstock, während sie an den Tisch trat. Ralea sah, dass das an einem Beutel lag, den sie sich auf den Rücken gebunden hatte. Diesen stellte sie nun auf den Boden und ließ sich leise ächzend auf einen freien Stuhl fallen.
„Da ist dein Proviant drin“, erklärte sie auf Raleas neugierige Blicke hin, mit denen sie den ledernen Beutel taxiert hatte.
„Was denn für Proviant?“, fragte Ralea.
„Ein Laib Brot, Dörrfleisch, getrocknetes Obst, Gemüse und Wasser. Teil es dir gut ein. Das Wasser sollte reichen, bis du zum Fluss kommst. Dort kannst du dir die Flaschen neu auffüllen. Bedenke, dass dann der vermutlich schwierigste Teil deiner Reise kommt: die Drachentod-Wüste! Solange du kannst, solltest du dich im Wald von Beeren, Pilzen und Nüssen ernähren. Du weißt doch, was du essen darfst und was nicht?“
Ralea nickte. Selbstverständlich wusste sie das. Die Dorfkinder lernten schon früh, was giftig war und was nicht, um in der näheren Umgebung des Dorfes Beeren und Pilze zu sammeln.
„Das ist ja alles schön und gut“, sagte Raleas Mutter mit kritischer Miene, die genau das Gegenteil ihrer Worte zu sagen schien, „aber wie soll sie den Weg finden? Woher soll sie wissen, in welche Richtung sie gehen muss?“
Morgana nickte bedächtig. „Das wird kein Problem sein. Der Elfenstein wird ihr den Weg weisen.“
„Der Elfenstein?“ Nun war es Raleas Vater, der fragte. „Und wie wird er das machen?“
„Tut mir leid, aber das kann ich euch nicht beantworten. Ich weiß auch nur, was in dem Vertrag unserer Urahnen geschrieben steht.“ Raleas Mutter stieß missbilligend die Luft aus, doch Morgana ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie sah Ralea an und fragte: „Hast du noch Fragen, Kind?“
Ralea nickte. Und ob sie das hatte! „Wie soll ich Luramos einschläfern? In der Geschichte wird gesagt, dass Koras magische Worte spricht, um den Drachen zu verzaubern.“ Ralea dachte auch an die detailliertere Version der Geschichte, die Morgana erzählt hatte. Dabei hatte sie den Kampf mit dem Drachen und Koras’ mutige Heldentat ganz genau beschrieben. Wenigstens würde Luramos noch schlafen, wenn sie zu ihm kommen würde. Sie brauchte nur den Zauber wieder aufzufrischen. Es sei denn, der Zauber verlor früher als gedacht seine Wirkung ... doch daran wollte sie lieber nicht denken.
Morgana nickte wieder und antwortete: „In dem Vertrag, den die drei Völker Romaniens nach dem Sieg über Luramos verfasst haben, steht geschrieben, dass der Stein nur an die Schläfe des Drachen gehalten werden muss. Die Magie in ihm wird wissen, was zu tun ist, da der Stein seinen eigenen Zauber erkennen wird.“
Ralea unterdrückte ein Schaudern. Ihr Unwohlsein lag nicht nur daran, dass sie dem Drachen also verdammt nahe kommen musste. Morganas Worte erinnerten sie auch an ihre Überlegungen von vorhin, ob der Stein wohl denken und handeln konnte wie ein selbstständiges Wesen.
„Da ist noch etwas Wichtiges“, sagte Morgana. „Luramos liegt in einer Höhle, die Bestandteil einer Felsformation ist. Merke dir genau den Weg, wie du zu der Höhle gekommen bist, damit du auch wieder herausfindest.“
„Moment mal! Hast du nicht eben noch gesagt, der Elfenstein würde Ralea führen?!“, rief Raleas Mutter alarmiert.
„Ich war ja auch noch nicht fertig.“ Morgana sah unverwandt Ralea an, der ein wenig mulmig wurde unter dem eindringlichen Blick ihrer klugen Augen. „Der Elfenstein wird dich hinführen, doch nach dem Zauber ist seine Magie verbraucht. Es steht zwar nichts davon in dem Vertrag, doch wir müssen damit rechnen, dass er dich dann nicht mehr führen kann. Du musst also allein wieder dort herausfinden und dich dann immer nach Süden halten. Meinst du, du schaffst das?“
Ralea nickte und rief sich den Kinderreim wieder ins Gedächtnis, den ihr Vater ihr vor Jahren einmal beigebracht hatte: „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergeh’n, im Norden wird sie nie gesehen.“ Da bei ihnen im Dorf und noch dazu mitten im Wald nie die Notwendigkeit bestand, die Himmelsrichtungen zu kennen, bereitete ihr das Ganze etwas Bauchschmerzen, doch sie traute sich das durchaus zu. Was blieb ihr auch anderes übrig?
„Und im Wald?“, fragte ihre Mutter, bestrebt einen schwachen Punkt in der Planung zu finden. „Wie findet sie allein durch den Wald?“
„Sie wird nicht allein durch den Wald finden müssen. Nachdem ihre Aufgabe erfüllt ist, besteht nicht mehr die Notwendigkeit, dass sie allein reisen muss – so wie der Vertrag es vorschreibt. Die Baumlinge werden an der Grenze des Waldes zahlreiche Späher aufstellen, die sie empfangen und sicher nach Hause bringen werden.“
Ralea konnte sich denken, dass ihre Mutter nicht begeistert von dieser Vorstellung war. Zwar entsprach die Geschichte von dem gemeinsamen Sieg, dem Vertrag und der Freundschaft der drei Völker Romaniens der Wahrheit, doch waren dreihundert Jahre eine lange Zeit ... In den vielen Jahren hatten sich alte Vorurteile über die Baumlinge und die Elfen längst wieder in den Köpfen der Menschen festgesetzt.
So galten Baumlinge als wild und unzivilisiert und viele missbilligten ihre Art zu leben – wohlgemerkt, ohne wirklich zu wissen, wie sie lebten. Es war wenig bekannt über die Baumlinge, außer dass sie in den Wäldern hausten und gute Jäger waren. Ralea hatte erst selten welche zu Gesicht bekommen – sie machten manchmal Tauschgeschäfte mit den Menschen – doch sie hatte noch nie ein Wort mit einem von ihnen gewechselt. Trotzdem fand sie die Vorstellung wenigstens auf dem Rückweg eine Begleitung und Führer zu haben, sehr beruhigend.
Morgana öffnete den Beutel, der immer noch neben dem Tisch stand, und förderte ein paar Lederstiefel zutage. „Die hier hatte der Schuster eigentlich für seinen Sohn gemacht, doch er hat sich bereit erklärt, sie dir zu überlassen.“ Sie schob sie Ralea zu, die überrascht die Augenbrauen hochzog. „Du wirst festes Schuhwerk brauchen“, erklärte Morgana auf Raleas ungläubigen Gesichtsausdruck hin.
„Nein, das ist es nicht, was mich so überrascht.“ Ralea rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. „Mich wundert bloß, dass der Schuster ... na ja, gestern sah es so aus, als würden mich alle Leute hassen ...“
„Oh, sie hassen dich nicht!“, sagte Morgana schnell. „Tatsächlich aber gibt es viele, die deinen Fähigkeiten misstrauen und eine erneute Wahl fordern. Andere behaupten, dass ein Mädchen dieser wichtigen Aufgabe nicht gewachsen ist. Doch ich habe mit ihnen geredet und konnte die meisten davon überzeugen, hinzunehmen, dass du die einzig mögliche Wahl bist und dass sie dich lieber unterstützen sollten.“
„Wirklich?“ Sofort fühlte sich Ralea ein ganzes Stück besser.
„Nun probier sie aber mal an. Es müsste ungefähr deine Größe sein.“ Morgana schob ihr die Stiefel über den Tisch zu und Ralea zog sie sogleich an. Tatsächlich passten sie erstaunlich gut. Man hätte sogar meinen können, sie wären eigens für sie angefertigt worden.
„Und meine Kleider? Kann ich die anlassen?“ Ralea schaute an sich herab. Sie trug ein einfaches Leinenhemd und einen Rock, den sie rot eingefärbt hatte – ihre Lieblingsfarbe.
„Selbstverständlich. Gibt es sonst noch etwas, das man klären müsste?“
Ralea schluckte und spürte einen dicken Kloß im Hals. Sollte es etwa jetzt schon losgehen? Aber sie war noch nicht bereit! Am liebsten hätte sie darum gebeten, noch ein paar Tage zu warten, doch sie wusste, dass die Zeit drängt, und sie wollte ihre Angst nicht zeigen. Also schüttelte sie nur stumm den Kopf und vermied es, ihre Mutter anzusehen.
Morgana nickte. „Gut. Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich werde vor dem Haus auf dich warten.“ Sie erhob sich und verließ den Raum.
Ein unangenehmes Schweigen entstand. Ralea sah angestrengt auf ihre neuen Stiefel. Ihre Eltern sollten sich also hier von ihr verabschieden. Vielleicht war das besser so. Draußen hätten ihnen zu viele Leute zugesehen. Und zwar nicht nur die Einwohner ihres Dorfes, auch die meisten, die wegen der Versammlung aus anderen Dörfern angereist waren, hatten hier übernachtet, um zu sehen, wie Ralea zu ihrer Reise aufbrechen würde.
Erst als ein Stuhl über den Boden geschoben wurde, blickte Ralea auf. Ihre Mutter war aufgestanden. Die Tränen strömten ihrer lautlos über die Wangen, doch sie lächelte, als sie auf ihre Tochter zuging und sie in die Arme schloss. Ralea klammerte sich an sie und wünschte, sie könnte ebenfalls weinen. Doch ihre Tränen waren viel zu tief in ihr verankert, vielleicht hatte sie sie zu lange zurückgehalten.
„Du weißt, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn du nicht gegangen wärst“, flüsterte Raleas Mutter. „Aber lass dich davon nicht zu sehr verunsichern. Das würde alles nur noch schwerer für dich machen. Ich mache mir einfach so schreckliche Sorgen, verstehst du? Aber das ist schließlich normal – ich bin immerhin deine Mutter!“
Nun schluchzte sie doch und es zerriss Ralea das Herz. „Trotzdem bewundere ich deinen Mut. Das musst du mir glauben. Und ich bin“, sie löste sich von Ralea und sah ihr tief in die Augen, „ich bin unglaublich stolz auf dich. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Dass du es schaffen wirst! Du warst schon immer so stark und zielstrebig.“ Ihre Stimme erstarb und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht erneut schluchzen zu müssen.
„Danke Mama ...“ Auch Ralea flüsterte. Hätte sie versucht, laut zu sprechen, hätte sie wahrscheinlich nicht mehr als ein Krächzen zustande gebracht. „Ich werde zurückkommen. Ich versprech’s.“ Allein der Gedanke, dass das kein Abschied für immer war, konnte den Schmerz ein wenig lindern.
Nun stand auch ihr Vater auf. Zwar lächelte auch er, als er auf Ralea zuging, doch sie tatsächlich ein paar Tränen in seinen Augen glitzern, als ihre Mutter von ihr wegtrat und er sie in die Arme schloss. Ralea schmiegte sich an seine Brust, wie sie es auch in der Vergangenheit so oft schon getan hatte, und störte sich nicht daran, dass ihr Vater sie so fest drückte, dass ihr fast die Luft wegblieb.
„Deine Mutter und ich glauben an dich“, sagte er. „Aber es ist wichtig, dass du auch an dich glaubst.“
„Ich weiß“, flüsterte Ralea. Doch war sie sich nicht wirklich sicher, ob sie diese Stärke besaß. Der Vater hielt seine Tochter auf Armeslänge von sich entfernt und betrachtete sie ganz genau, als würde er erst jetzt erkennen, wie groß sein kleines Mädchen geworden war. „Du wirst in die Geschichte eingehen, stell dir vor! Bloß dumm, dass deine Alten wahrscheinlich nicht erwähnt werden ...“ Er zwinkerte ihr zu und Ralea musste gegen ihren Willen lächeln. „Nun aber auf mit dir!“ Bildete sie sich das nur ein oder hatte er sich gerade eine Träne weggewischt? Ralea konnte sich nicht erinnern, ihren Vater jemals weinen gesehen zu haben.
Er trat von ihr weg und stellte sich neben seine Frau. Ralea nahm wie mechanisch den Beutel mit ihrem Proviant auf und schlang ihn sich auf den Rücken.
„Wir werden in Gedanken immer bei dir sein!“, sagte ihre Mutter.
Und ihr Vater fügte hinzu: „Es ist alles halb so wild. Jeder auf deinem Weg wird dir wohlgesinnt sein. Es geht schließlich um unser aller Heimat und Leben!“
Ralea lächelte tapfer. Sie brauchte jedoch all ihre Beherrschung, um sich davon abzuhalten, gleich noch einmal zurückzulaufen und sich ihren Eltern in die Arme zu werfen. Sie standen ganz dicht beieinander und hatten die Hände ineinander verschränkt. Ohne diesen Anblick und die Gewissheit, dass sie sich gegenseitig Halt und Trost spenden konnten, hätte Ralea es wohl nie geschafft, sich umzudrehen und schnellen Schrittes zur Tür zu gehen. Dort konnte sie dann allerdings doch nicht der Versuchung widerstehen, noch einmal zurückzublicken. Ihre Eltern standen unverändert da und lächelten ihr zu.
Ralea formte mit den Lippen die Worte: „Ich hab euch lieb!“ Dann öffnete sie die Tür, trat nach draußen und schloss sie hinter sich mit der gleichen schnellen und endgültigen Bewegung.
Die Straße war zum Glück menschenleer. Nur Morgana lehnte an der Hauswand neben der Tür und sah sie erwartungsvoll an. „Können wir?“ Ralea atmete einmal tief ein und aus. Dann nickte sie und folgte Morgana ein wenig widerstrebend.
Wo waren bloß all die Leute? Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Doch Ralea sollte es recht sein. So konnte sie sich alles noch einmal genau anschauen und einprägen. Und bei jedem Haus, an dem sie vorbeikamen, und jedem Weg, den sie verließen, zog sich ihre Kehle etwas fester zusammen. Ob sie das alles jemals wieder sehen würde? Selbst, wenn sie keine Feinde erwarten würden, so wie ihr Vater es prophezeit hatte, war der Weg durch die Drachentod-Wüste beschwerlich und niemand hatte ihn bisher gewagt.
Morgana, die trotz ihres Gehstocks erstaunlich flink auf den Beinen war, steuerte auf den Waldrand hinter dem Marktplatz zu. Und nun kamen auch die ersten Menschen in Sicht. Sie standen am Wegrand und lächelten ihr zu. Viele riefen ihr Glückwünsche zu oder steckten ihr sogar etwas zu essen zu.
Ralea war überwältigt. Was für eine Überredungskünstlerin Morgana doch war! Obwohl sie das eigentlich nicht wundern durfte, war sie doch so geschickt, wenn es darum ging, ihre Worte zu den schönsten Geschichten zu spinnen. Beim Anblick der begeisterten Menschenmenge breitete sich ein erleichtertes und dankbares Lächeln auf Raleas Gesicht aus. Sie war so damit beschäftigt, sich zu bedanken und ausgestreckte Hände zu schütteln, dass sie erst bemerkte, dass Morgana stehen geblieben war, als sie schon fast gegen sie stolperte. Sie sah auf und erblickte die Bäume. Sie waren am Dorfrand angekommen. Hier gingen die Häuser nahtlos in den Wald über. Ralea merkte, wie sich ihre Kehle von Neuem zuzog.
„Ralea!“
Ralea drehte sich um und sah sich dem Dorfobersten gegenüber. Unwillen breitete sich in ihr aus. Sie hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt, deshalb war sie nun ein wenig verwirrt, dass er sich so um sie bemühte. Er räusperte sich und wartete, bis die Menschen um ihn herum einigermaßen ruhig waren. Dann sagte er: „Wir haben uns alle hier versammelt, um dich zu verabschieden. Wir wünschen dir alles Gute auf deinem Weg. Mögen die Götter über dich wachen und mögest du ruhmreich zu uns zurückkehren!“
Ralea starrte ihn an. Das war es also? „Ich ... ich kann noch nicht gehen“, krächzte sie.
Der Dorfoberste wirkte verärgert. „Was ist denn noch?“, fragte er ungeduldig.
„Ich habe mich noch nicht von meiner Freundin verabschiedet“, erklärte Ralea kleinlaut. Auf dem ganzen Weg hatte sie Ausschau nach Lora gehalten, doch sie hatte sie nicht entdecken können. Vielleicht war sie ja da gewesen, aber die anderen Leute hatten sie verdeckt? Vielleicht hatte sie ja nach Ralea gerufen, doch sie hatte ihre Stimme nicht von den anderen unterscheiden können? Diese Gedanken ließen Ralea innerlich zusammenzucken. Sie konnte auf keinen Fall gehen, ohne Lora noch einmal gesehen zu haben.
Da drang eine Stimme zu ihr herüber: „Ralea! Ralea, warte!“
Ralea wirbelte herum und sah, wie Lora atemlos den Weg entlanggelaufen kam. Vor Ralea blieb sie stehen und sagte mit gespielter Empörung: „Ich dachte schon, du wolltest gehen, ohne dich zu verabschieden!“
Ralea grinste. „Und ich dachte, du würdest einmal in deinem Leben pünktlich sein!“
Statt einer Antwort fiel Lora Ralea um den Hals. Endlich kamen die Tränen. Ralea lachte und weinte gleichzeitig. Sie wusste, dass alle Leute ihnen zusahen, doch es war ihr egal. In diesem Augenblick zählten nur sie beide. „Ich werde dich vermissen“, schluchzte Ralea in Loras blondes Haar.
„Und ich werde dich vermissen!“ Auch Lora weinte bitterlich.
So standen die Freundinnen eine ganze Weile in ihre eigene Welt versunken. Als sie sich schließlich voneinander lösten, wirkte der Dorfoberste schon ziemlich ungehalten vor Ungeduld.
„Als ob es auf die paar Minuten ankommt“, dachte Ralea ärgerlich.
„Pass auf dich auf!“, flüsterte Lora so leise, dass nur Ralea es hören konnte. Sie hielt immer noch die Hände der Freundin in den ihren.
„Pass du auf dich auf!“, flüsterte Ralea zurück. Und nach einem kurzen Moment fügte sie hinzu: „Und auf meine Eltern!“
Lora lächelte durch ihre tränennassen Wimpern hindurch. „Du schaffst das. Wenn es jemand schafft, dann du!“ Langsam und unendlich schmerzvoll lösten sich ihre Hände. Lora trat einen Schritt zurück und grinste tapfer. „Na, los! Du hast ein Land zu retten!“
Ralea lachte. Wie schaffte Lora es nur, jeder Situation etwas Komisches abzuringen? Noch ein letztes Mal ließ sie die Augen über die Menschen schweifen, die zwischen den Häusern und auf den Straßen standen. Sie alle lächelten ihr zu. Es waren weitaus weniger als die Massen, die zu der Versammlung am Vortag erschienen waren, doch viel mehr, als Ralea vermutet hatte. Viele waren ihr völlig fremd, doch die meisten waren Bewohner ihres Dorfes, die Ralea seit ihrer Kindheit kannte. Der Dorfoberste wischte sich mit einem Stofftuch den Schweiß von der Stirn. Lora grinste immer noch, doch Ralea kannte sie gut genug, um die Wehmut in ihren Augen zu erahnen. Morganas Miene war wie immer unergründlich, aber in ihren Augen lag ein Funkeln, das Ralea nicht zuordnen konnte.
Dann drehte Ralea sich um. Sie blendete alle Gedanken, alle Gefühle aus, während sie in den Wald ging. Sie schaute nicht zurück, auch nicht, als laute Abschiedsrufe hinter ihr erschallten. Mit jedem Schritt wurde der Wald dichter, die Stimmen leiser. Mit jedem Schritt entfernte sie sich weiter von ihrer Heimat und kam ihrer ungewissen Zukunft näher.