Читать книгу Luramos - Der letzte Drache - Carina Zacharias - Страница 17
Waldgeflüster
ОглавлениеKaum dass der nächste Morgen graute, wurde Ralea ziemlich unsanft dadurch geweckt, dass jemand sie an den Haaren zog. Verschlafen schlug sie die Augen auf – und schaute mitten in das feixende Gesicht einer Pitzi. Ruckartig fuhr sie auf und stieß im selben Moment einen spitzen Schrei aus: Ihre Haare waren mit einem Strauch hinter ihr verknotet.
Die Pitzi lachte keckernd und flog davon. Erst jetzt bemerkte Ralea, dass es nicht die einzige war. Überall um sie herum flogen Pitzi durch die Luft, räumten ihren Proviantbeutel aus, schmissen seinen Inhalt durch die Luft und spielten mit Tajos Pfeilen, der gerade erst von Raleas Schrei aufgewacht war.
Auch er war sofort hellwach und sprang auf die Füße – seine Haare hatten sie wenigstens nicht mit irgendwelchen Pflanzen verknotet! Während er fluchend versuchte, dem Pitzi seine Pfeile abzunehmen, machte Ralea sich daran, ihre Haare von dem Strauch zu lösen. Ihre Kopfhaut brannte höllisch und sie riss sich einige Strähnen aus, bis sie endlich aufstehen konnte.
Pitzi waren eine Unterart der Elfen. Sie waren etwa so groß wie Raleas ausgestreckte Hand, hatten libellenartige Flügel und lebten im gesamten Waldgebiet Romaniens. Sie hatten blasse Haut und ebenso farbloses Haar, das sie jedoch gewissenhaft mit dem Saft von giftigen Beeren färbten. Sie fertigten sich einfache Kleidung aus Blättern und unterhielten sich mit ihren piepsigen Stimmen in einer schnellen, unverständlichen Sprache. Sie verirrten sich zwar selten in die Menschendörfer, doch Ralea hatte sie trotzdem schon kennen – und fürchten – gelernt. Zwar waren sie nicht besonders groß, doch machten sie das durch ihre Anzahl und Dreistigkeit locker wett. Es waren furchtbare Quälgeister, die jede Chance nutzten, um jemandem eins auszuwischen oder ihm einen Streich zu spielen. Und wenn man sich dann aufregte und versuchte, sie zu verscheuchen, stachelte man sie nur noch mehr an.
Tajo hüpfte immer noch wild durch die Gegend und versuchte den Pitzi seine Pfeile abzunehmen. Diese waren leider viel zu schnell für ihn: Sie flogen dicht an ihn heran, streckten ihm die Zunge raus und wedelten mit den Pfeilen vor seiner Nase herum, doch wenn er dann zupacken wollte, flogen sie blitzschnell davon und lachten ihn lauthals aus.
Unter anderen Umständen hätte wohl auch Ralea über Tajos wilde Luftsprünge lachen müssen, doch jetzt fuhr ihre Hand wie automatisch zu dem Elfenstein unter ihrem Leinenhemd – ein Glück, er war noch da! – und dann sprintete sie auf drei Pitzi zu, die ihren Lederbeutel in die Luft hoben und auf den Kopf stellten, sodass der gesamte Inhalt sich auf den Waldboden ergoss.
Als sie Ralea auf sich zu kommen sahen, wollten sie erschrocken davon fliegen, doch der Beutel war für drei so kleine Wesen ziemlich schwer und Ralea hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie erwischte den Beutel an einer Ecke und riss ihn mit einem Ruck an sich. Die Pitzi drohten ihr mit ihren kleinen Fäusten und beschimpften sie in ihrer keckernden Sprache, doch Ralea beachtete sie nicht weiter. Sie bückte sich schnell und versuchte die Sachen wieder in den Beutel zu stecken. Bevor jedoch auch nur die Hälfte wieder sicher verstaut war, kamen andere Pitzi und schnappten die Lebensmittel weg.
Ralea richtete sich stöhnend auf und sah mutlos in die Luft, die voll von lachenden und rufenden Pitzi war. Sie saßen sogar auf den Bäumen und bewarfen sie und Tajo mit Vogelbeeren.
Tajo kam keuchend neben ihr zum Stehen. „Das hat keinen Zweck“, sagte er. Er hatte bloß drei seiner Pfeile retten können. „Lass uns einfach weitergehen und sie ignorieren. Irgendwann wird es ihnen langweilig, dann schmeißen sie die Sachen auf den Boden und hauen ab.“
Ralea nickte und drückte ihren Lederbeutel an die Brust. Würde sie ihn auf den Rücken ziehen, hätten die Pitzi ihn in kürzester Zeit erneut geplündert. So machten sie sich also wieder auf den Weg und gaben sich Mühe, die frechen Pitzi nicht zu beachten. Das war gar nicht so einfach, denn sie schwirrten überall um sie herum, die Luft war erfüllt von ihrem nervtötendem Stimmengewirr und sie rissen an Kleidern und Haaren.
Tajo ließ sich davon nicht beirren. Er ging einfach stur geradeaus und knurrte nur einmal leise: „Wie ich diese Nervensägen hasse!“ Ralea versuchte, es ihm gleichzutun und nach einer Weile bewahrheitete sich tatsächlich seine Vorhersage: Einer nach dem anderen ließen die Pitzi die Pfeile und das Essen fallen und schwirrten zurück in den Wald. Tajo und Ralea sammelten ihre Habseligkeiten auf, beide seufzten erleichtert auf und setzten ihren Weg nun ungestört fort.
Schon bald begannen sie wieder, sich gegenseitig Fragen zu stellen, und schließlich vertrieben sie sich die Zeit damit, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Denn auch wenn Tajo sich vielleicht in vielerlei Hinsicht von seinen Artgenossen unterschied, so teilte er doch auf jeden Fall ihre Liebe zu Geschichten und Erzählungen. Er fragte Ralea nach ihrer Lieblingsgeschichte und sie erzählte ihm eine, die auch Morgana ihr früher immer und immer wieder hatte erzählen müssen.
„Sie handelt von einer Elfe, die ohne Flügel geboren worden ist“, begann Ralea ihre Erzählung. „Deshalb wird sie immer von den anderen Elfen bemitleidet und bemuttert. Zwar wird sie nie gehänselt, da so etwas grundsätzlich bei den friedliebenden Elfen nicht vorkommt, aber sie wünscht sich sehnlichst, gleichberechtigt zu sein und respektiert zu werden. Außerdem wünscht sie sich von ganzem Herzen, fliegen zu können. Eines Tages ist sie furchtbar traurig und geht in den Wald, um allein sein und weinen zu können. Dort findet sie ein verwundetes Reh, das im Sterben liegt. Sie ist darüber so schockiert und ergriffen, dass sie ihren eigenen Kummer völlig vergisst. Wie es der Zufall will, läuft ihr eine gute Fee über den Weg, die ihr die Erfüllung eines Wunsches verspricht. Sofort wünscht sich die Elfe, dass das Reh wieder gesund ist. Die Fee schwenkt ihren kleinen Zauberstab und schon ist das Reh geheilt. Es steht auf, wirft der überglücklichen Elfe einen langen, dankbaren Blick zu und springt davon. Erst da geht der Elfe auf, dass sie gerade die Chance ihres Lebens vertan hat. Trotzdem kann sie nicht wirklich traurig darüber sein, weil sie weiß, dass sie etwas Gutes getan hat. Die Fee aber bemerkt die Niedergeschlagenheit der kleinen Elfe sofort und sieht auch ihr gutes Herz, das schwer vor Kummer über ihren unerfüllbaren Wunsch ist. Als Belohnung für ihre selbstlose Tat zaubert sie der Elfe die größten und schönsten Flügel aller Zeiten und von da an lebt die kleine Elfe glücklich bis an ihr Lebensende.“
Als Ralea geendet hatte, schaute sie erwartungsvoll zu Tajo herüber. Sie konnte lange nicht so schön erzählen wie Morgana, doch diese Geschichte hatte sie schon so oft gehört, dass es ihr trotzdem ganz gut gelungen war, so fand sie selbst zumindest.
„Es ist keine besondere Geschichte“, sagte sie schnell, als müsse sie sich rechtfertigen. „Aber als ich klein war, war das meine absolute Lieblingsgeschichte.“
„Sie ist wirklich schön“, sagte Tajo. In seinen grünen Augen konnte Ralea lesen, dass er es absolut ehrlich meinte.
„Und? Was ist deine Lieblingsgeschichte?“, fragte sie neugierig.
„Da muss ich nicht lange überlegen!“, antwortete der Baumling eifrig und fing sofort an zu erzählen. Das Erzählen schien ihm ebenso in die Wiege gelegt worden zu sein wie Morgana. Auf jeden Fall nahm Ralea schon nach den ersten vier Sätzen kaum noch den Wald um sich herum wahr, so eingenommen war sie von dem Klang seiner Stimme und den Bildern, die sie in ihrem Kopf wach rief.
In Tajos Geschichte ging es um einen jungen Baumling, der eines Nachts davon träumte, dass es noch Drachen gab, die in den Bergen lebten und die Magier überlebt hatten. Als er aufwachte, war er felsenfest davon überzeugt, dass er eine Vision gehabt hatte, die ihm die Waldgeister gegeben hatten. Er erzählte den anderen Baumlingen davon, doch die lachten ihn nur aus und sagten ihm, dass er sich das aus dem Kopf schlagen solle. Er dachte aber nicht daran und machte sich auf, nach diesen Drachen zu suchen. Nach einer langen und beschwerlichen Reise quer durch die Drachentod-Wüste erreichte er das nördliche Gebirge.
Lange Zeit suchte er vergebens, doch als er gerade aufgeben wollte, fand er tatsächlich Drachen. Sie waren anders, als diejenigen, die früher im Zentrum Romaniens gewohnt hatten – sie waren lang und dünn wie Schlangen und hatten zwei Hauer aus Kristall, die denen von Wildschweinen ähnelten – doch sie waren ebenso friedlich wie ihre toten Verwandten. Außerdem waren sie begeistert von der Vorstellung, in der Drachentod-Wüste leben zu können und so der ewigen Kälte zu entfliehen. So kehrten wieder Drachen in Romanien ein und der Baumling wurde bei seiner Rückkehr als Held gefeiert.
„Toll!“, hauchte Ralea, als Tajo geendet hatte und sie wieder in die Wirklichkeit eintauchte. „Du kannst einfach super erzählen. Und die Geschichte ist auch wunderschön!“ Ihr war es total ernst damit. Die Vorstellung, dass es außer Luramos noch Drachen geben könnte, war einfach unglaublich. Sie konnte nicht anders, als zu fragen: „Meinst du, es könnte etwas Wahres daran sein?“
Tajo sah sie überrascht an. „Daran, dass es noch Drachen gibt? Ich glaube nicht. Es ist nur eine Geschichte, die sich irgendjemand ausgedacht hat. Vielleicht ist dir ja auch aufgefallen, dass sie ein paar Lücken in der Handlung hat. Über die erste kann man ja noch hinwegsehen: nämlich darüber, dass ein Baumling freiwillig seinen Wald verlässt, um durch Romanien zu wandern!“ Er lachte leise.
Auch Ralea lächelte amüsiert. „Na gut. Und was noch?“
„Es wird mit keinem Wort erwähnt, wovon die Drachen sich ernähren sollen. In der Drachentod-Wüste gibt es doch nichts mehr, weder Pflanzen noch Tiere.“ Ralea seufzte leicht enttäuscht. Natürlich war es nur ein Märchen, doch der Gedanke hatte sie dennoch fasziniert. „Ich mag die Geschichte trotzdem gerne“, sagte Tajo und Ralea stimmte ihm begeistert zu.
Langsam bekamen sie Hunger und beschlossen, eine Pause einzulegen. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und Ralea teilte etwas von dem gepökelten Fleisch und dem Brot unter ihnen auf, das sie schweigend aßen, jeder in seine Gedanken vertieft. Als sie sich etwas ausgeruht hatten, tranken sie noch etwas – Tajo trug an einem Gürtel eine kleine Wasserflasche bei sich – und gingen weiter.
Ralea genoss die friedliche Atmosphäre des Waldes immer mehr. Sie lauschte beim Laufen andächtig dem Singen der Vögel, atmete tief die frische Waldluft ein und bewunderte fasziniert die Schönheit um sich. Sie konnte nicht fassen, dass ihr diese vorher nie aufgefallen war, obwohl ihr Heimatdorf doch von Wald umgeben war. Aber sie war damit groß geworden, dass die Erwachsenen sie vor dem Wald und seinen Gefahren gewarnt hatten. Immer wieder war ihr und den anderen Kindern eingebläut worden, sich bloß nicht zu weit vom Dorf zu entfernen. „Bei meiner Rückkehr wird sich das ändern“, dachte Ralea nun bei sich. Der Gedanke gefiel ihr. Außerdem war Ralea begierig darauf, noch mehr Geschichten zu hören, und Tajo wurde nicht müde, ihr eine nach der anderen zu erzählen.
Schließlich fragte er sie, ob sie noch eine Lieblingsgeschichte kannte. Nach kurzem Überlegen antwortete Ralea: „Eine der Geschichten, die die Kinder aus meinem Dorf immer gerne gehört haben, ist die, in der es um die Magier, Luramos und den Elfenstein geht. Doch die kennst du ja auch schon ...“
„Erzähl sie trotzdem! Es ist bestimmt interessant mal zu hören, wie die Menschen das überliefert haben“, meinte Tajo. Ralea nickte und gab sich Mühe, die Geschichte, so gut es ihr möglich war, zu erzählen. Als sie fertig war, sagte Tajo: „Im Großen und Ganzen ist sie genau so wie die, die wir Baumlinge kennen. Bloß den Teil mit Ketaris hast du vergessen.“
Ralea runzelte irritiert die Stirn. „Wieso? Was hab ich denn da vergessen?“
„Das mit seiner Rettung und so weiter ... du weißt schon.“
Ralea schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du meinst.“
Tajo sah sie mit großen Augen an. „Nicht? Erzählt man sich bei euch nicht davon, dass Ketaris, der junge Sohn von Argaron, überlebt hat, irgendwo in den Bergen ausharrt und auf Rache hofft?“
„Nein. Wie soll er denn überlebt haben? Der Elfenstein hat sie doch alle vernichtet.“
„Ja, aber als der Elfenkönig den Stein in die Höhe hielt, erkannte Argaron, welche Macht in ihm gespeichert war. Noch ehe der König dazu kam, diese Macht auf sie loszulassen, wusste er, dass sie alle sterben würden, und wandte all seine Magie darauf, seinen Sohn Ketaris weit weg in die Berge zu zaubern, wo die Kraft des Elfensteins ihm nichts mehr anhaben konnte. Dort lebt er angeblich bis heute und sinnt auf Rache.“
Noch einmal schüttelte Ralea den Kopf. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Hältst du die Geschichte für wahr?“
Er zuckte mit den Schultern. „Nein, ehrlich gesagt nicht. Aber es macht das Ganze etwas spannender, findest du nicht?“
Ralea stimmte ihm zu. „Und er soll da jetzt seit dreihundert Jahren leben? Warum hat er sich denn nie gezeigt? Nein, wenn das stimmen würde, dann wüssten die Menschen sicher auch etwas davon.“ Sie konnte Tajo förmlich ansehen, wie er sich eine bissige Bemerkung über das Wissen der Menschen verkniff.
Stattdessen sagte er: „Vermutlich hast du recht.“ Er gähnte einmal tief und herzhaft. „Es ist mittlerweile ziemlich spät. Sollen wir so langsam mal zu Abend essen?“
Ralea lachte laut auf. Das Wort Abendessen schien hier – mitten im Wald und weit weg von ihrem Dorf – völlig fehl am Platze zu sein. „Na klar“, erwiderte sie spöttisch. „Zur Abwechslung heute mal Pökelfleisch und Brot?“
Tajo grinste geheimnisvoll. „Da habe ich eine bessere Idee. Warte hier auf mich!“ Und schon sprang er ins Gebüsch und entschwand ihren Blicken.
„He!“, rief Ralea überrascht. „Was machst du denn?“
„Bin gleich wieder da!“, rief er zurück. „Kannst ja schon mal Feuer machen!“ Seine Stimme schien schon ein Stück entfernt zu sein.
Verdattert hockte Ralea sich auf eine dicke Wurzel, die ein Stück aus der Erde ragte, und setzte ihren Beutel ab. Was für eine Wohltat, ihn nicht mehr auf dem Rücken tragen zu müssen! Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl. Sie hatte sich so sehr an Tajos Anwesenheit und seine muntere Stimme gewöhnt, dass der Wald ihr ohne ihn auf einmal schrecklich still und leer vorkam. Wie von selbst wanderte ihre Hand unter ihr Hemd und schloss sich fest um den Elfenstein. „Stell dich nicht so an“, ermahnte sie sich selbst. Sie zwang sich, nicht zu sehr auf die Schatten zu achten, welche die Büsche und Bäume auf den Waldboden warfen, und begann, ein paar Stöcke und Äste zu sammeln. Diese schichtete sie dann so auf, wie sie es bei Tajo gesehen hatte. Mit den Feuersteinen einen Funken zu schlagen, bereitete ihr mehr Probleme, doch schließlich gelang es ihr. Der Anblick der Flammen, die an dem Holz leckten, erfüllte sie mit leisem Stolz. Das Knistern und die Wärme des Feuers beruhigten sie und sie entspannte sich etwas. Trotzdem hoffte sie, dass Tajo bald zurückkommen würde.
Sie musste nicht mehr lange warten. Kurze Zeit später trat er aus dem Gebüsch, in den Händen einen toten Vogel, dessen Art Ralea völlig unbekannt war.
Tajo grinste wieder sein breites Grinsen, das Ralea mittlerweile schon bekannt war, und fragte gut gelaunt: „Besser als Brot und getrocknetes Obst?“
„Allerdings!“, sagte Ralea erfreut. Sie wunderte sich schon gar nicht mehr darüber, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. Er konnte sich fast völlig geräuschlos durch den Wald bewegen und sah dabei auch sehr viel eleganter aus als Ralea, unter deren Schritte immer wieder Äste knackten oder Blätter raschelten.
Der Baumling machte sich daran, den Vogel zu rupfen und mithilfe eines kleinen Messers, das er an seinem Gürtel trug, auszunehmen, während Ralea einen Stock suchte, auf den sie ihn später aufspießen konnten.
Als Tajo fertig war, fragte Ralea: „Ist es eigentlich einfach, mit Pfeil und Bogen umzugehen?“ Sie war fasziniert von dem Gedanken, dass Tajo den Vogel ganz allein gefangen hatte, und kam sich furchtbar dumm vor, als ihr bewusst wurde, dass sie sich nur wieder von ihrem Proviant hätte satt essen können.
Doch der Baumling antwortete nicht, sondern starrte nur mit ausdruckslosem Gesicht auf den Vogel, den er nun langsam am Spieß über dem Feuer drehte.
„Tajo?“, fragte Ralea etwas lauter.
Keine Reaktion.
„He, Tajo!“ Endlich blickte er sie an und riss die Augen auf, als hätte sie ihn gerade aus dem Schlaf gerissen.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Ralea beobachtete etwas besorgt, wie er sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr.
„Ja, sicher.“
„Was war denn los?“
„Ich habe bloß ... zugehört.“
Ralea wurde nur immer verwirrter. „Zugehört? Aber warum hast du mir dann nicht geantwortet?“ Erst da ging ihr auf, dass er nicht ihr zugehört hatte und sie zog scharf die Luft ein. „Du meinst, du hast den Bäumen zugehört?“
Er nickte mit düsterer Miene. „Sie scheinen beunruhigt zu sein.“
Ralea gab sich Mühe, ihre Skepsis nicht zu zeigen. Wenn Tajo sagte, dass er mit den Bäumen reden konnte, dann würde es auch so sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er einen Scherz machte, dazu wirkte er zu ernst. Aber trotzdem war der Gedanke, dass die Bäume ihm gerade etwas erzählt hatten, einfach zu absurd. Sie betrachtete die umstehenden Baumstämme, auf die das Licht des Feuers unstete Schattenspiele zauberte, ganz genau. Fast wartete sie darauf, dass sich ein Astloch bewegen und zu ihr sprechen würde. Doch natürlich tat sich nichts.
„Beunruhigt?“, fragte Ralea nun an Tajos letzte Bemerkung anknüpfend. „Und weswegen?“
Der Baumling machte ein düsteres Gesicht. „Es ist merkwürdig“, antwortete er leise. „Ich habe so etwas noch nie erlebt, aber ... sie wollen es mir nicht genau sagen.“
Ralea schwieg betroffen. Tajo hatte ihr auf ihre vielen neugierigen Fragen hin erzählt, dass sich Bäume und Baumlinge seit jeher unterhalten konnten. Junge Baumlinge mussten es noch nicht mal lernen, sie konnten es von Geburt an. Und da die Bäume sich auch untereinander unterhielten und aufmerksame Beobachter waren, wussten sie quasi alles, was sich in ihrer Reichweite abspielte, und gaben dies an die Baumlinge weiter, denen dadurch ein unerschöpfliches Wissen zuteilwurde. „Der Wald hat mehr Augen und Ohren, als du denkst“, hatte Tajo gesagt. „Die Bäume kriegen alles mit, was hier passiert. Und sie vergessen nie.“
Tajo schien wieder in Gedanken versunken zu sein. Oder lauschte er wieder auf die Bäume? Ralea wartete noch einen kurzen Moment, doch dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. „Was ist denn nun los?“, fragte sie ihrerseits beunruhigt.
Tajo sah sie nachdenklich an. Seine ernsten Augen und das flackernde Licht des Feuers, das im dunkler werdenden Wald auf sein Gesicht fiel, verliehen ihm einen fast schon gespenstischen Anblick. „Ich weiß nicht genau“, sagte er langsam. „Aber es scheint irgendwie mit dir zu tun zu haben.“
Raleas Herz schlug schneller. „Mit mir?“, flüsterte sie ängstlich.
Er nickte. „Ich glaube, sie wollen es dir erzählen.“
„Was soll das heißen?“
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Tajo leicht gereizt. „Das wollen sie mir eben nicht sagen!“
Ralea schlang die Arme um ihren Körper. Ihr war auf einmal kalt, trotz der Wärme des Feuers. War Tajo jetzt etwa sauer auf sie? Er konnte doch wohl nicht ihr die Schuld dafür geben, dass die Bäume ihr etwas sagen wollten, das sie ihm vorenthielten.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte sie vorsichtig.
Tajo schien seine Gereiztheit auf einmal leidzutun. Ralea hatte schon gemerkt, dass er sich schnell wieder beruhigte, wenn er sich mal aufregte. Sanft sagte er: „Du musst keine Angst haben. Sie wollen dir nichts Böses.“
„Ich habe keine Angst!“, entgegnete Ralea trotzig und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Wie albern es doch war, sich vor Bäumen zu fürchten! Was konnten die ihr schon tun, selbst wenn sie wollten? Es war bloß diese gruselige Vorstellung, die ihr Unbehagen auslöste. Die Vorstellung, dass die Bäume ein Bewusstsein hatten und sogar mit ihr reden wollten. Ralea löste die Arme und setzte sich aufrechter hin. Der Vogel war nun goldbraun und verströmte einen köstlichen Geruch, doch ihr war der Appetit vergangen. „Kannst du ihnen nicht sagen, dass sie es dir erzählen sollen und du es dann an mich weitergibst?“
Tajo nickte. Er schaute konzentriert in die Flammen und murmelte etwas vor sich hin. Er sprach so leise, dass Ralea nichts verstehen und nur die Bewegungen seiner Lippen verfolgen konnte. Ein Windstoß ging daraufhin durch den Wald und die Blätter über ihnen in den Baumkronen rauschten laut. Doch irgendetwas war merkwürdig, unnormal. Erst einen Herzschlag später ging Ralea auf, dass sie den Wind überhaupt nicht gespürt hatte. Ehe sie genauer darüber nachdenken konnte, schüttelte Tajo den Kopf. „Hoffnungslos. Sie wollen es mir einfach nicht sagen.“ Er sah so enttäuscht und verwirrt aus, dass Ralea ihn am liebsten in den Arm genommen und getröstet hätte. „Sie sagen nur immer wieder ...“ Er stockte.
„Was?“, fragte Ralea, obwohl sie eigentlich nicht sicher war, ob sie es wirklich wissen wollte. „Was sagen sie?“
„Sie sagen, dass du es lernen musst. Sie zu verstehen, meine ich. Ich soll es dir beibringen.“ Er sah sie erwartungsvoll an.
Ralea musste das erst mal verdauen. Was war so wichtig, dass die Bäume unbedingt wollten, dass sie lernte, mit ihnen zu reden? Und überhaupt: Warum wollten sie es ihr sagen, einem Menschenmädchen, und nicht Tajo, einem Baumling?
„Meinst du wirklich, ich kann ihre Sprache lernen?“
Tajo zuckte mit den Achseln. „Wir müssen es auf einen Versuch ankommen lassen. Es scheint ihnen sehr wichtig zu sein. Die Bäume stellen nur äußerst selten Forderungen und wenn, dann muss man sie unbedingt erfüllen. Das sind wir Baumlinge ihnen schuldig.“
Einen Moment lang fragte Ralea sich, was sie denn den Bäumen schuldig war. Doch sie schob diesen Gedanken beiseite. Sie war mittlerweile viel zu neugierig darauf, was die Bäume ihr wohl sagen wollten. Und die Vorstellung, mit ihnen reden zu können, erfüllte sie mit freudiger Erwartung.
„Ist es schwer?“, fragte sie aufgeregt. „Muss ich eine richtig neue Sprache lernen? Oder einen Zauberspruch murmeln?“
„Immer der Reihe nach“, lachte Tajo. „Die Frage, ob es schwer ist oder nicht, kann ich dir ohnehin nicht beantworten. Für mich ist es so selbstverständlich wie das Atmen, wir Baumlinge verstehen die Bäume schon früher als unsere eigenen Eltern, wenn wir noch Babys sind. Das liegt daran, dass die Bäume keine Sprache im eigentlichen Sinn sprechen. Und damit ist deine zweite Frage ja auch schon beantwortet: Du wirst keine neue Sprache lernen müssen. Sie werden dich auf jeden Fall verstehen, auch wenn du noch so leise flüsterst. Und du wirst natürlich keinen Zauberspruch aufsagen müssen. Ich hab dir doch schon mal gesagt, dass wir Baumlinge mit Magie nichts am Hut haben.“
Ralea wurde immer aufgeregter. Ihre Angst hatte sich vollständig verflüchtigt. Gespannt fragte sie: „Und? Fangen wir schon heute Abend an?“
Tajo lacht leise und machte sich daran, den fertig gegarten Vogel vom Spieß zu lösen. Er gab Ralea eine Hälfte, die nun auch wieder Appetit hatte. „Na ja, je früher, desto besser, oder nicht?“ Ralea biss herzhaft in das zarte Fleisch. Es schmeckte himmlisch. Kauend wartete sie darauf, dass Tajo weiter sprach.
Auch er aß erst einen Bissen. Dann sagte er nachdenklich: „Ich werde versuchen, dir zu erklären, wie es geht. Das ist gar nicht so einfach. Also, erst einmal: Die Bäume sprechen eigentlich nicht. Sie flüstern.“
„Die Bäume flüstern“, hauchte Ralea. „Das hört sich wunderschön an.“
„Das ist es auch“, stimmte Tajo ihr zu. „Und du hast es schon oft gehört. Vielleicht sogar täglich.“
Ralea sah ihn fragend an. „Wie meinst du das?“
„Das meine ich.“ Tajo wies mit einer unbestimmten Geste über sich. Ralea schaute nach oben. Das Blätterdach über ihr war so dicht, dass es den Nachthimmel fast vollständig verdeckte. Nur ab und zu sah man ein paar Sterne aufblitzen. Doch was meinte Tajo? Sie hatte es schon oft gehört? Dann konnte sie es wohl nicht sehen. Natürlich nicht. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich völlig auf die Geräusche des Waldes. Die Vögel waren schon verstummt, doch sie vernahm kleinere Tiere, die im Unterholz raschelten, ab und zu einen Ast bewegten, der knackte, und sie hörte tatsächlich das leise Wispern der raschelnden Blätter über ihr ...
„Die Blätter!“, rief Ralea. „Das Rauschen der Blätter! Ist das das Flüstern der Bäume?“
Tajo nickte. „Sehr gut“, lobte er.
Ralea lächelte zufrieden. „Ich muss also lernen, dieses Rauschen zu verstehen?“
Wieder nickte Tajo. „Ganz genau.“
Raleas Lächeln war wie weggewischt. Das schien ihr unmöglich. Wie sollte das gehen? Gab es da etwa einen Trick, den Klang jedes einzelnen Blattes zu unterscheiden? Und ergaben dann verschiedene Klänge, die man miteinander kombinierte, Wörter und Sätze? Das zu lernen würde Jahre dauern – wenn nicht ein ganzes Leben.
„Das schaffe ich nie“, sagte sie mutlos.
Tajo schluckte den letzten Bissen des Abendmahls hinunter und winkte unbesorgt ab. „Sei doch nicht direkt so unmotiviert – du hast doch noch nicht mal angefangen! Morgen erkläre ich dir, wie du es machen musst. Jetzt ruh dich erst mal aus.“ Er legte sich ganz nah an das Feuer und gähnte herzhaft. „Gute Nacht!“
„Gute Nacht“, murmelte Ralea und legte sich ebenfalls zur Ruhe. Sie rollte sich zu einer kleinen Kugel zusammen und lauschte beim Einschlafen auf das Flüstern und Wispern der Blätter. Was die sich wohl gerade erzählten ...