Читать книгу Luramos - Der letzte Drache - Carina Zacharias - Страница 13

Beobachtet

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Mechanisch setzte Ralea einen Fuß vor den anderen, folgte einem schmalen ausgetretenen Pfad, der tiefer in den Wald führte. Erst als die letzten Rufe hinter ihr verklungen waren, drehte sie sich noch einmal um. Der Pfad hatte eine sanfte Kurve beschrieben, sodass sie keine Häuser mehr sehen konnte. Eine Welle der Mutlosigkeit und Verlorenheit ergriff sie. Was tat sie hier? Das alles war so schrecklich unwirklich. Schnell ging sie wieder weiter, damit sie sich nicht in ihrer Hilflosigkeit verlor oder gar auf den Gedanken kam, wieder umzukehren.

Noch war der Wald ihr vertraut. Hier vorne auf diesen Baum war sie oft geklettert. Und hier auf der kleinen Lichtung hatten die Dorfjungen immer Schießwettbewerbe mit ihren selbst gebastelten Bogen veranstaltet. Auch Lora hatte oft mitgemacht – bis Limon ihr verboten hatte, seinen Bogen zu benutzen, weil sie so viel besser war als er. Ralea schmunzelte bei der Erinnerung an das beschämte und hochrote Gesicht von Loras großem Bruder.

Sie selbst war auch oft hier entlang gegangen, um Beeren oder Pilze zu sammeln. Doch nie allein, wie ihr jetzt klar wurde. Immer war sie mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen. Sie hatten sich dann ausgelassen unterhalten, hatten sich nie weit vom Dorf entfernt und waren lange vor dem Abend wieder zu Hause gewesen. Auch als sie klein gewesen war, war sie mit ihren Freunden hierher gekommen. Sie hatten Spiele erfunden, waren auf Bäume geklettert oder hatten eine Geschichte nachgespielt, die Morgana ihnen erzählt hatte. Wie oft hatte Ralea darum gebettelt und gekämpft, die Hauptrolle spielen zu dürfen – die des mutigen Helden. Was für eine Ironie, dass sie jetzt tatsächlich zu einem solchen Helden geworden war, in der Fortsetzung einer Geschichte, die Morgana ihnen immer und immer wieder erzählt hatte. Und nun wünschte sie sich von ganzem Herzen, diese Rolle an jemand anderen abtreten zu können.

Plötzlich blieb Ralea alarmiert stehen. Sie war so in ihre Erinnerungen vertieft gewesen, dass sie überhaupt nicht gemerkt hatte, wie der Pfad sich verloren hatte und sie sich ohne seine Hilfe zwischen Baumstämmen und Sträuchern ihren Weg bahnte. War sie so sehr in Gedanken gewesen? Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich – vor allem in so einer Situation, bei der ihre Nerven doch aufs Äußerste gespannt und ihre Sinne geschärft sein sollten!

Morganas Worte gingen ihr durch den Kopf. Der Elfenstein wird dir den Weg weisen.

Ralea griff unter ihr Hemd und holte den blauen Stein hervor. Kühl lag er in ihrer Hand und sie betrachtete ihn eingehend. Erst nach einigen Herzschlägen wurde ihr bewusst, dass sie insgeheim darauf hoffte, dass er wieder in seinem blauen Licht erstrahlen und ihr vorausfliegen würde. Doch war dieser Gedanke wirklich so abwegig? Wie sonst sollte er ihr den Weg weisen? Sie wartete noch einen Augenblick, doch nichts geschah.

„Nun komm schon!“, flüsterte sie, froh, dass niemand sie hören oder sehen konnte.

Immer noch nichts.

Seufzend ließ sie den Stein wieder unter ihr Hemd gleiten und bemühte sich, ihre wachsende Panik niederzukämpfen. Dann würde sie eben allein weitergehen. Vielleicht machte er sich ja erst bemerkbar, wenn sie falsch ging. Ralea sah sich kurz um und wandte sich dann zielsicher nach links, ging zwischen zwei mächtigen Bäumen hindurch, stieg über einen umgefallenen Baumstamm – und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Es war schon wieder passiert. Sie war einfach drauflos gegangen, ohne darüber nachzudenken. Unterbewusst hatte sie jedoch genau gewusst, dass sie richtig war.

Nachdenklich zog das Mädchen noch einmal den Elfenstein hervor. Vielleicht war ja das seine Art, sie zu führen. Vielleicht geschah es durch seine Magie, mit der er ihr das Wissen oder das Gefühl für den richtigen Weg übermittelte. Sie war viel zu erleichtert über diese Erkenntnis, als dass es ihr hätte Angst machen können.

Danach ließ sie es einfach geschehen. Sie hakte ihre Daumen unter die Riemen des Lederbeutels auf ihrem Rücken und bahnte sich mit der stummen Hilfe des Elfensteins zielsicher einen Weg durch den Wald. Sie fand sogar die Muße, zwischendurch ein paar Beeren oder Nüsse zu pflücken, die sie im Gehen aß, und die Schönheit um sie herum zu betrachten.

Denn zu sehen gab es genug: Die Sonne fiel durch die Blätter über ihr und malte Muster aus goldenem Licht auf den Waldboden, die Wurzeln und das Moos. In den Ästen sangen Vögel und die Blätter rauschten im Wind. Nach und nach verflüchtigten sich ihre Ängste und ihre lähmende Beklemmung. Das mochte zum einen an der Elfenmagie liegen, doch zum größten Teil war das wohl der frischen Waldluft und der friedlichen Stille um sie her zu verdanken.

Ralea merkte kaum, wie die Zeit verging. Erst als ihre Beine müde wurden und die Schatten dunkler, registrierte sie, dass es auf den Abend zu ging. Sie würde sich wohl bald ein Lager für die Nacht machen müssen. Als sie zwischendurch etwas getrunken hatte, hatte sie auch zwei Feuersteine in ihrem Beutel entdeckt. Trotzdem breitete sich bei dem Gedanken, die Nacht allein im dunklen Wald zubringen zu müssen, ein äußerst mulmiges Gefühl in ihrem Magen aus. Sie schob den Gedanken daran beiseite. Noch war es schließlich hell genug, um weiter zu wandern. Doch es wurde rasch dunkel und sie wusste, dass sie es nicht ewig vor sich herschieben konnte. Wahrscheinlich war es halb so wild. Sie würde sich einfach hier an diesen Baum setzen und ...

Ralea wirbelte herum. Hatte da nicht gerade hinter ihr ein Ast geknackt? Sie kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren. Doch es war mittlerweile schon ziemlich düster und sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Außerdem war es wahrscheinlich sowieso nur ein Reh, das mehr Angst vor ihr hatte, als sie vor ...

Schon wieder! Diesmal direkt vor ihr. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Bildete sie sich das alles nur ein oder hatte sie da gerade ein Schnaufen gehört? Ein rasselnder Atem, das Rascheln von Laub.

Da war jemand. Ganz bestimmt! Und nicht nur einer. Es mussten mehrere sein. Ralea war unfähig, sich zu bewegen, war starr vor Schreck. Wer konnte das sein? Menschen aus ihrem Dorf? Vielleicht einige von denen, die sich nicht von Morgana hatten überzeugen lassen und immer noch an ihr zweifelten? So sehr, dass sie sie nun verfolgten und sie im Wald, weit ab vom Dorf, überwältigen und von ihrem Vorhaben abbringen wollten?

Ohne Vorwarnung brach etwas vor Ralea aus dem Gebüsch und sprang auf sie zu. Sie sah nicht mehr als schmutzige graue Haut, Krallen, die durch die Luft wirbelten und nach ihr griffen. Und Augen. Schreckliche gelbe Augen ohne Pupille. Ralea stieß einen spitzen Schrei aus und rannte los, noch bevor diese Bestie wieder sicher auf ihren Beinen stand. Sie rannte, wie sie noch nie gerannt war. Äste schlugen ihr ins Gesicht und zerkratzten ihre Beine. Sie stolperte, schlug sich die Knie auf, rappelte sich wieder hoch, rannte weiter.

Auf einmal hörte sie wieder diesen rasselnden Atem. Dieses Wesen war dicht hinter ihr. Gleich würde es sie eingeholt haben ... Und dann sprang tatsächlich eine weitere dieser Bestien direkt vor ihr aus dem Gebüsch. Diesmal blieb ihr der Schrei im Halse stecken. Diese schrecklich gelben Augen! Sie starrten sie an. Sollten sie das Letzte sein, was Ralea sah, bevor sie starb?

Etwas sauste knapp an Raleas Kopf vorbei. Sie spürte den Luftzug auf der Haut. Die Bestie vor ihr heulte auf, doch Ralea nahm sich nicht die Zeit zu sehen, was passiert war. Sie warf sich zur Seite und rannte weiter. Ihre Kehle brannte und ihre Knie schmerzten, doch sie spürte es kaum. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: Weg, weit weit weg von diesen Monstern!

Wieder war ein Keuchen direkt neben ihr zu hören. Sie brauchte nicht nachzusehen, um zu wissen, dass mehrere der Bestien sie eingeholt hatten und auf gleicher Höhe mit ihr liefen. Ralea versuchte verzweifelt, ihr Tempo zu steigern, doch sie war zu erschöpft. Plötzlich brach sie aus dem Unterholz und stand inmitten einer kleinen runden Lichtung. Die verhältnismäßig weite Sicht an diesem Ort überraschte sie und sie geriet ins Stolpern. Der Beutel rutschte ihr von den Schultern und fiel zu Boden. Er enthielt ihr gesamtes Wasser und ihren Proviant, doch sie ließ ihn an Ort und Stelle liegen und rannte weiter, auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung zu.

Aber ehe sie dort ankam, sprang eines der gelbäugigen Monster vor ihr aus dem Unterholz und fletschte die Zähne. Ralea sprang erschrocken zurück und lief in eine andere Richtung, doch auch dort sprang ihr eines der Biester entgegen und blieb fauchend stehen. Panisch drehte sie sich im Kreis und suchte nach einem Ausweg, doch überall standen sie, scharrten mit den Krallen und starrten sie an.

Raleas eigener Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, auf einen Baum am Rande der Lichtung zu klettern, doch sie verwarf ihn noch im selben Moment.

Es war aus.

Sie hatte keine Chance.

Sie würde ihr Dorf niemals wiedersehen! Ihre Eltern, Lora ...

Die Bestie ihr gegenüber verzog den Mund zu einer Grimasse, die auf grauenhafte Weise an ein hämisches Grinsen erinnerte. Langsam kam sie auf sie zu, auch die anderen schlossen den Kreis um sie enger, kamen näher und näher ...

Dann sirrte plötzlich etwas durch die Luft. Ralea nahm eine schnelle Bewegung am Rande ihres Blickfeldes wahr, dann noch eine. Zwei der Bestien ihr gegenüber heulten auf. Eine brach sofort zusammen und regte sich nicht mehr. Ein gefiederter Schaft ragte aus ihrer Schläfe. Die andere gab einen ohrenbetäubenden Schrei von sich, der auch die anderen Monster innehalten ließ. Die verwundete Bestie wälzte sich am Boden, sprang dann wieder auf die klauenbewehrten Füße und rannte blindlings los und in den Wald hinein. Die anderen schienen unschlüssig darüber zu sein, was sie tun sollten, und Ralea wagte es, einen verrückten Moment lang Hoffnung zu schöpfen, dass sich alles zum Guten wenden könnte.

Doch dann kamen die Bestien auf sie zu. Schneller und schneller. Ralea wich zurück. Wieder flog etwas durch die Luft. Endlich erkannte sie, was es war: Drei Pfeile bohrten sich schnell hintereinander in die Bäume hinter den fünf verbliebenen Bestien. Diese zogen erschrocken die Köpfe ein. Sie schienen es nun doch mit der Angst zu tun zu bekommen. Als ein vierter Pfeil durch die Luft sirrte und eine der Bestien nur um Haaresbreite verfehlte, schrak diese zusammen und rannte schnurstracks zurück in den Wald. Drei weitere folgten ihr sofort und verschwanden im Dickicht. Die letzte jedoch zögerte. Einen Moment lang blieb sie ungerührt stehen und sah Ralea mit ihren blicklosen gelben Augen hasserfüllt an. Dann folgte auch sie dem Beispiel ihrer Artgenossen und rannte davon.

Ralea sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte mit bebenden Schultern. Die Erleichterung vertrieb ihre Angst, selbst die Schmerzen in ihren aufgekratzten Beinen und Armen fühlten sich herrlich an, waren sie doch ein sicheres Zeichen dafür, dass sie noch am Leben war. Sie war sich so sicher gewesen, dass es vorbei war, und hatte sich bereits mit der Tatsache abgefunden, zu sterben. Jetzt noch zu atmen, das Gras zu spüren und ihre salzigen Tränen zu schmecken war genauso wunderbar wie unwirklich.

„Hey, alles klar bei dir?“

Ralea stieß einen erstickten Schrei aus, sprang hastig auf die Füße und wirbelte herum.

Hinter ihr stand ein junger Baumling, der sie besorgt musterte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken!“, sagte er schnell und lächelte schief.

Ralea wischte sich mit dem Handrücken notdürftig über die tränennassen Wangen. „Da...das macht doch nichts“, sagte sie mit schwacher Stimme.

Nachdem der erste Schock vorüber war und sie wieder klar denken konnte, musterte sie ihr Gegenüber genauer. Sie hatte in ihrem Leben noch nicht viele Baumlinge gesehen. Sie lebten für gewöhnlich tief in den Wäldern und zeigten sich den Menschen nur bei den seltenen Tauschgeschäften, die sie untereinander führten. Dabei brachten die Baumlinge Früchte oder erlegte Tiere mit, die es nur in den nördlicheren Wäldern gab, und erhielten dafür Kleidung oder Pflanzen, die die Menschen auf den kleinen Feldern, die sie dem Wald abgerungen hatten, anbauten.

Der Baumling, der nun vor ihr stand, war fast einen Kopf größer als sie, doch Ralea schätzte, dass er ungefähr ihr Alter hatte. Er war schlank und drahtig, wie alle Baumlinge, und alles an ihm war grün: die Iris seiner Augen, seine Haare, die er zu vielen kleinen Zöpfen geflochten und dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und sogar seine Haut und seine langen spitzen Ohren. Nur seine Kleidung und Stiefel ähnelten der von Ralea – mit der Ausnahme, dass er eine Hose trug und keinen Rock. Gut möglich, dass er sie von den Menschen erworben hatte. Über seiner Schulter hing ein Köcher, in dem noch etwa ein halbes Dutzend dünner gefiederter Pfeile steckte, und in der Hand hielt er einen kleinen, schlichten, aber eleganten Bogen.

Ralea war so eingenommen von seinem fremdartigen Äußeren, dass ihr erst jetzt bewusst wurde, dass er sie ebenso neugierig und unverhohlen musterte wie sie ihn. Beschämt schlug sie die Augen nieder.

Auch er räusperte sich etwas verlegen und sagte dann: „Ich sollte mich wohl erst mal vorstellen: Mein Name ist Tajo.“

„Ich bin Ralea“, sagte Ralea. „Du sprichst meine Sprache?“, fragte sie schließlich schüchtern.

Der Baumling nickte stolz. „Die hat mein Vater mir von klein auf beigebracht. Er führt die Tauschgeschäfte mit den Menschen und möchte, dass ich diese Aufgabe einmal übernehme.“

Ralea nickte beeindruckt. Tatsächlich sprach er einwandfrei und hatte nur einen schwachen Akzent, der auf die kehlige Sprache der Baumlinge hinwies. Dann fiel ihr Blick plötzlich auf das tote Monster, das am Ende der Lichtung lag. Ein Schauer durchfuhr sie. Tajo hatte ihre Reaktion wahrscheinlich bemerkt, denn er drehte sich um und folgte ihrem Blick.

„Was ist das für eine Kreatur?“, flüsterte Ralea angewidert. Und dann kam ihr ein ganz anderer Gedanke und die Angst kroch wieder in ihr hoch. „Und was, wenn die anderen zurückkommen?“

Tajo schüttelte den Kopf und ging langsam auf die Leiche zu. Ralea folgte ihm zögernd, während er sagte: „Ich habe so etwas zwar noch nie in meinem Leben gesehen, aber ich glaube, dass ich Geschichten darüber gehört habe. Bei uns Baumlingen erzählt man sich gerne Geschichten und in einigen ist von Gnomen die Rede, die angeblich in den Bergen leben. Sie wurden genau so beschrieben, wie dieses Wesen hier aussieht. Ihr Charakter soll ihrem Äußeren übrigens in nichts nachstehen. Angeblich sind sie gerissen und falsch, nicht besonders intelligent und brutal. Aber sie sollen auch ängstlich sein und ihr eigenes Leben über alles andere stellen. Ich glaube nicht, dass sie noch einmal wiederkommen werden. Ich frage mich nur, was sie hier im Wald wollten.“ Er war mittlerweile vor dem toten Gnom stehen geblieben und schielte nun zu Ralea hinüber, die in einigem Abstand hinter ihm stand. „Was ich mich bei dir übrigens auch frage. Was macht ein Menschenmädchen so weit ab von der Heimat? So weit ich weiß, entfernt ihr Menschen euch doch sonst nie weiter als zehn Meter von eurem Dörfchen.“

Ralea ärgerte sich über seinen spöttischen Ton. Was vielleicht auch ganz gut war, denn es hinderte sie daran, ihm alles zu erzählen, ihm ihr ganzes Herz auszuschütten – und vermutlich wieder in Tränen auszubrechen. So tröstlich seine Anwesenheit auch war, sie durfte nicht zu gutgläubig sein. Dieser grauenhafte Überfall der Gnome hatte doch gezeigt: Sie musste überaus vorsichtig sein, wollte sie ihre Mission nicht gefährden. Also zuckte sie die Schultern und sagte: „Dann weißt du anscheinend nicht viel über die Menschen.“

Tajo zog zweifelnd eine Augenbraue hoch – was sie großzügig übersah –, drehte sich dann plötzlich um und bückte sich. Die Bewegung war so schnell, dass Ralea sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. Auf einmal stand er wieder genauso da wie vorher, nur dass er in der rechten Hand seinen Pfeil hielt, von dem zähes, schwarzes Blut tropfte. Übelkeit stieg in Ralea hoch und sie wandte sich angewidert ab.

Der Baumling ließ sich davon nicht stören. Er wischte den Pfeil so gründlich wie möglich am Gras und an den umstehenden Büschen ab und machte sich dann daran, die restlichen Pfeile aus den Bäumen zu ziehen. Ralea beobachtete ihn schweigend und überlegte, wie viel sie ihm wohl sagen konnte. Eigentlich hatte doch niemand erwähnt, dass sie ihr Vorhaben geheim halten musste, oder? Sie bemerkte, wie sie – mehr oder weniger gegen ihren Willen – begann diesen Baumling zu mögen. Doch war das verwunderlich? In ihrer Situation hätte sie sogar den Dorfobersten gemocht, wenn er ihr über den Weg gelaufen wäre. Schon deshalb, weil sie dann nicht länger so allein gewesen wäre.

Nachdem Tajo alle seine Pfeile eingesammelt hatte, kam er zu ihr geschlendert und sagte frei heraus: „Na schön, ich gebe zu, ich habe dich angeflunkert. Ich weiß genau, weswegen du allein im Wald unterwegs bist.“ Ralea klappte die Kinnlade herunter, was er mit einem amüsierten Zucken um die Mundwinkel registrierte. „Du bist die Auserwählte!“, hauchte er verschwörerisch.

Ralea gab sich Mühe, nicht allzu überrascht zu wirken. „Ach ja?“, fragte sie betont lässig. „Und woher weißt du das, wenn ich fragen darf?“

„Ich hab dich beobachtet.“

„Verfolgt meinst du wohl.“ Der Gedanke, dass er ihr die ganze Zeit über nahe gewesen war, gefiel Ralea überhaupt nicht. Sie dachte daran, wie sie auf den Elfenstein eingeredet hatte, und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

Tajo schien das zum Glück nicht zu bemerken. Und wenn doch, dann besaß er so viel Taktgefühl, es nicht zu zeigen. Tatsächlich wirkte er ein wenig schuldbewusst. Allerdings nur kurz. Dann erwiderte er trotzig: „Eigentlich solltest du mir dankbar sein. Ich habe dir immerhin gerade das Leben gerettet!“

Nun war es an Ralea, schuldbewusst zu sein. „Vielen Dank“, murmelte sie beschämt.

„Gern geschehen!“, grinste Tajo.

„Jetzt, wo wir geklärt haben, warum ich hier allein durch die Gegend laufe“, sagte Ralea, „würde mich noch interessieren, was du hier machst. Ich dachte, ihr Baumlinge lebt viel tiefer in den Wäldern?“

„Wie gesagt: Ich habe dich beobachtet.“ Er schaute Ralea ohne Anzeichen von Scham in die Augen.

Diese wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. „Ja ... und ... warum?!“, stammelte sie schließlich.

„Weil du einen Beschützer brauchst!“

„Einen Beschützer?!“

„Allerdings!“

„Das glaub ich kaum!“

„Ach, und was war dann das hier?“ Er wies mit dem Zeigefinger auf den toten Gnom, der immer noch hinter Ralea am Boden lag.

„Bloß ein paar ... kleinere Schwierigkeiten. Damit wäre ich auch ohne dich klargekommen.“

„Sicher!“ Er verdrehte die Augen.

Ralea wusste selbst nicht richtig, warum sie ihn so offensichtlich anlog. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht eingestehen wollte, wie froh sie sich gefühlt hatte, als er sich als ihr Beschützer vorgestellt hatte. Wie schön wäre es, mit jemandem zusammen auf diese Reise gehen zu können! Doch sie wusste, dass das unmöglich war. Was für eine Schande für sie und alle Menschen, wenn selbst die vom Elfenstein Auserwählte nicht ohne anderweitige Hilfe ihre Aufgabe erfüllen könnte! Außerdem hatte Morgana gesagt, dass in dem Vertrag geschrieben stand, dass man allein gehen musste. Und was der Vertrag sagte, war Gesetz. Das musste jedem Romanier klar sein – auch diesem frechen Baumling hier!

„Ja, sicher! Und jetzt entschuldige mich – ich habe eine Aufgabe zu erfüllen!“ Damit drehte sie sich um und stolzierte übertrieben hochnäsig auf das Ende der Lichtung zu – natürlich nicht, ohne einen weiten Bogen um den toten Gnom zu machen.

„Ähm ... gehört das dir?“

Wie vom Donner gerührt blieb Ralea stehen und sah sich zu Tajo um, der auf der Lichtung stand und ihren Lederbeutel in der Hand hielt. Mit hochrotem Kopf ging sie auf ihn zu, riss ihm den Beutel gröber als nötig aus der Hand und murmelte unwillig: „Ja. Nochmals vielen Dank!“

„Kein Problem!“ Er grinste wieder, wobei seine strahlend weißen Zähne in der einsetzenden Dunkelheit zu leuchten schienen.

Schon drehte Ralea sich um und wollte ihren Weg fortsetzen, da rief er hinter ihr her: „Jetzt warte doch mal! Willst du jetzt wirklich noch weiter gehen? Es ist gleich stockduster!“

„Nein, ich möchte mich hinlegen und schlafen!“, fauchte sie und fügte in Gedanken hinzu: „Bitte komm mit, ich will nicht allein sein in der Nacht!“ Mit schnellen Schritten holte er sie ein und lief neben ihr her. Ralea hasste sich selbst dafür, wie sehr sie sich darüber freute.

„Lass uns doch wenigstens ein gemeinsames Lager für die Nacht aufschlagen. Sicherer ist es allemal. Und morgen können wir dann weiterreden.“

Ralea seufzte resigniert und erwiderte betont genervt: „Meinetwegen.“ Innerlich frohlockte sie. Wobei ihr natürlich klar war, dass sie sich früher oder später daran gewöhnen musste, allein im dunklen Wald zu übernachten. Sie konnte nicht zusammen mit Tajo weitergehen, so gern sie das auch tun würde.

Sie liefen noch ein paar Schritte schweigend weiter, um möglichst weit weg von dem toten Gnom zu sein. Dann setzten sie sich zu den Wurzeln eines großen Baumes.

Tajo entfachte mit Raleas Feuersteinen geübt ein kleines Lagerfeuer, das die Gnome fernhalten sollte – sicher war sicher –, dann knabberten sie noch ein wenig von Raleas Brot und legten sich beide erschöpft in das weiche Moos.

Tajo schlief fast auf der Stelle ein. Sein gleichmäßiger Atem beruhigte Ralea – die sich schon darauf eingestellt hatte, noch stundenlang wach zu liegen und sich hin und her zu wälzen – ungemein und zusammen mit dem Rauschen der Blätter und ihrer eigenen Müdigkeit wiegte es sie schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Luramos - Der letzte Drache

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