Читать книгу Sekten, Sekt und Selters - Ein Moselkrimi - Carl von Lieser - Страница 5
2. Zweimal Hirsch
ОглавлениеGegen halb acht waren wir wieder in der Wohnung, meine erste Schulstunde würde in 30 Minuten beginnen, ich war weder geduscht, noch hatte ich gefrühstückt. Und ohne lief bei mir nichts. Außerdem machte ich mir ernsthaft Sorgen um Naomi, sie wirkte apathisch, es war so, als habe sie heute morgen ein Stück Lebenskraft eingebüßt. Mit Sicherheit stand sie viel stärker unter Schock, als sie und ich es wahrhaben wollten.
"Naomi, du solltest dich ein paar Stunden hinlegen, du brauchst Ruhe", empfahl ich ihr.
"Und du?" Das war alles, was sie sagte. Ihre Stimme klang schwach, fast gebrochen. Sie konnte kaum stehen, ihre Knie waren weich wie Pudding, ihre Haut eiskalt. Sie leistete keinen Widerstand, als ich sie auf meine Arme nahm und ins noch lauwarme Bett trug. Ich machte ihr Luft, öffnete den Reißverschluß der Joggingjacke. Auf ihrem schneeweißen T-Shirt zeichneten sich die beiden schwarzen Beerchen ihrer Brust markant ab. Für was um Himmels Willen waren die jetzt steif? fragte ich mich in meiner Einfalt. Da ist es mal wieder, dieses Klischee, werden Sie sagen: Männer denken immer nur an das eine. Und so ist es wohl auch. Sie drehte sich zaghaft auf die rechte Seite, ich strich die Tagesdecke über sie, küßte sie auf die Wange und hoffte, daß es ihr sehr bald wieder besser gehen möge.
Konnte ich sie jetzt allein da liegen lassen? Niemand war im Haus, seit unser Vermieter, der greise Herr Erdmann, sich im Irminenstift von einem Schlaganfall erholte, der ihn Ende August aus heiterem Himmel getroffen hatte. Naomi war gerade zwei Tage zuvor bei mir eingezogen. Der mobile Essensdienst der AWO hatte Alarm geschlagen, weil Erdmann mittags um zwölf nicht wie üblich auf das Klingelzeichen hin die Tür öffnete. Rein zufällig war ich zuhause, - denn es passierte ausgerechnet auch noch an meinem freien Tag - da fanden wir ihn in seinem Fernsehsessel. Er war ganz auf die linke Armlehne herabgesunken, rührte sich nicht, ließ zumindest aber ein röchelndes Atemgeräusch vernehmen. Drei Minuten später war er auf dem Weg ins Mutterhaus, seinem "Vorzugslazarett in Friedenszeiten", wie er in gesunden Tagen zu spötteln pflegte...
Und jetzt lag sie da, Naomi, meine Liebste, das Energiebündel, hingestreckt vom Schock zweier mysteriöser Todesfälle.
Im Bad fiel mein Entschluß: ich würde heute blau machen. Meine Schüler würden einen Tag Vertretung bestimmt besser verkraften, als Naomi einen Tag Einsamkeit im Krankenbett. Ich telefonierte kurz, sagte ihnen die Wahrheit, was immer die von mir denken mochten, und kroch anschließend vorsichtig an Naomi heran. Ich legte mich zu ihr ins Körbchen, eine Position, in der wir an guten Tagen das Löffelchen- und Gabel-Spiel exerzierten. Doch diesmal blieb es einstweilen beim Löffelchen-Liegen.
Irgendwo ganz weit weg im Weltall muß ein Idiot ein Telefon installiert haben, jedenfalls kam es mir so vor, als ich jenseits aller guten Träume Klaus Singers markige Stimme vom Band des Anrufbeantworters hörte, der von meinem Arbeitszimmer im Nebenraum herüberschepperte. Ich hatte den Lautsprecher der Anlage vermutlich zu hoch eingestellt. Ich rieb mir die sandbestäubten Augen und spürte zugleich eine Bewegung unter der Bettdecke. Naomis Hand hatte sich über die rechte Flanke vorgepirscht und hatte es schon im Griff, das gute Stück, das die ganze Zeit nutzlos vor sich hingestarrt hatte. Ich genoß das wohlige Gefühl ihrer Umschmeichelungen, und ich merkte, ohne dumme Fragen zu stellen, daß es ihr wieder besser ging. Sie brachte mich wirklich gewaltig auf Trab. Gewandt wie ein Fisch im Wasser glitt sie in die Vis à vis Position zu mir, und anstatt Worte zu wechseln tauschten sich unsere Zungen in ihrer Geheimsprache aus. Es war so, als führten die Küsse Regie, als leiteten sie die Aktivitäten der anderen Organe, und das alles in glänzender Harmonie. Alles Überflüssige an Textilien, alles Störende, alles Trennende perlte wie Wassertropfen von uns ab, bis unsere nackten Körper schließlich im heißen Meer der Begierde ertranken.
Es war Mittag, als ich endlich zum Abhören des Bandes kam. Für 15 Uhr hatte die Polizei zur Pressekonferenz eingeladen wegen "zwei ungeklärter Todesfälle". Klaus Singer, einer der Studenten in der AZ-Redaktion, wollte von mir wissen, ob ich Zeit hätte hinzugehen. Bei Mord, Todesfällen und Polizeiaktionen und so fort dachten die Kollegen immer nur an mich. Das war schon Tradition in unserem Zeitungs-Team, ich war der Mann für's Grobe. Außerdem glaubten alle, daß Lehrer grundsätzlich immer Zeit haben. Aber ich hatte mir nach zwölf Jahren ehrenamtlicher Arbeit für das Magazin fest vorgenommen, zum Jahresende Schluß zu machen. Ich hatte genug von den Mühen der Ebene - viel Arbeit, wenig Ehre. Dazu galten wir ein wenig als Aussätzige im städtischen Klüngel der etablierten Journalistenriege, uns lud man meist nicht ein, wenn die diversen Veranstaltungen und Festivitäten des ehrenwerten Kreises der schreibenden und sprechenden Zunft anstanden. Mir war das wurscht, wäre sowieso nicht hingegangen. Zeitung machen war für mich ein Hobby, das Spaß machen mußte. Leider war das in letzter Zeit immer seltener der Fall. Deshalb fiel mir mein lang gehegter Entschluß, endlich aufzuhören, nicht sonderlich schwer. Für die beiden Monatsausgaben bis dahin würde ich mich noch einmal voll reinknien, das hatte ich den anderen versprochen. Klar, daß ich zur Pressekonferenz gehen würde.
Beim Abendessen sah mich Naomi verschmitzt von der Seite an. Ich hatte gekocht, sie war gerade von der Uni gekommen.
"Übrigens, Schatz, ich möchte mich noch dafür bedanken, daß du heute morgen so nett zu mir warst und bei mir geblieben bist. Das war super!"
Sie gab mir einen dicken Schmatzer, und ich genoß ihre großen, oreganogesprenkelten Lippen, die ich am liebsten verschlungen hätte.
"Ich danke dir auch für den Nachtisch", zwinkerte ich nach dem Kuß zurück.
Ich hatte Standardmenü Eins gekocht, Möhrenbrätlinge, erweitert um den Rest an Bratkartoffeln vom Vortag. Dazu Gewürzgurken und Crème fraiche aus dem Glas. Ich war ein sehr praktischer, ökonomisch denkender Küchenmeister, deshalb prallten an mir die meisten Künste der höheren Küche, die man mir im Kochkurs beizubringen versuchte, souverän ab, so wie Wassertropfen an einer Wachspolitur.
"Wie war eigentlich die Pressekonferenz?" wollte Naomi schließlich wissen, nachdem wir mit den Rotweingläsern angestoßen hatten.
"Hey, das war ganz amüsant", holte ich aus. "Das ist eine heiße Geschichte. Die zwei Todesfälle scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. Aber noch sind die Leichen nicht obduziert. Auf alle Fälle sind die Männer inzwischen identifiziert."
"Oje, wer sind denn die armen Kerle?"
Zugegeben, wir hatten nicht gerade das angenehmste Tischthema. Aber zum Glück waren wir inzwischen mit dem Essen soweit fertig.
"Der junge Mann im schwarzen Golf, der sich vermutlich selbst gemeuchelt hat, ist ein ganz großer Fisch, zumindest vom Namen her. Du hast doch bestimmt schon mal den Namen Hirsch gehört, die große Weinkellerei in Laybach an der Mosel?"
"Hirsch? Ich weiß nicht. Stellen die nicht auch Sekt her?"
"Ja, natürlich. Wein- und Sektkellerei Hirsch, ein ganz Großer in der Branche. Der müßte doch an der Mittelmosel gut bekannt sein."
"Naja, in der Weinwirtschaft kenne ich mich, ehrlich gesagt, nicht so gut aus. Aber Hirsch, ja, wenn ich's recht bedenke, hab ich von dem schon gehört", mutmaßte Naomi. Ich wunderte mich, sie als Bernkastelerin müßte die Firma eigentlich kennen, auch wenn Laybach näher an Trier lag, als an dem romantischen Cusanus- und Burgstädtchen. Hirsch war eine Institution an der Mosel, eine der größten Kellereien im gesamten Anbaugebiet.
"Okay, also dieser Hirsch, - Bernd Hirsch hieß er, der junge Mann, - er war der Sohn vom Kellereibesitzer Hubertus Hirsch. Das einzige Kind. Aber das ist noch nicht alles an Tragik. Stell dir vor: der Hirsch selbst, der Alte, ist vor knapp vier Wochen bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Merkwürdig, nicht wahr?"
"Mein Gott, das muß ja schlimm sein für die Frau, für die Mutter..."
"...lebt auch nicht mehr. Ist vor drei Jahren gestorben, Blutkrebs. Oder wie sagt man..."
"Leukämie."
"Ja, sowas. Jedenfalls ist die ganze Familie Hirsch damit ausgelöscht. Nur eines kapier ich nicht, nämlich warum dieser Bernd, immerhin der Sohn und Erbe des gesamten Vermögens, warum der sich ausgerechnet jetzt umbringt? Jetzt, wo ihm alles gehört?"
"Kannst du denn in die Menschen reinschauen? Vielleicht hat er besonders stark an seinem Vater gehangen, oder er hatte bösen Ärger mit seiner Freundin, Trennung, oder so was. Oder beides, wer weiß das schon?"
"Natürlich wäre das denkbar. Nur, daß er an seinem Vater gehangen hätte, das scheidet aus. Bernd soll ein Eigenbrötler gewesen sein, dabei ein Luftikus, wie die Leute an den Mosel sagen, einer, der gerne auf großem Fuß gelebt, aber irgendwie sein Leben nicht recht in den Griff bekommen hat."
"Na, siehst du, das paßt doch prima zusammen. Einzelkind, verhätschelt und verwöhnt, von Mami, Papi und Opi mit Geld zugeschmissen über alle Ohren. Und plötzlich brechen die Eckpfeiler des wolkigen Luxuslebens über Nacht weg. Schon ist die Krise da."
"Gut möglich. Aber mir ist das einfach zu rund, zu klischeehaft. Da steckt mehr dahinter, davon bin ich überzeugt. Besonders im Hinblick auf die zweite Leiche, einem Penner namens Rudolf Radolitzky. Er war erst 42 Jahre alt, sah aber aus wie 60. Er ist erst vor einigen Monaten in der Trierer Gegend aufgetaucht, stammte aus dem Ruhrpott. Ist wohl irgendwann durch den Rost gefallen, - raus aus dem sozialen Netz, dessen Belastbarkeit die Politiker in Wahlzeiten so sehr loben. Den Betroffenen bleibt am Ende nur noch die Straße. Und das war wohl Rudolfs Tod."
"Aber was hat dieser Rudolf mit dem Hirsch zu tun?"
"Gute Frage, Naomi. Wie kommt der Kuhmist aufs Dach?"
"Eine saublöde Antwort, Matz! Ehrlich."
"Okay, okay. War nicht so gemeint. - Nur, eins scheint festzustehen: Radolitzky ist durch äußere Gewalt umgekommen, ob durch Unfall, Mord oder Totschlag, das wird möglicherweise erst die gerichtsmedizinische Untersuchung ergeben. Interessant wird auch sein, wie nah die Todeszeitpunkte beieinander liegen."
"O je, Matz, ich she’s schon kommen, das artet wieder in einen Krimi aus, wie letztes Jahr die Sache im Rotlicht-Milieu."
"Gut möglich, daß du recht hast, Schatz. Aber da haben wir diesmal ja einen Erfahrungsvorsprung."
"Ist ja sehr beruhigend!"
Tischabräumen und Spülen stand noch auf meinem Abendprogramm. Seit Naomi bei mir heimisch geworden war, herrschte Ordnung im Haushalt, wir teilten uns die lebensnotwendigen Dienstbarkeiten paritätisch auf. Es war gar nicht so schlimm, wie ich immer dachte, zumindest, wenn man alles gut organisierte und klare Ziele und Absprachen beachtete. Naomi sprach gerne von "Zeithorizonten". Ich wußte zwar, daß sie in der Endphase ihres Geographiestudiums war, aber unter Horizonten hatte ich bislang immer was anderes verstanden. Horizonte hatten bei mir den leicht süßlichen Beigeschmack von Urlaubsstimmung. Und das hatte sie mir nun gründlich verdorben. Wenn ich jetzt jemand von Horizonten reden höre, denke ich immer mit Grausen an unseren Putzplan.
"Übrigens, Matz, Erika kommt nachher noch vorbei, wir müssen dringend ein paar Daten abgleichen. Können wir das Wohnzimmer benutzen? Du weißt ja, wir haben immer soviel Papiere zum Auslegen..."
"Klar doch, Schatz, das ist kein Thema. Ich habe genug zu tun, muß die Küche noch auf Trab bringen, und dann auch noch einen Haufen Papierkram erledigen. Kein Problem."
Sie verabschiedete sich mit einem Schmatzer, bevor sie leichtfüßig wie eine Wildkatze das Terrain räumte. Vom Flur aus erhielt ich den Auftrag, Teewasser aufzustellen.
Das Wohnzimmer, ohnehin selten in diesem Sinne genutzt, hatte sich in den letzten Wochen zu Naomis Studierzimmer gewandelt. In einer Ecke hatte sie ihren PC aufgebaut, daneben stand ihr Schreibtisch. Mein ehemals halbleerer Vitrinenschrank wurde im Nu zum überbordenden Bücherdepot. Zwei weitere Regale mußten her, um all ihre gesammelten Werke unterzubringen. Und mindestens zwei- bis dreimal in der Woche traf sie sich mit Kommilitonen zu abendlichen Zusammenkünften, Arbeitstreffen. Deutliches Zeichen, daß es in die heiße Phase des Studienabschlusses ging. Erinnerte mich vage daran, daß ich auch mal so im Streß gewesen war. In knapp sechs Monaten wollte Naomi alles erledigt haben, Diplomarbeit und mündliche Schlußprüfungen. Ihr Thema hieß: "Der Nachhaltsgedanke im Mosel-Tourismus - Realität oder Fiktion?" Klang irgendwie nach Agenda 21-Problematik, hatte wohl auch damit zu tun. Ich fand das recht wolkig, was dazu in Trier lief, jeder schmückte sich mit dem Agenda-Begriff, sogar der Oberbürgermeister nahm das Modewort begierig ins Repertoire seiner Propagandareden auf, für die er berüchtigt war. Das Ganze ging auf den Umweltgipfel von Rio 1992 zurück, die wässrigen Beschlüsse der Staatsoberhäupter zur Umweltproblematik sollten nun von den Kommunalpolitikern auf lokaler Ebene umgesetzt werden. Ich hatte massive Zweifel an der Qualität der Suppe, die mit dem Thema gekocht wurde. Für jeden Geschmack sollte da was drin sein, und doch stellte sich jeder was anderes darunter vor. Ein Trödelmarkt der Beliebigkeiten. Agenda 21, ein ideales Podium für Selbstdarstellungsakrobaten aller Couleur. Ich hatte selbst einmal einen sarkastischen Artikel darüber verfaßt, der wurde mir nachher gewaltig um die Ohren geschlagen. Sei 's drum. Naomi dagegen war voller Elan, sie hatte ganz einfach das Positive Denken verinnerlicht. Und das wollte ich ihr nicht nehmen. Wir sprachen selten über diese Dinge. Immerhin hatte sie ein ermunterndes Zwischenergebnis zu vermelden: zusammen mit einigen anderen Engagierten hatte sie vor einigen Jahren den Verein StadtLandFluss - Erlebnisexkursionen gegründet, eine Organisation, die sich die Verbindung von Umweltbildung und Erholung in freier Natur zum Ziel gesetzt hatte. Eine Idee, die in steigendem Maße beim Publikum ankam. Ich fand diese Touren jedenfalls weitaus spannender, als das endlose Geschwafel auf den abendfüllenden Agenda-Treffen, das ich mir nicht mehr antun wollte.
Längst war das Teewasser fertig. Naomi goß eine Obermennig-Schachtelhalm-Mischung auf. Ich wagte nicht zu fragen, was das zu bedeuten hatte. Erika stand auf der Matte, die beiden verschwanden im Wohn-Studierzimmer. Ich zelebrierte meine häuslichen Aufgaben zu Ende, bevor ich mich noch auf einen Stoß Klassenarbeiten in Spanisch stürzte. Schließlich war ich ein vorbildlicher Lehrer...