Читать книгу Jan ganz groß! - Carlo Andersen - Страница 6
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ОглавлениеAls die Buben auf der Landstrasse nach Sonderburg dahinradelten, erörterten sie lebhaft die Vorgänge an der Grenze. Ob es dem Flüchtling wohl gelungen war, seinen Verfolgern zu entkommen? Die deutschen Grenzwächter hatten offenbar auf ihn geschossen, ohne ihn zu treffen, und als der Flüchtling sich nicht mehr auf deutschem Boden befand, hatten sie natürlich die Verfolgung aufgeben müssen.
Unter lebhaftem Geplauder erreichten die vier Freunde den kleinen Ort Alnor, wo sie auf einer Fähre den Egernsund überquerten. Von dort ging die Fahrt weiter nach Düppel, zum Besuch der historischen Mühle, die jetzt als Museum eingerichtet ist und viele Erinnerungen an die alten Kriegszeiten enthält. Nachdem sie das Museum und die Überreste der Düppeler Schanzen zu beiden Seiten der nach Sonderburg führenden Landstrasse besichtigt hatten, erklärte Erling, er sei am Ende seiner Kräfte.
«Lieber Jan», sagte er mit kläglicher Stimme, «du kannst doch unmöglich von uns verlangen, dass wir bis Mitternacht auf den Rädern bleiben. Wir haben uns wahrhaftig abgeplagt. Ich bin so erschöpft, dass ich im Stehen schlafen könnte.»
«Merkwürdig!» lachte Jan. «Bist du denn gar nicht hungrig?»
«Hungrig?» wiederholte Erling. «Ich bin so hungrig, dass ich einen ganzen Ochsen am Spiess verzehren könnte. Wenn ich aber in diesem Augenblick zwischen einem Bett und einem Ochsen wählen müsste, würde ich ganz entschieden das Bett vorziehen.»
«Seid ihr andern auch müde?» fragte Jan.
Carl war natürlich noch bei Kräften, aber der kleine Jesper musste zugeben, es ginge ihm nicht besser als Erling.
«Bravo, Krümel!» sagte Erling anerkennend. «Viel redest du ja nicht, aber wenn du einmal etwas sagst, dann träufeln weise Worte aus deinem Munde. Ich werde dir morgen eine Tüte Rahmbonbons verehren.»
Es wurde ein kurzer «Kriegsrat» gehalten und beschlossen, an der ersten geeigneten Stelle das Zelt aufzuschlagen. Es dauerte denn auch nicht lange, so entdeckten sie in passender Entfernung vom Wege einen günstigen Lagerplatz. Es war eine Wiese mit saftigem Gras, die am Fusse eines kleinen Hügels lag. Offenbar gehörte sie zu dem Bauernhof, den sie in geringer Entfernung erblickten. Während die andern von den Rädern stiegen, fuhr Jan weiter und kehrte eine Viertelstunde später mit der Erlaubnis des Eigentümers zurück. Sie durften auf der Wiese ihr Zelt aufschlagen und ein Lagerfeuer anzünden.
Erling erklärte sich äusserst zufrieden mit dieser Ordnung der Dinge und half trotz seiner Müdigkeit beim Aufschlagen des Zeltes. Hernach sank er mit einem schweren Seufzer auf das Gras und streckte die Glieder. Jan aber versetzte ihm einen freundschaftlichen Puff: «Wenn du etwas essen willst, musst du helfen, Dicker».
«Ach nein, ach nein ... Hab doch nur ein wenig Mitleid mit mir, teurer Freund! Ich habe sonst in einem ganzen Jahr nicht so viel auf die Pedale getrampelt wie an diesem einen Tage ...»
«Steh auf! Du musst aus dem Wald dort Reisig holen.»
«Wozu in aller Welt brauchst du denn Reisig?» stöhnte Erling verzweifelt.
«Fürs Lagerfeuer natürlich. Willst du keinen Tee haben?»
«Nein, danke ...»
«Aber wir andern wollen Tee trinken. Steh auf, Dikker!»
Die drei Freunde lachten, als Erling ächzend auf die Beine kam. Bald darauf trabten er und Carl nach dem Walde. Inzwischen machten Jan und Jesper das Abendessen fertig. Jan war gespannt, was Erling dazu sagen würde, denn es war wirklich keine üppige Mahlzeit: Trockenes Schwarzbrot, Leberpastete, hartgekochte Eier und Käse. Andere Leute mochten denken, das wäre doch wahrlich genug des Guten. Erling pflegte jedoch grössere Ansprüche zu stellen.
Diesmal aber tat Jan seinem dicken Freunde unrecht. Als Erling einen guten Teil der Vorräte verzehrt hatte, erklärte er zufrieden: «Das hat herrlich geschmeckt! Und jetzt wäre es schön, wenn man eine Tasse Tee trinken könnte ...»
«Ich denke, du wolltest keinen Tee haben?» neckte ihn Jan.
«Ich habe meinen Beschluss geändert», erwiderte Erling gelassen. «Tee ist ein herrliches und erfrischendes Getränk.»
Das Lagerfeuer brannte lustig, und die vier Buben waren sich darin einig, dass das Zelten dem Übernachten in einem langweiligen Hotelbett bei weitem vorzuziehen wäre. Ausserdem war es ja viel billiger!
Die Sonne war untergegangen und die Dämmerung brach an. Hin und wieder fuhr ein Radfahrer vorüber und winkte den vier Freunden zu. Schliesslich wurde es so dunkel, dass man nur noch Schatten vorüberhuschen sah. Die Lichtkegel der Autos schnitten durch die Finsternis und tauchten die Baumstämme für eine kurze Weile in ein unnatürlich weisses Licht. Erling gähnte herzhaft und sagte: «Ihr müsst mich entschuldigen, Freunde, aber ich lege mich hin. Meiner Meinung nach hat die menschliche Leistungsfähigkeit ihre Grenzen. Gute Nacht alle miteinander!»
Erlings breite Hinterfront verschwand durch die Zeltöffnung. Wenige Minuten später folgte ihm Jesper. Jan und Carl blieben noch draussen und genossen den schönen Sommerabend. Da Tau gefallen war, benutzten sie ihre Regenmäntel als Unterlage. Eine Weile lagen sie schweigend. Dann fragte Jan: «Nun, Carl? Gefällt es dir? Freust du dich, dass du mitgekommen bist?»
«Sehr!» erwiderte Carl voller Überzeugung. «Du weisst ja, dass ich immer mächtig gern mit euch zusammen bin. Aber ...»
«Aber?»
Carl wurde verlegen und konnte sich offenbar nicht entschliessen, zu erklären, was er auf dem Herzen hatte. Jan liess ihm Zeit. Schliesslich sagte Carl mit etwas unsicherer Stimme: «Ja, siehst du ... Ich habe es nie richtig verstehen können, dass ihr ... na ja, du weisst ja, was ich meine. Ihr seid sogenannte ‚Jungen aus besserem Hause‘ und ich ... ich war ja Laufbursche in einem Milchgeschäft, als wir uns kennenlernten ...»
«Hör doch bloss mit dem Unsinn auf!» unterbrach ihn Jan ärgerlich. «Was bedeutet das denn, wenn man aus ‚besserem Hause‘ ist? Glaubst du vielleicht, man ist ein besserer Mensch, weil man einen Vater mit einem Bankguthaben oder einer Villa hat? Worauf es ankommt, ganz allein ankommt, ist, dass man als Mensch etwas wert ist. Alles übrige ist Nebensache. Und dass du etwas taugst, weisst du selbst genau so gut wie wir.»
«Ich danke dir, Jan», murmelte Carl. «Ich will nur hoffen, dass ich euch einmal für alles, was ihr für mich getan habt, durch eine Tat danken kann ...»
«Hast du ein schlechtes Gedächtnis?» fiel Jan ungeduldig ein.
«Ein schlechtes Gedächtnis? Nein. Weshalb?»
«Hast du denn schon vergessen, dass du vor wenigen Tagen einen unserer Kameraden gerettet hast, als er in Gefahr war, zu ertrinken?»
«Das ist doch wirklich nichts Besonderes.»
«Nichts Besonderes?» rief Jan. Dann fügte er lachend hinzu: «Lieber Carl, du bist grossartig! Du denkst, man ist ‚fein‘, weil man in eine höhere Schule geht. Wenn aber einer sein Leben wagt, um einen anderen zu retten, dann ist das deiner Meinung nach ‚nichts Besonderes‘. Doch wir wollen davon nicht länger reden. Bist du nicht müde?»
«O nein ... Wo soll die Fahrt morgen hingehen?»
«Nach Alsen. Wir wollen uns einmal die Karte ansehen.» Jan breitete eine Landkarte auf dem Gras aus, und die beiden studierten sie im Schein des Lagerfeuers. Jan zeigte mit dem Finger: «Erst wollen wir uns in Sonderburg etwas umschauen. Dann fahren wir nach Kegnäs. Jack sagte ja, dort sei ein schöner Badestrand. Wir werden sicher keine Mühe haben, einen guten Lagerplatz zu finden.»
«Merkwürdig, dass Jack und die andern nicht mitwollten.»
«Ja, sehr merkwürdig», stimmte Jan nachdenklich zu.
Die beiden Freunde plauderten noch eine halbe Stunde miteinander. Aus dem Zelt drangen friedliche Schnarchlaute in die Nacht heraus. Es war Erling, der nach den Strapazen des Tages den Schlaf des Gerechten schlief.
Das Lagerfeuer sank langsam zusammen. Bald musste es erlöschen. Da stand Jan auf und trat sorgfältig die letzte Glut aus. Er wusste, dass bei dem saftigen, taufeuchten Gras keine Gefahr bestand. Aber wenn es sich um Feuer handelte, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Jahr für Jahr gingen Millionenwerte in Flammen auf, weil die Leute nicht vorsichtig waren.
Jan und Carl krochen ins Zelt. Jan konnte lange keinen Schlaf finden. Schliesslich wandte er den Kopf nach Carl herum und flüsterte: «Carl, schläfst du?» Es kam keine Antwort. Carl schlief ebenso fest wie Erling und Jesper. Durch den Spalt im Zeltvorhang konnte Jan sehen, dass der Mond aufgegangen war. Hin und wieder hörte er ein Auto auf dem Wege vorüberfahren. Aber es geschah immer seltener, während die Zeit fortschritt.
Es mochten zwei bis drei Stunden vergangen sein, als Jan sich plötzlich aufrichtete und lauschte. Täuschte er sich oder hörte er draussen tatsächlich vorsichtige Schritte? Ja, es war kein Zweifel möglich! Jetzt hielten sie plötzlich an. Wer konnte das sein? Einer von den Leuten auf dem Hof? Oder der Besitzer, der sich vielleicht überzeugen wollte, ob auch alles in Ordnung war?
Plötzlich hörte Jan ein schwaches metallisches Klirren. Und da kam ihm blitzschnell die Erkenntnis: Die Räder!
Er kroch zur Zeltöffnung, schlug den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Was war denn das? Eine hohe, kräftige Gestalt beugte sich über die Räder und war offensichtlich im Begriff, eins zu entwenden.
Jan sauste durch die Zeltöffnung, lief auf den Mann zu und rief: «Heda! Was machen Sie da? Wollen Sie ein Rad stehlen?»
Der Mann drehte sich schnell um und liess das Rad zu Boden fallen. Jan hatte ihn schon beinahe erreicht, blieb aber plötzlich stehen und machte grosse Augen. Das Gesicht des Fahrraddiebes war im Mondlicht deutlich zu erkennen. Und was sah Jan? Vom linken Auge bis zum Hals zog sich eine breite Narbe!
«Der Flüchtling von der Grenze!» rief Jan. Weiter kam er nicht. Denn in diesem Augenblick packte der Mann ihn an der Brust, versetzte ihm einen Hieb auf den Kopf und schleuderte ihn heftig zu Boden. Jan hatte das Gefühl, als würde ihm mit einer Keule auf den Hinterkopf geschlagen. Dann wurde es ihm schwarz vor den Augen ...
Als er zu sich kam, blieb er einen Augenblick still liegen und starrte zum mondhellen Himmel empor. Im ersten Augenblick begriff er nicht, was geschehen war. Wo war er? Und weshalb hämmerte es so in seinem Hinterkopf? Er richtete sich mühsam auf, verharrte in sitzender Stellung und blickte sich verwirrt um. Allmählich erinnerte er sich. Er war von einem Fahrraddieb niedergeschlagen worden ... von dem Mann mit der Narbe ... dem Flüchtling von der Grenze ...
Stöhnend stand er auf und griff sich an den Hinterkopf. Scheusslich, dieses Hämmern und Pochen. Wie lange mochte er im Grase gelegen haben? Vielleicht einige Minuten ... vielleicht eine halbe Stunde! Und das eine Rad war verschwunden! Es war Carls Rad, wie er feststellte.
Sein Gehirn arbeitete jetzt wieder mit völliger Klarheit. Er eilte zum Zelt und rief hinein: «Wacht auf! Wacht auf!»
Die schlafenden Freunde liessen ein unwilliges Brummen vernehmen. Allmählich aber dämmerte ihnen doch, was Jan ihnen zu erklären versuchte. Carl war zuerst munter. Im nächsten Augenblick stand er schon neben Jan draussen vor dem Zelt. Seine Stimme bebte vor Erregung: «Was sagst du, Jan? Ein Strolch hat dich zu Boden geschlagen?»
«Ja, und er hat dein Rad gestohlen ...»
«Was bedeutet das Rad?» unterbrach ihn Carl. «Bist du verletzt?»
«Nicht der Rede wert! In meinem Hinterkopf hämmert es etwas. Sonst fehlt mir nichts.»
Carl ballte zornig die starken Fäuste: «Dieser Halunke! Wenn der Kerl mir in den Weg läuft, mache ich Hackfleisch aus ihm ...»
Erling und Jesper waren inzwischen ebenfalls aus dem Zelt gekrochen. Jan sagte: «Wisst ihr, wer der Mann war, der Carls Rad gestohlen hat? Der Mann mit der Narbe, der über die Grenze geflüchtet ist! Wollen wir ihn verfolgen?»
«Natürlich!» riefen die drei Freunde wie aus einem Munde.
«Gut! Ich weiss nicht, wie lange ich bewusstlos war. Vielleicht nur wenige Minuten. In diesem Fall haben wir eine Chance. Wenn ich aber länger bewusstlos war, ist der Kerl natürlich längst über alle Berge.»
«Wir versuchen es auf alle Fälle!» erklärte Carl zornig. «Aber wo sollen wir ihn suchen?»
«Wahrscheinlich ist er in Richtung Sonderburg gefahren», erwiderte Jan. «Er ist ja von Padburg gekommen und wird schwerlich Neigung haben, zur Grenze zurückzukehren. Da wir nur noch drei Räder besitzen und ich mich etwas schwindlig fühle, schlage ich vor, ihr drei fahrt im Spurttempo in Richtung Sonderburg. Wenn ihr den Ausreisser vorher nicht entdeckt habt, kehrt ihr an der Brücke um. Denn dann ist eine weitere Verfolgung aussichtslos.»
Verblüffend schnell hatten sich die drei Buben angezogen, und wenige Minuten später radelten sie, so schnell sie konnten, in Richtung Sonderburg davon. Jan konnte noch längere Zeit das helle Licht ihrer Radlaternen sehen. Er ging langsam vor dem Zelt auf und ab. Am liebsten hätte er sich hingelegt. Aber er liess es bleiben. Es war immerhin möglich, dass er eine kleine Gehirnerschütterung bekommen hatte, und es hiess ja, in einem solchen Fall dürfe man nicht schlafen, jedenfalls nicht sofort.
Jan glaubte, es wäre eine Ewigkeit vergangen, als seine Freunde endlich zurückkehrten. Leider hatten sie nichts erreicht. Sie waren, statt an der Brücke umzukehren, sogar bis Sonderburg gefahren, hatten aber von dem Fahrraddieb keine Spur entdecken können. Jan suchte sie zu trösten: «Da lässt sich nichts machen. Wir wollen uns wieder hinlegen und hoffen, dass heute nacht nicht noch mehr passiert.»
«Und Carls Rad?» fragte Jesper.
«Das werden wir kaum wiedersehen», erwiderte Jan. Lächelnd fügte er hinzu: «Carl muss eben fortan abwechselnd bei uns hinten aufsitzen.»
Carl sah ganz niedergeschlagen aus. Bis zu diesem Augenblick hatte er an das gestohlene Rad kaum gedacht. Jetzt erst kam ihm zum Bewusstsein, wie schwer der Verlust war, den er erlitten hatte. «Es ist scheusslich», sagte er stockend. «Aber es bleibt ja nichts weiter übrig. Morgen fahre ich mit der Bahn nach Hause. Selbst ein gebrauchtes Fahrrad ist ja teuer, und ... in meiner Kasse herrscht wieder einmal Ebbe ...»
«Kommt nicht in Frage!» erklärte Erling ruhig. «Das fehlte noch gerade, dass wir für den Rest der Tour auf deine Gesellschaft verzichten! Nein, mein Freund, morgen früh kaufen wir ein neues Rad für dich. Ich habe genügend Geld mitgenommen.»
«Es wird lange dauern, bis ich das Geld zurückzahlen kann», stammelte Carl verlegen. «Mein Verdienst ist leider nicht danach ...»
«Du kannst jeden Monat eine Krone abzahlen», erwiderte Erling. «Und nun wollen wir nicht mehr davon reden.»