Читать книгу Jan ganz groß! - Carlo Andersen - Страница 8
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ОглавлениеAm nächsten Morgen waren die Buben zeitig auf den Beinen. Carl taten nach dem schweren Kampf noch alle Glieder weh. Doch als er ein erfrischendes Bad genommen hatte, fühlte er sich wieder ganz auf der Höhe. Beim Frühstück war die Unterhaltung noch lebhafter als sonst, denn Carl musste natürlich erzählen. Er tat es nicht gern; aber seine Freunde liessen ihm keine Ruhe. So begann er schliesslich mit verlegener Miene: «Ich muss zugeben, dass ich noch nie in meinem Leben eine so schwere Arbeit verrichtet habe. Es hatten sich gegen fünfzig Leute zu dem Wettbewerb gemeldet. Wir kamen paarweise in die Manege. Die Leute brüllten und johlten, wenn wir uns in den Sägespänen herumwälzten. Der Zirkusdirektor war Schiedsrichter. Als ich die ersten sieben oder acht Gegner geworfen hatte, begann ich müde zu werden. Aber da ...»
«Da dachtest du an das Geld, das du Erling schuldest», half Jan ihm weiter.
«Ja. Ich fand, es war furchtbar nett von dir, Erling, dass du ohne weiteres ein neues Rad für mich kauftest, und ich wollte das Geld gern bald zurückzahlen. Es ging im Zirkus alles so schnell, dass man kaum Zeit hatte, zwischen einzelnen Kämpfen einmal richtig aufzuschnaufen. Als ich mich bis zum Schlusskampf durchgequält hatte, war ich so müde, dass ich kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Aber mein Gegner war natürlich ebenso müde, denn er hatte ja genau so viele Kämpfe überstehen müssen wie ich. Es war ein grosser, starker Kerl, und ich kann sagen, er leistete zähen Widerstand. Aber ... na ja ... schliesslich schaffte ich es doch. Als ich seine Schultern niedergedrückt hatte, wurde es mir einen Augenblick schwarz vor den Augen. Aber es dauerte nicht lange, und ich stand wieder auf den Beinen ...»
«Das Publikum war natürlich begeistert?»
«Mächtig! Sie brüllten alle wie verrückt, und viele wollten mich durchaus ins Wirtshaus einladen. Aber aus Zechgelagen mache ich mir ja nichts. Alkohol ist ein elendes Zeug für junge Menschen ... Ich stahl mich also heimlich davon und stieg auf mein Rad. Ihr könnt glauben, ich war froh ...»
«Weshalb wolltest du nicht, dass wir mit dir in den Zirkus gingen?»
«Ich wusste ja nicht, ob ich es schaffen würde, und ihr brauchtet doch nicht zu sehen, wie ich ausgelacht wurde. Es konnte ja nur einer gewinnen. Alle, die unterlagen, wurden ausgepfiffen und ausgelacht ...»
«Da war es ja gut, dass du siegtest», sagte Jan lächelnd. «Ich gäbe viel dafür, wenn ich deine Kräfte hätte.»
«Dafür habt ihr etwas anderes», entgegnete Carl bescheiden. «Ich will Erling gern meine Kräfte abtreten, wenn er mir dafür seinen Verstand gibt.»
«Die Güter dieser Erde sind ungleich verteilt», lächelte Jan. «Auf allen Gebieten kann man nicht der Erste sein.»
Der Vormittag verging für die Buben auf die angenehmste Weise. Einen grossen Teil der Zeit hielten sie sich in dem herrlichen salzreichen Meerwasser auf. Als die Essenszeit gekommen war, fuhr Jesper nach Sönderby, um einzukaufen. Eine halbe Stunde später kehrte er in höchster Aufregung zurück.
«Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie erschrocken ich war!» erzählte er atemlos. «Als ich gerade aus dem Kaufmannsladen trat, fuhr ein grosses Auto vorbei. Und wer, glaubt ihr, sass neben dem Chauffeur? Der Mann mit der Narbe!»
Die Buben waren so überrascht, dass sie alle durcheinandersprachen. Jan fragte: «Hast du nicht etwa Gespenster am hellichten Tage gesehen, Krümel? Bist du ganz sicher, dass es der Mann mit der Narbe war?»
«Klar!» ereiferte sich Jesper. «Wenn ich es doch sage! Ich habe den Mann mit der Narbe mit meinen eigenen Augen gesehen.»
«Natürlich!» bemerkte Jan trocken. «Mit den Augen eines andern konntest du ihn nicht gut sehen. In welcher Richtung fuhr denn das Auto?»
«Es muss hier in der Nähe vorübergekommen sein ...»
«Vor etwa einer Viertelstunde sah ich auf der Landstrasse ein grosses Auto vorbeisausen», warf Carl ein. «Auf den Vordersitzen sassen zwei Männer.»
«Konntest du einen von ihnen erkennen?»
«Nein. Dazu war die Entfernung zu gross.»
«Hm, da wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als die Polizei in Sonderburg zu unterrichten», meinte Jan nachdenklich. «Bist du bereit, deine Aussage vor der Polizei zu wiederholen, Krümel?»
«Ja ... ich ... natürlich ...» sagte Jesper etwas kleinlaut.
«Ganz sicher bist du also doch nicht?» fragte Jan.
«Das Auto fuhr ziemlich schnell, und ich konnte es nur wenige Sekunden beobachten. Aber ich glaube ganz bestimmt, dass es der Mann mit der Narbe war.»
«Wenn ich den Kerl erwische!» rief Carl. «Er soll es büssen, dass er meinen besten Freund niedergeschlagen hat ...»
«Und dass er dein Rad stahl», fügte Jesper hinzu.
«Das ist nicht so schlimm, ich habe ja jetzt ein besseres. Aber dass er sich an Jan vergriffen hat, werde ich ihm nie vergessen!»
Jan breitete die Karte aus und studierte sie eine Weile stumm. Die andern betrachteten ihn gespannt. Schliesslich fragte Erling: «Worüber grübelst du, grosser Sherlock Holmes? Mit bangen Ahnungen sehe ich neuen Verwicklungen und abenteuerlichen Begebenheiten entgegen. Können wir denn nicht den blöden Kerl mit der Narbe vergessen und uns dem wohlverdienten Genuss unserer Ferien hingeben?»
Jan antwortete nicht, sondern faltete die Karte wieder zusammen. Er sah sehr nachdenklich aus. Die andern waren natürlich neugierig, bekamen aber auf ihre vielen Fragen keine Antwort. Schliesslich sagte Jan: «Sollten wir uns nicht wieder etwas Bewegung machen? Ich schlage eine kleine Tour nach Augustenburg und Nordburg vor. Dabei bekommen wir Appetit, und das Abendessen wird um so besser schmecken.»
«Könnten wir uns nicht mit Augustenburg begnügen?» fragte Erling missmutig. «Bis Nordburg ist es scheusslich weit, und ich kann euch versichern, dass es dort überhaupt nichts zu sehen gibt.»
«Woher weisst du das, Dicker?»
«Zufälligerweise ist mir die Geschichte des Schlosses nicht unbekannt. Ursprünglich wurde es als eine Trutzburg zur Abwehr der Wenden gebaut. Aber aus jener Zeit ist natürlich kein einziger Stein mehr übrig. Das bisschen Schloss, das es noch gibt, beherbergt eine Fortbildungsschule. Was interessiert uns eine Schule? Wir wollen doch nicht vergessen, liebe Freunde, dass wir Ferien haben.»
Das Ergebnis einer kurzen Beratung war, dass man beschloss, den Abstecher nach Augustenburg zu machen. Carl fragte etwas bedenklich, ob man das Zelt ohne Bewachung lassen könnte. Aber Jan beruhigte ihn: «Mit dem Zelt wird bestimmt niemand davonlaufen. Und alles Wertvolle nehmen wir mit.»
In aufgeräumter Stimmung machten sich die vier Freunde auf den Weg. Als sie eine halbe Stunde später durch die kleine Stadt Mintebjärg fuhren, fuchtelte Jesper wild mit dem rechten Arm und rief: «Das Auto, Jan! Das Auto!»
«Welches Auto?»
«Das Auto, von dem ich euch erzählt habe. Dort hält es!»
Vor einem kleinen roten Backsteinhaus hielt ein geschlossener Wagen. Er war leer. Jan befahl schnell: «Nicht langsamer fahren! Folgt mir!»
Sie fuhren in normalem Tempo an dem Hause vorüber. Dann aber sprang Jan ab, und die andern folgten seinem Beispiel. Sie zogen ihre Räder hinter eine Hecke.
«Bist du ganz sicher, dass es dasselbe Auto ist, Krümel?» fragte Jan.
«Ein Irrtum ist ausgeschlossen!» erklärte Jesper eifrig.
Jan wusste nicht recht, was er tun sollte. Wenn der Mann mit der Narbe tatsächlich in dem Auto gesessen hatte, war es seine Pflicht, möglichst bald bei der Polizei in Sonderburg anzurufen. Anderseits war Jesper seiner Sache ja nicht völlig sicher gewesen, und er wusste aus Erfahrung, dass die Phantasie dem kleinen Krümel bisweilen einen Streich zu spielen pflegte. Es war wohl das beste, zunächst abzuwarten und nichts zu übereilen.
Er blickte vorsichtig um die Hecke herum und machte den anderen ein Zeichen, sich ganz still zu verhalten. Ein Mann war soeben aus dem Backsteinhaus gekommen und kletterte jetzt auf den Führersitz des Autos. Aber es war nicht der Mann mit der Narbe. Der Motor sprang an, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Bald war er auf der Landstrasse in Richtung Kegnäs verschwunden. Die Jungen setzten nach einer kurzen Beratung ihre Fahrt fort. Jan war sehr schweigsam geworden. Über eins war er sich klar: Bei passender Gelegenheit musste er sich unbedingt das geheimnisvolle Backsteinhaus etwas näher ansehen.
Eine Stunde später waren sie in Augustenburg. Es war eine hübsche kleine Stadt; doch abgesehen von dem Schloss bot sie keine Sehenswürdigkeiten, und das Schloss konnten sie nicht ansehen, da es neuerdings als Irrenhaus benutzt wurde.
Am späten Nachmittag waren die Buben wieder in ihrem Lager. Sie waren erhitzt und ziemlich erschöpft. Ein erfrischendes Bad tat jedoch Wunder, und Jan hatte recht gehabt: Die Rundfahrt hatte ihnen wirklich Appetit gemacht. Als die Dunkelheit anbrach, zündeten sie ein Lagerfeuer an, frischten alte Erinnerungen auf und gaben abwechselnd drollige Geschichten zum besten. Dann machte die Müdigkeit sich geltend. Bald krochen sie ins Zelt; und es dauerte nicht lange, so schliefen sie alle friedlich.
Plötzlich wurde Jan durch ein gellendes Geschrei geweckt, das die nächtliche Stille zerriss: «Hilfe! Hilfe! Mörder!»
Jan wollte sich aufrichten. Das erwies sich aber als unmöglich. Sein ganzer Körper war in irgend etwas Weiches verwickelt. Er schlug wild mit den Armen um sich; doch das machte die Sache nur noch schlimmer. Wieder ertönte Erlings Geschrei; diesmal klang es halb erstickt: «Hilfe! Hilfe! Räuber und Banditen! Hilfe!»
Jan glaubte, dass sich in seiner unmittelbaren Nähe ein heftiger Kampf entwickelt hätte. Plötzlich war er hellwach. Er wusste, was geschehen war. Das ganze Zelt war über ihnen zusammengestürzt! Er hob schnell die Leinwand etwas und rief: «Hör mit dem Geschrei auf, Dicker! Niemand denkt daran, dich umzubringen.»
Mit grosser Mühe arbeitete er sich aus der Zeltleinwand hinaus, bis er im Freien war. Nach und nach gelang es auch den andern, hinauszuschlüpfen. Jesper war ganz benommen. «Wie ... wie konnte das Zelt ... so ... so ... ganz ... von selbst zusammenfallen? Es ... es ist doch beinahe windstill», sagte er mit unsicherer Stimme.
«Sieh dir einmal die Pflöcke an!» unterbrach ihn Jan. «Irgendein liebevolles Gemüt hat sie alle herausgezogen. Kein Zelt kann stehen bleiben, wenn man ihm jeden Halt nimmt.»
«Wahrhaftig, du hast recht!» stimmte Carl verwundert zu. «Aber wer mag sich den Spass gemacht haben, unsere Nachtruhe zu stören?»
«Der Mann mit der Narbe?» schlug Jesper vorsichtig vor.
«Unsinn!» sagte Jan. «Glaubst du, ein Flüchtling verschwendet seine Zeit mit solchen Albernheiten?»
«Vielleicht hat er hier irgend etwas vor und will uns deshalb weggraulen.»
Jan sagte ruhig: «Wir wollen das Zelt wieder aufbauen. Mir scheint, wir haben noch längst nicht ausgeschlafen.»
Erling war verdrossen über die unerwartete Störung seiner Nachtruhe, und er machte kein Hehl aus seinen Gefühlen: «Wenn das so weitergeht, spiele ich nicht mehr lange mit. Die beiden letzten Nächte waren ganz abscheulich. Was meint ihr? Wäre es nicht ein guter Gedanke, wenn wir uns morgen in Sönderby nach zwei netten Doppelzimmern umsähen?»
«Kommt gar nicht in Frage!» erwiderte Jan mit grosser Bestimmtheit. «In einem Hotelzimmer schlafen ist kein Sport. Das kann jeder. Deshalb haben wir ja das Zelt mitgenommen. Nun wollen wir uns an die Arbeit machen und die Pflöcke wieder einschlagen.»
Erling seufzte, geruhte aber, sich an der Arbeit des Zeltaufrichtens zu beteiligen. Es dauerte nur wenige Minuten, und alles war wieder in bester Ordnung. Erling, Carl und Jesper krochen ins Zelt, Jan aber blieb unentschlossen draussen stehen. Er liess seine Blicke wachsam über die dunkle Landschaft gleiten, vermochte aber nichts Verdächtiges zu entdecken. Da beschloss er, ein Stück am Strand entlangzuwandern.
Er hatte sich noch nicht weit vom Lager entfernt, als er plötzlich zusammenzuckte und mit einem Ruck stehen blieb. Ein eigentümlicher, gellender Schrei oder vielmehr ein widerwärtig klingendes schrilles Gelächter unterbrach die nächtliche Stille.
Jan fuhr blitzschnell herum und blickte in die Richtung, aus der das Gelächter zu kommen schien. Jetzt war es verstummt. Kaum aber setzte er sich wieder in Bewegung, um zu ergründen, was wohl dahinter stak, als das ekelhafte Gemecker aufs neue erklang. Nur schien es eher aus der Gegend des Zeltes zu kommen. Jan änderte daher die Richtung seines Laufs.
Vor dem Zelt standen Jesper und Erling. Der kleine Krümel schien etwas Angst zu haben. Erling hingegen kochte vor gerechtem Zorn, weil er zum zweitenmal aufgeschreckt worden war. Auf ergiebigen Schlaf legte er beinahe ebensoviel Wert wie auf reichliches und nahrhaftes Essen.
«Was soll denn das heissen?» rief er. «Ich habe noch nie einen Schakal heulen gehört; aber nach allem, was ich darüber gelesen habe, muss es etwa so klingen wie das Gelächter, das wir soeben gehört haben.»
«Ist Carl nicht da?» unterbrach ihn Jan.
«Nein. Er wollte feststellen, wer sich das Vergnügen macht, die Nachtruhe anständiger Menschen zu stören.»
Jan wartete nicht auf weitere Erklärungen, sondern rannte davon, um Carl zu suchen. Als er gerade einen kleinen Hügel erstieg, kam der Mond hinter den Wolken hervor, und da gewahrte er Carl. Unwillkürlich musste er lächeln, als er die grimmige Miene des Freundes sah. «Hast du etwas entdeckt, Carl?» fragte er.
«Nein. Mir war so, als käme das widerliche Lachen aus dieser Richtung. Als ich aber die Gegend um den Hügel absuchte, war niemand zu sehen. Hast du etwas entdeckt?»
Jan musste zugeben, dass er ebensowenig Erfolg gehabt hatte. Carl sagte ärgerlich: «Ich glaube nicht an Gespenster und dergleichen Unfug. Ich esse meinen alten Hut, wenn es kein ganz gewöhnlicher Mensch ist, der uns einen Schrecken einjagen möchte. Was machen wir nun, Jan?»
«Ins Lager zurückkehren und schlafen», erwiderte Jan ruhig.
«Schlafen?» brummte Carl. «Und wenn der ekelhafte Kerl sein albernes Spiel wiederholt?»
«Hoffen wir, dass er uns ruhig schlafen lässt», erwiderte Jan, die Schultern zuckend.