Читать книгу Jan ganz groß! - Carlo Andersen - Страница 9
5.
ОглавлениеDie Nacht verlief ohne weitere Störung. Nach dem Frühstück stieg Jan aufs Rad. Er tat sehr geheimnisvoll und antwortete auf die Fragen seiner Freunde nur: «Vielleicht habe ich eine Überraschung für euch, wenn ich zurückkomme.»
Daraus war nicht viel zu entnehmen, und so war es kein Wunder, dass die Zurückbleibenden ein gespanntes Gesicht machten, als Jan nach ein paar Stunden zurückkehrte. Jan musste jedoch mit etwas enttäuschter Miene einräumen, er habe keine Überraschung für sie mitgebracht.
«Du tust ja mächtig geheimnisvoll», sagte Erling. «Könntest du nicht wenigstens andeuten, was für eine ‚Überraschung‘ du uns zugedacht hattest?»
«Noch nicht», erwiderte Jan. «Offen gestanden ist es nämlich durchaus möglich, dass ich auf einer falschen Spur bin.»
«Das kommt selten vor», bemerkte Erling ironisch. «Aber natürlich kann sich selbst der grosse Sherlock Holmes einmal irren. Können deine geringen Diener dir irgendwie behilflich sein?»
«Wenn du mir wirklich einen Dienst erweisen willst, Dicker, dann halte den Mund», lachte Jan. «Nach dem Mittagessen werde ich mich wieder auf den Weg machen, und ihr müsst sehen, wie ihr euch inzwischen die Zeit vertreibt.»
Jan beeilte sich mit dem Essen und schwang sich dann wieder auf den Sattel. Diesmal gedachte er länger fortzubleiben als am Vormittag. Er hatte nämlich im Sinn, sich das rote Backsteinhaus in Mintebjärg etwas näher anzusehen.
Als er in der Stadt angelangt war, stieg er in der Nähe des Hauses ab. Schnell liess er die Luft aus dem hinteren Schlauch entweichen und begann das Rad mit grossem Interesse zu studieren. Dann stellte er es «auf den Kopf» und packte das Flickzeug aus. Jeder, der ihn beobachtete, musste den Eindruck gewinnen, dass er den Schlauch des Hinterrads flickte. Er liess sich gut Zeit, und sein Gehirn arbeitete unter Hochdruck. Wie konnte er sich das Haus aus der Nähe ansehen, ohne Verdacht zu erregen? Und was konnte er vielleicht erreichen? Diese Fragen waren kaum zu beantworten. Es blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten.
Er hatte sich so aufgestellt, dass das Haus in seiner Blickrichtung lag. Drinnen schien alles still zu sein. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick auf die Fenster, während er dem Anschein nach eifrig damit beschäftigt war, seinen Schlauch zu flicken. Natürlich war ihm klar, dass er unmöglich den ganzen Nachmittag hier stehenbleiben konnte. Das hätte doch gar zu merkwürdig ausgesehen. Wenn nicht bald etwas geschah, musste er seinen Beobachtungsposten aufgeben, ohne etwas erreicht zu haben.
Plötzlich ging die Haustür auf, und ein Mann trat heraus. Er wechselte ein paar Worte mit jemand, der im Vorraum des Hauses zurückgeblieben war. Dann grüsste er kurz, und obwohl er deutsch sprach, hörte Jan deutlich, was er sagte: «Gut. Um vier Uhr komme ich wieder ...»
Jan blickte auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb drei. Er hatte also anderthalb Stunden Zeit, um die Sachlage zu überdenken.
Vorsichtig kehrte er sein Rad wieder um. Dabei warf er einen schnellen Blick auf die Fenster des Hauses. Er zuckte leicht zusammen. Denn er hätte wetten können, dass jemand zu ihm herübergestarrt hatte und jetzt blitzschnell verschwand.
Er stieg wieder in den Sattel und setzte seine Fahrt fort. Nach einer Weile hielt er an und begann ein Gespräch mit einem jungen Mann, der am Wegrand stand. Er sah nicht sehr intelligent aus. Jan glaubte deshalb, er brauche nicht gar zu diplomatisch vorzugehen. Zuerst erkundigte er sich nach dem nächsten Weg nach Momark. Als diese Frage beantwortet war, sagte er: «Hoffentlich ist mein Hinterreifen jetzt dicht. Ich hatte eine Panne ... dort hinten ... unmittelbar vor dem roten Haus ...»
Da der junge Mann darauf nichts bemerkte, sondern nur gleichgültig nickte, fuhr Jan unverdrossen fort: «Übrigens ein schönes Haus ... das rote.»
«Ja, das Haus ist nicht übel», stimmte der junge Mann zu. «Von dem Besitzer kann man leider nicht dasselbe sagen.»
«Warum denn nicht?» fragte Jan, der sich alle Mühe gab, sein Interesse nicht zu verraten. «Was ist mit ihm los?»
«Er ist ein Schurke. Kein Geschäft ist ihm zu schmutzig, wenn es nur etwas einbringt. Und während des Krieges hat er sich aufgeführt, als ob ganz Alsen ihm allein gehörte. Übrigens scheint er auch jetzt wieder krumme Wege zu gehen.»
«Krumme Wege?» wiederholte Jan voller Spannung. «Was macht er denn?»
«Man sagt, er helfe Leuten, die ein schlechtes Gewissen haben, über die Grenze. Etwas Bestimmtes weiss ich nicht, aber es wird schon wahr sein.»
«Merkwürdig, dass die Polizei noch nicht eingegriffen hat», meinte Jan.
«Wahrscheinlich hat die Polizei noch nichts davon gehört», erwiderte der andere. «Sie hätte ja auch viel zu tun, wenn sie allen Gerüchten, die hier in der Nähe der Grenze umlaufen, nachgehen wollte.»
Jan war mit den Aufklärungen, die er von dem jungen Mann erhalten hatte, überaus zufrieden. Um keinen Verdacht zu erregen, lenkte er das Gespräch auf harmlosere Gegenstände. Ein paar Minuten unterhielten sie sich noch über dieses und jenes. Dann verabschiedete er sich von dem jungen Mann und fuhr weiter. Eins stand fest: Um vier Uhr musste er sich wieder bei dem roten Haus einfinden.
Eine Stunde streifte er in der Gegend herum. Als die bedeutungsvolle Stunde näher rückte, kehrte er nach Mintebjärg zurück und stellte sein Rad in angemessener Entfernung von dem roten Haus unter. Dann schlenderte er den schmalen Weg hinunter, der an der Hinterseite des Hauses entlang führte. Jetzt galt es!
Hinter dem Hause befand sich ein kleiner Hofplatz mit einem Schuppen. Jan schaute ringsum, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Leise und gewandt wie eine Katze schlich er zu dem Schuppen und öffnete vorsichtig die Tür. Er blickte ins Innere und stellte fest, dass der Schuppen mit Torf angefüllt war. Das war günstig. Bei dieser Backofenhitze kam sicher niemand auf den Gedanken, Torf zu holen. Gleich darauf stand er in dem halbdunklen Raum. Die Tür liess er angelehnt, um die Hinterseite des Hauses beobachten zu können. Alle nach dem Hof gehenden Fenster standen offen.
Während er darauf wartete, dass etwas «geschehen» würde, kamen ihm schwere Bedenken. Er hatte das Gesicht nicht vergessen, das bei seinem ersten Besuch zu ihm herübergestarrt hatte und dann blitzschnell verschwunden war. Es war kein angenehmer Gedanke, dass die Leute im Hause vielleicht Verdacht geschöpft hatten und auf der Hut waren. Wenn ihn jemand in den Schuppen hatte schlüpfen sehen? Dann war er wie eine Maus in der Falle gefangen!
Plötzlich spitzte er die Ohren. Durch die offenen Fenster drang schwaches Stimmengewirr heraus. Jan konnte jedoch kein Wort verstehen. Es gab daher keine andere Möglichkeit: Wenn er jetzt etwas in Erfahrung bringen wollte, durfte er ein gewisses Wagnis nicht scheuen.
Mit äusserster Vorsicht schob er die Schuppentür so weit auf, dass er sich durch die Öffnung hindurchzwängen konnte. Als sich die Tür in ihren rostigen Angeln drehte, quietschte sie leise. Er wagte kaum zu atmen. Da die Stimmen im Hause nicht verstummten, wagte er es, sich näher heranzuschleichen und unter einem geöffneten Fenster Posten zu fassen. Jetzt konnte er deutlich die Worte vernehmen. Drei Männer unterhielten sich auf deutsch. Jan lauschte geduckt mit angehaltenem Atem. Das meiste von dem, was gesprochen wurde, verstand er. Der Schweiss trat ihm auf die Stirn, und die Knie taten ihm weh, da er sich nicht aufrichten durfte.
Plötzlich brach die Unterhaltung ab. Im selben Augenblick verliess Jan seinen Horchposten. Ohne sich die Zeit zu nehmen, sich erst umzublicken, rannte er zu seinem Rade, schwang sich hinauf und spurtete davon. Erst als die Stadt ein gutes Stück hinter ihm lag, verlangsamte er das Tempo etwas. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie war ganz nass vom Schweiss.
Während er die Fahrt fortsetzte, suchte er über das, was er erlauscht hatte, klar zu werden, um es in einen Zusammenhang zu bringen. Es war von einem Fischerboot die Rede gewesen ... der Name Gelting war gefallen ... morgen nacht zwischen eins und zwei ... irgendwo am Strande westlich vom Leuchtfeuer ... Die drei Männer hatten auch etwas von tausend Kronen gesagt, die bar ausgezahlt werden sollten. Schade, dass er im Deutschen nicht so tüchtig war wie Erling! Was mochte Gelting bedeuten? Es war wohl eine Stadt oder eine Insel. Aber wo lag sie?
Als Jan nach dem Lager zurückkehrte, wurde er mit einem Wasserfall von Fragen überschüttet. Er lachte und hob abwehrend die Hände: «Immer mit der Ruhe, liebe Freunde! Lasst mir doch etwas Zeit! Zuerst und vor allem eins: Weisst du, Erling, was Gelting bedeutet?»
«Gelting?» wiederholte Erling verwundert. «Wie sollte ich das wissen?»
«Wie komisch!» lachte Jan. «Der allwissende Erling muss die Waffen strecken. Es gibt also wirklich Fragen, die du nicht beantworten kannst?»
«Bin ich ein Lexikon?» brummte Erling. «Was ist denn los mit Gelting?»
«Das müssen wir gleich einmal untersuchen», erwiderte Jan. «Ich habe einen Verdacht.»
Er holte die Landkarte und breitete sie schnell aus. Es dauerte nur wenige Sekunden, so rief er frohlockend: «Da haben wir Gelting! Es ist eine kleine Stadt auf der anderen Seite der Förde ...»
«Ungeheuer interessant!» bemerkte Erling spöttisch. «Aber wenn es auch niemals schadet, dass man seine Geographiekenntnisse erweitert, so kann ich doch mit dem besten Willen nicht einsehen, warum dieses Gelting uns ganz besonders interessieren sollte. Deshalb vermag ich deine Begeisterung leider nicht zu teilen.»
«Ich will euch nicht länger in Spannung halten», sagte Jan lächelnd und faltete die Karte zusammen.
Mit knappen Worten erzählte er seinen Freunden, was er im Laufe des Nachmittags erlebt hatte. Dann schloss er: «Ich zweifle nicht mehr, dass der Mann, den Jesper im Auto gesehen hat, tatsächlich der Mann mit der Narbe war. Ausserdem bin ich überzeugt, dass er mit einer Organisation zu tun hat, die Flüchtlinge aus Deutschland über die Grenze schmuggelt. Morgen nacht haben sie etwas vor. Ein Fischerboot wird von Gelting aus vier Flüchtlinge über die Förde bringen. Sie werden westlich vom Leuchtfeuer landen. Die Frage ist nur, was wir tun sollen.»
«Wir müssen die Polizei in Sonderburg benachrichtigen», erklärte Jesper.
«Können wir nicht selbst mit der Bande fertig werden?» fragte Carl. «Es juckt mir in den Fäusten, wenn ich daran denke, dass ich mit dem Narbenmann Abrechnung halten kann.»
«Was meinst du, Erling?» fragte Jan.
«Ich bin derselben Meinung wie Jesper. Diese Sache geht die Polizei an.»
«Ich füge mich der Mehrheit», entschied Jan. «Morgen rufe ich in Sonderburg an und spreche mit dem Wachtmeister.»
Als die Buben einige Stunden später um das Lagerfeuer herumlagen, brachte Jan eine unerwartete Frage vor: «Habt ihr Lust, heute nacht auf Jagd zu gehen?»
«Auf Jagd?» wiederholten die drei andern wie aus einem Munde. «Was meinst du damit?»
«Ich möchte gern den Schakal fangen, der uns aus dem Schlaf aufgestört hat. Vermutlich wird er sich heute nacht wieder hören lassen und vielleicht noch ein paar andere Schakale mitbringen. Ich schlage vor, wir löschen das Feuer und kriechen ins Zelt. Nach einer Weile kriechen wir wieder hinaus und verstecken uns hinter dem Hügel. Dann warten wir ab.»
«Ob das nicht ... gefährlich ist?» fragte Jesper.
«Ich glaube nicht, dass der Schakal dich fressen wird, Krümel», beruhigte ihn Jan. «Halte dich nur immer in Carls Nähe. Dann wird dir sicher nichts zustossen.»
Die vier Freunde taten, wie Jan gesagt hatte. Sie schlichen zu dem Hügel und versteckten sich dort. Der Himmel war wolkenfrei, und der Mond leuchtete hell. Das schwache Plätschern der Wogen war der einzige Laut, der die Stille der Nacht unterbrach.
Als sie etwa eine halbe Stunde in ihrem Versteck gelegen hatten, flüsterte Jan plötzlich: «Schaut dort drüben hin. Seht ihr die dunklen Gestalten?»
«Ja», flüsterte Jesper. «Sie sehen ... unheimlich aus ...»
«Es sind nur drei», murmelte Carl. «Mit denen werden wir schon fertig werden!»
Die drei Gestalten hatten offensichtlich das Zelt zum Ziel. Sie bewegten sich sehr vorsichtig, kamen aber immer näher. Schliesslich waren sie nur noch etwa zwanzig Meter entfernt. Da sprang Jan auf. Die drei anderen folgten seinem Beispiel. Mit fürchterlichem Gebrüll stürzten sie sich auf die «Schakale», die sich gerade an den Zeltschnüren zu schaffen machten. Eine Weile war alles ein wildes Durcheinander. Die Luft war von Kampfgeschrei und «Schakalgeheul» erfüllt. Carl stürzte sich mit unbändigem Eifer in das Handgemenge. Jan aber rief: «Mässige dich, Carl! Du willst doch nicht etwa aus unseren Freunden Hackfleisch machen?»
Erling schüttelte sich vor Lachen. Die drei «Schakale» waren niemand anders als Henning, Holger und Jack!