Читать книгу Die Erzählerin von Arden - Carola Schierz - Страница 4
Neubeginn
ОглавлениеIn den nächsten beiden Wochen erholte sie sich schnell und übernahm bald viele Tätigkeiten im Haushalt des gutmütigen Heilers. Sie verstanden sich prächtig - ohne viele Worte. Für Unterhaltung sorgte Emma, die allabendlich vorbeikam und sie mit Resten aus der Schlossküche und dem neuesten Klatsch versorgte.
Dann kam der Tag, an dem sie, wieder ganz bei Kräften, ihren Dienst als Magd antrat. Schloss Arden war ein beeindruckender Bau von stattlicher Größe und wirkte dennoch einladend auf den Betrachter. Es lag auf einer kleinen Anhöhe und gab den Bewohnern einen traumhaften Blick auf die kleine Stadt und das fruchtbare Umland frei.
Lillian wechselte mit dem winzigem Bündel, welches ihre ganze Habe darstellte, in den anderen Teil des Gesindehauses, in dem die Schlafräume der weiblichen Bediensteten untergebracht waren. Sie teilte sich ein Zimmer mit zwei anderen Mädchen. Ellen hatte sie bereits kennengelernt. Eine freundliche Brünette mit einer Stupsnase und etwas zu großen Zähnen, die das halbe Gesicht einnahmen, wenn sie breit lächelte. Das andere Bett gehörte Helen. Die Mädchen waren sich bisher noch nicht begegnet und Lillian brannte darauf, sich für das geborgte Kleid zu bedanken, welches sie auch heute noch trug.
Ihre erste Aufgabe bestand darin, zwei Eimer Wasser aus dem Brunnen zu holen. Gerade als sie sich über den Rand beugte, um den Schöpfeimer herunterzulassen, spürte sie zwei tellergroße Hände, die sich ihr von hinten um die Hüften legten und nun dabei waren, langsam nach oben zu wandern. Als Lillian aus ihrer Schreckensstarre erwachte, drehte sie sich rasch um und zog dem Lüstling den leeren Eimer über den Kopf. Er ging unsanft zu Boden.
„Wage es ja nicht mich anzufassen, du Wüstling!“, schrie sie ihm ins entsetzte Gesicht.
Er schien völlig aus der Fassung gebracht. „Ich dachte du wärest …“
„… neu hier und darum leichte Beute, was?“, fiel sie ihm lautstark ins Wort. „Aber nicht mit Lillian Anderson! Merk dir das!“
„Nein!“, flehte er. „So ist es nicht! Ich schwöre!“
Vom Lärm angelockt kamen ein paar andere Dienstboten auf sie zu.
„Was ist hier los?“, fragte ein älterer Knecht rüde. Mit zusammengekniffenen Augen erfasste er die Szene.
„Dieser Wüstling hat mich unsittlich angefasst“, antworte Lillian ihm schnell.
„Sag, dass das nicht wahr ist!“ Ein Mädchen hatte sich aus der Menge gelöst und blickte mit wütender Miene auf den Mann am Boden. Dieser rappelte sich langsam hoch und wischte sich mit dem Hemdsärmel das Blut von seiner aufgeplatzten Lippe.
„Nein, Helen, natürlich nicht! Ich dachte, dass du es wärst. Ich meine, sieh sie dir doch mal an! Sicher, von vorn seid ihr gut zu unterscheiden, aber ich habe sie nur von hinten gesehen. Und sie hat auch noch dein Kleid an!“
Helen musterte erst ihren Verlobten und dann ihre vermeintliche Konkurrentin. Plötzlich huschte ein Ausdruck der Erkenntnis über ihr hübsches Gesicht. Sie hatte andere Augen als Lillian und ihre Haare waren nicht so lockig, aber eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu verleugnen. Auch bei Lillian dämmerte es langsam. Sie brachen in herzliches Gelächter aus und stellten sich einander vor. Die Umstehenden sahen sich verständnislos an. Dann lösten die jungen Frauen die Situation auf. Helen tröstete ihren Verlobten mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, was diesem ein breites, zufriedenes Grinsen entlockte. Nun, wo Lillian sich den vermeintlichen Wüstling genauer ansah, konnte sie wirklich nichts Gefährliches an ihm entdecken. John war ein großer, gutaussehender Bursche mit braunem Haar, das ihm in leichten Wellen in den Nacken fiel. Er hatte ein offenes freundliches Gesicht und stellte sich nun seinerseits vor. Diese turbulenten Ereignisse waren der Auftakt zu einer tiefen Freundschaft zwischen den drei jungen Leuten.
Als sie ihr Tagewerk vollbracht hatten, kehrten sie gemeinsam zum Gesindehaus zurück. Nach dem Abendmahl, welches aus einer schmackhaften Suppe und Brot bestand, gingen sie nach draußen. Dort versammelte sich allabendlich die einfache Dienerschaft an einem Feuer, um das Neueste auszutauschen. Der Zwischenfall am Brunnen hatte schon die Runde gemacht und der arme John wurde zum Objekt des allgemeinen Spottes. Jeder versorgte ihn mit gut gemeinten Ratschlägen, wie er so etwas in Zukunft vermeiden könnte. Sie reichten von: 'Macht doch eine Parole aus!' bis zu 'Mal ihr ein Kreuz über Brust und Hintern, damit du sie von vorn und von hinten erkennst!'
Er ließ es geduldig über sich ergehen. Dann blieb die ganze Aufmerksamkeit an der neuen Magd hängen und Lillian musste unzählige Fragen beantworten. Als sie erwähnte, womit sie früher ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, wurde der allgemeine Wunsch nach einer Kostprobe ihres erzählerischen Talentes laut. Die junge Frau kam diesem Wunsch nur zu gern nach und erzählte eine ihrer Lieblingsgeschichten. Als sie geendet hatte und Held und Heldin nach bestandenen Prüfungen einander in den Armen lagen, war es zunächst mucksmäuschenstill. Nur das leise Knacken des fast heruntergebrannten Feuers durchbrach diese Stille. Dann, nach und nach, kamen die Zuhörer in die Wirklichkeit zurück.
„Du bist unglaublich!“, sagte der ältere Knecht vom Brunnen.
Lillian hatte schon erfahren, dass er bei allen, die im Gesindehaus lebten, hohes Ansehen genoss. Er hieß Simon und war so etwas wie der gestrenge gute Geist im Haus. Jetzt aber glänzten seine Augen wie die eines kleinen Kindes, das gerade sein erstes Stück Zuckerzeug verputzt hatte. Dann kehrten auch alle anderen wieder in die Realität zurück und klatschten begeistert in die Hände. Lillian hatte schon oft derartige Reaktionen auf ihre Erzählungen hin erlebt und doch machte sie die Gewissheit, anderen Freude gebracht zu haben, immer wieder selbst glücklich.
„Wie viele solcher Geschichten kennst du?“, fragte Ellen ganz aufgeregt.
„So viele, wie ihr wollt. Ich denke mir immer neue aus. Mit David habe ich oft ein Spiel gespielt. Er hat mir Figuren, Orte oder ein paar Handlungsteile seiner Wunschgeschichte genannt und ich musste daraus etwas Spannendes entwickeln.“
David hatte so einige Wetteinsätze verloren, nachdem er sich siegesgewiss völlig verrückte Vorlagen für Lillian ausgedacht hatte.
„Oh, das will ich erleben! Würdest du dieses Spiel mit uns auch machen?“, fragte ein Küchenmädchen sofort.
„Ja gern. Wann immer ihr wollt.“
„Schön, schön. Aber erst morgen! Es ist spät und die Herrschaft bezahlt uns nicht für schlechte Arbeit“, sagte Simon in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch duldete.
Man verabredete sich für den nächsten Abend, um das Experiment durchzuführen. Alle gingen zu Bett. Lillian fiel schnell, und so zufrieden wie lange nicht, in einen traumlosen Schlaf.
Kurz nach Sonnenaufgang ging sie an ihre Arbeit. Flink und gutgelaunt bewältigte sie die ihr gestellten Aufgaben. Um die Mittagszeit traf sie sich mit Helen zu einer kleinen Brotzeit. Sie setzten sich ins Gras, direkt neben die zum Bleichen ausgebreitete Wäsche, und genossen die warme Frühlingssonne.
„Wann wollt ihr eigentlich heiraten?“, fragte Lillian ihre neue Freundin.
„Nun, wollen würden wir sofort. John meint, dass wir in ein paar Jahren das nötige Geld zusammenhaben, um uns irgendwo ein Stück Land zu pachten. Bis dahin müssen wir uns halt noch in Geduld üben.“ Sie lächelte etwas wehmütig und blickte ins Leere. Dann riss sie sich aus ihren Träumen und sah zu Lillian. „Hast du dir schon überlegt was du uns heute Abend zum Besten geben willst?“
Diese schüttelte lächelnd den Kopf. „Du weißt doch, ich bekomme erst noch die Zutaten zu meiner Geschichte.“
Helen machte ein ungläubiges Gesicht. „Und das funktioniert wirklich? Ich meine … dir fällt wirklich immer etwas dazu ein?“
„Bis heute schon“, antwortete Lillian mit einem Achselzucken. „Es ist einfach da, verstehst du? Die Geschichten formen sich in meinem Kopf zusammen und ich muss sie nur noch herauslassen. Das war schon immer so. Manchmal, wenn meine Mutter uns eine Gutenachtgeschichte erzählte, habe ich ihr so lange hineingeredet, bis sie schließlich aufgab und mich selbst erzählen ließ.“ Lillian musste lächeln als sie daran zurückdachte.
„Ich glaube, es ist Zeit wieder an die Arbeit zurückzukehren“, stöhnte Helen und erhob sich gequält. „Wir sehen uns dann heute Abend. Ich bin schon sehr gespannt.“
Der Rest des Tages ging rasch vorbei. Als sich alle wieder ums Feuer versammelt hatten und voller Ungeduld auf Lillian blickten, schaute diese immer wieder zum Schloss. Helen hatte ihr gesagt, dass sie etwas später kommen würde, sie die anderen aber deshalb nicht warten lassen sollte. Also blickte sie in die Runde und zeigte auf zwei Männer und drei Mädchen, welche ihr jeweils ein Stichwort für ihre Geschichte geben sollten. Die Ausbeute bestand aus folgenden Worten: Drache, Wunderkraut, Ritter, sprechender Ziegenbock und Diadem. Ihre Zuhörer sahen die junge Frau herausfordernd an, aber im Kopf der Erzählerin bauten sich schon die Bilder zusammen ...
Dann gingen sie gemeinsam mit dem Ritter Rotbart auf die abenteuerliche Reise zur Drachenhöhle, wo er mit Hilfe eines Ziegenbocks, der durch die Wirkung des Wunderkrautes Weisheit und Sprechvermögen erlangt hatte, dem mehrköpfigen Drachen das Diadem entwand, welches er seiner Auserwählten dann zu Füßen legte.
Als alle ihrer Begeisterung Luft machten, stieß auch endlich Helen zu ihnen. „So wie es klingt, hast du das Spiel für heute gewonnen“, sagte sie und streckte ihre müden Beine aus. „Schade, dass ich nichts davon mitbekommen habe.“
Lillian setzte sich zu ihrer Freundin. „Es gibt sicher noch mehr Gelegenheiten für Geschichten. Aber wo bist du so lange gewesen?“
Die Befragte stieß einen verächtlichen Laut aus. „Unser ach so edler Thronfolger hat mal wieder beschlossen, mit seinen noch edleren Freunden ein kleines Fest in seinen Privatgemächern zu feiern. Sie trinken eine Karaffe Branntwein nach der anderen. Und jedes Mal, wenn man mit einer neuen den Raum betritt, werden sie aufdringlicher, die feinen Gäste. Und der junge Herr sagt kein Wort. Eine widerliche Bagage!“ Helen war rot angelaufen vor Zorn.
„Und König Aron? Sagt er nichts zu den Ausschweifungen seines Sohnes? Bei allem was ich über ihn gehört habe, wird er wegen seiner Weisheit, Gerechtigkeit und Güte bis über die Landesgrenzen hinaus geschätzt.“ Lillian sah ihr Gegenüber fragend an.
„Nun, Simon ist hier schon seit fast dreißig Jahren in Stellung. Er sagt, dass Raven bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr allen Anschein erweckte, einmal in die Fußabdrücke seines Vaters zu treten und zu seinem würdigen Nachfolger heranzuwachsen. Aber als unsere arme Königin an den Folgen eines Unfalls starb, hat er sich über Nacht in den Schatten seiner selbst verwandelt. Das ist jetzt etwa zehn Jahre her. Er und die Königin standen sich wohl sehr nahe. Aber bei allem Mitgefühl, König Aron hat seine Frau, nach dem was erzählt wird, auch sehr geliebt und musste ebenfalls mit ihrem Tod klarkommen. Statt dem Vater in seiner Trauer beizustehen, schien Raven sich regelrecht von ihm abzuwenden. Ganz so, als gäbe er ihm die Schuld an dem Unglück.“
Lillian blickte auf. „Und ... hatte er? Ich meine Schuld an dem Unglück?“
Helen schüttelte den Kopf. „Ich war noch sehr jung damals, aber ich weiß, dass er zu der Zeit gar nicht bei Hofe weilte. Wichtige Verhandlungen hielten ihn für mehrere Wochen im Nachbarreich fest.“
Sie schwiegen einen Moment.
„Was ist eigentlich genau passiert?“, wollte Lillian wissen.
„Nun, man erzählt sich, dass die Königin, durch eine Krankheit geschwächt, unglücklich gefallen sein soll. Genaueres ist nie bekannt geworden. Der König hat lange getrauert, sich dann aber wieder in seine Pflichten gestürzt. Er hat nie wieder geheiratet, obwohl es an willigen Damen sicher nicht mangelte. Er ist auch jetzt noch ein beeindruckender Mann. Raven sieht ihm sehr ähnlich. Nur Mund und Nase hat er wohl von seiner Mutter. Aber sein Wesen gleicht eher dem eines Gespenstes, das zu viel trinkt. Manchmal kann man sich wirklich fürchten, wenn er mit diesem leeren Blick in seinen Gemächern sitzt.“ Sie gähnte herzhaft. „Lass uns jetzt zu Bett gehen! Der Tag morgen wird wieder lang.“
In dieser Nacht konnte Lillian lange nicht einschlafen. Sie fragte sich, ob nicht irgendein Geheimnis hinter dieser ganzen Geschichte steckte. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag Emma darauf anzusprechen. Wenn eine darüber etwas wusste, dann sicher sie.
Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Emma brach zwar fast in Tränen aus, als sie ihr vorschwärmte, was für ein netter, anständiger Bursche Raven bis zu diesem Unglück doch gewesen war und dass es einem das Herz bräche, ihn so verändert zu sehen, aber auch sie hatte bis heute nicht mehr über die genauen Geschehnisse in Erfahrung bringen können. Diese Tatsache bestärkte Lillian in der Annahme, dass an ihrer Vermutung etwas dran war. Hatte am Ende der junge Herr etwas mit dem Unfall zu tun? Warum dann aber sein Bruch mit dem Vater? Nein, es schien etwas komplizierter zu sein. Aber es ging sie im Grunde auch nichts an. Sie hatte genug damit zu tun, ihr eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Die nächsten Wochen verliefen in geordneten Bahnen. Mittlerweile fand sich Lillian in allen Arbeits- und Wirtschaftsräumen gut zurecht. Zu ihrem Bedauern war sie allerdings noch nicht bis zu den Räumen der Herrschaft vorgedrungen. Zu diesem Flügel des Schlosses hatte im Allgemeinen nur das höhere Dienstpersonal Zutritt. Die Kammerdiener und Zofen waren auch direkt im Gebäude untergebracht, um so rund um die Uhr für die Herrschaft da zu sein. Nur ein paar der Küchenmägde durften gelegentlich diese Räume betreten, um Speisen und Getränke aufzutragen. Zu denen gehörte seit Neuestem auch Helen. Da sie den Zofen von Lillian und ihren Erzählungen am Feuer vorgeschwärmt hatte, war die allabendliche Runde von Zuhörern inzwischen weiter angewachsen. Auch Clark, einer der Kammerdiener des Königs, gehörte nun zu Lillians Bewunderern. Seit Wochen nutzte er jede Gelegenheit, um dabei zu sein und ging immer als einer der Letzten.
So auch heute. Lillian bemerkte nicht, wie sie von seinen gierigen Blicken regelrecht ausgezogen wurde. In seinen Gedanken erzählte sie ihm etwas anderes als ihre unschuldigen Geschichten. Da flüsterte sie ihm leise schmutzige Worte ins Ohr. Bei dieser Vorstellung reagierte sein Körper heftig und er kreuzte die Arme rasch über seinem Schoß, als er das eindeutige Ziehen in seinen Lenden spürte. Er wollte sie haben. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass eine einfache Magd ihn zurückwies, zur Not mit Gewalt!