Читать книгу Die Erzählerin von Arden - Carola Schierz - Страница 5
Raven
ОглавлениеEs war inzwischen Sommer geworden. Die Nächte waren angenehm warm und der Wind wehte den schweren Duft der Felder herüber. Alle genossen den verdienten Feierabend und unterhielten sich über dies und das. Das leise Gewirr der Stimmen hörte man bis zum Schloss.
Raven saß in seinem Schlafgemach im Dunkeln. Er hielt ein Glas starken Weines in der Hand, den Blick ins Leere gerichtet. Die letzte Nacht hatte er mit seinen sogenannten Freunden durchzecht. Keiner von ihnen bedeutete ihm auch nur das Geringste, doch sie halfen ihm dabei, die Schatten der Vergangenheit aus seinem Kopf zu vertreiben.
Sie - und der Branntwein. Wie Dämonen kamen die Erinnerungen Nacht für Nacht in sein Hirn. Er wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal durchgeschlafen hatte, ohne sich zuvor besinnungslos zu trinken. So wie gestern. Raven war heute gegen Mittag mit einem Brummschädel zu sich gekommen und hatte sich etwas zu essen bringen lassen. Seine Gemächer hatte er nicht verlassen, aus Angst, seinem Vater über den Weg zu laufen. Er konnte dessen vorwurfsvolle, manchmal sogar angewiderte Blicke nicht ertragen. Manchmal, wenn Raven großes Glück hatte, war eine Spur von Besorgnis in der Mimik seines Vaters zu erkennen. Natürlich konnte der große, immer pflichtbewusste König kein Verständnis für die Lebensweise seines Sohnes aufbringen. Wie sollte er auch. Raven wusste als Einziger über die genauen Ereignisse von damals Bescheid. Doch er hatte der Mutter versprochen zu schweigen, um den König zu schonen und nicht an seinen Pflichten zu hindern. Sie hatte sicher nicht geahnt, welche Last sie ihm damit aufbürdete. Immer wieder fragte er sich, was gewesen wäre, wenn er sein Versprechen gleich zu Beginn der ganzen Schwierigkeiten gebrochen hätte. Sicher, er war damals noch keine fünfzehn. Noch nicht erwachsen, aber eben auch kein Kind mehr. Er hatte eine falsche Entscheidung getroffen, als es darauf ankam. Wie sollte er je daran denken, die Verantwortung für ein ganzes Königreich zu übernehmen? Lange hatte Raven gehofft, der Vater würde sich zu einer neuen Ehe durchringen, um so noch einen geeigneteren Thronfolger zu zeugen. Aber das war nicht geschehen.
Manchmal suchte der Prinz in den bereitwillig offenen Armen einer Frau sein Vergessen. Besonders Ester, die Tochter des Schreibers, hatte ein Faible für ihn. Aber der kurze Rausch hielt nie lange an und er machte sich danach immer Gewissensbisse, das Mädchen ausgenutzt zu haben. Natürlich hatte er ihr eindeutig klargemacht, dass ihre Verbindung in keiner Weise von romantischer Natur war, noch je sein würde. Doch man konnte nie wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging.
Etwas riss ihn aus seinen Gedanken. Vom Gesindehaus drang Lachen zu ihm herein und starker Neid erfüllte seine Brust. Plötzlich wurde es ihm zu eng und zu stickig im Zimmer. Raven beschloss, seinen Wein auf dem Dach zu trinken. Dort gab es eine flache begehbare Stelle, die er schon als kleiner Junge gern aufgesucht hatte. Oben angekommen lehnte er sich an eine Dachschräge und sah in den Sternenhimmel.
Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass man das Treiben vor dem Gesindehaus hier noch deutlicher vernehmen konnte. In der Hoffnung, etwas Ablenkung zu finden, hörte er einfach zu ...
„Lillian bitte, du hast schon seit fast einer Woche keine Geschichte mehr erzählt. Du bist doch wieder gesund und deine Stimme ist auch nicht mehr rau.“
Lillian hatte sich vor ein paar Tagen im Regen erkältet. Leichtes Fieber und eine starke Heiserkeit waren die Folge. Sie war froh gewesen, nach dem schweren Tagewerk gleich ins Bett gehen zu können und darum dem Beisammensein ferngeblieben. Sie erzählte zwar auch sonst nicht jeden Abend ihre Geschichten, aber so lange mussten die Freunde noch nie darauf verzichten.
„Schon gut, ich tue es ja schon!“, lachte sie. „Aber heute darf ich die Geschichte selbst auswählen.“
Dieses Recht gestanden ihr alle bereitwillig zu.
„Diese Geschichte ist etwas länger und wir werden sie heute nicht schaffen, aber ich mag sie sehr und ihr werdet sie sicher auch mögen.“
Sie begann zu erzählen und alle verfolgten gespannt die Abenteuer des Bauernburschen, der es durch Beharrlichkeit und Selbstbewusstsein zu Wohlstand und Ansehen brachte.
Als Raven ihre Stimme hörte, zusammen mit der Art wie sie erzählte, fühlte er sich wie damals als kleiner Junge. Seine Mutter war mit der gleichen Gabe gesegnet gewesen und selbst der König gesellte sich, wann immer er konnte zu ihnen, um seiner Frau zuzuhören. Genau wie dieses Mädchen dort unten hatte sie es geschafft, die Gegenwart vergessen zu lassen. Auch auf mancher Gesellschaft bat man um die Gunst ihres Vortrages. Besonders James, der Bruder des Königs, war ihrem Talent verfallen und konnte nie genug davon bekommen. Der Prinz ließ sich ganz auf den Zauber, der von Lillians Stimme ausging, ein und hoffte, sie würde nie aufhören zu reden. Das berauschende Gefühl hielt zu seiner Freude an, als er ihr Versprechen vernahm, morgen weiterzuerzählen. Mit der Aussicht, dieses Erlebnis am nächsten Tag erneut haben zu dürfen, drifteten seine Gedanken zum bereits Gehörten zurück, bis er an Ort und Stelle in einen festen Schlaf fiel ...
Raven erwachte bei Sonnenaufgang und fühlte sich so gut wie ewig nicht. Trotz der Schmerzen im Rücken, welche von der harten Dachschräge herrührten, fühlte er sich sonderbar leicht. Er stellte sich aufrecht und blickte über das Land. Eines Tages sollte er darüber wachen und herrschen. Sofort spürte er den schon vertrauten Druck in der Brust. Seine Dämonen waren nach Hause zurückgekehrt.
Als Lillian an diesem Tag mit ihrer Arbeit beginnen wollte, wartete Emma schon am Dienstboteneingang. Ihrem Gesicht nach zu urteilen war sie kurz vor dem Platzen, wenn sie die guten Nachrichten nicht sofort loswurde, die sie offensichtlich hatte. „Endlich! Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr. Ich habe großartige Neuigkeiten für dich. Eine der Küchenmägde hat gekündigt. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass du ihre Stelle bekommst. Ist doch besser als putzen und Wäsche waschen. Und du bist die ganze Zeit in Helens und meiner Nähe. Du freust dich doch, oder?“
Lillian, etwas überrumpelt von diesem frühmorgendlichen Überfall, musste sich erst einmal sammeln. Sie hatte schon lange gehofft, irgendwann zum Küchenpersonal wechseln zu dürfen, denn diese Arbeit war nicht ganz so schwer wie die der einfachen Mägde.
„Natürlich freue ich mich!“ Sie nahm die kleine runde Frau in den Arm und presste sie fest an sich. Emma war zufrieden und sie betraten gemeinsam Lillians neue Wirkungsstätte. Sie kannte die Räume natürlich schon, sah nun aber alles mit anderen Augen. Die Schlossküche war ein großer Raum mit einem hohen Kreuzgewölbe. Die weiß geschlämmten Wände hatten hier und da ein paar Rußspuren von den mit Holz beheizten Herdstellen. Überall standen Kochgeschirr, Gewürzdosen, Bottiche mit Mehl und was man sonst noch so braucht, um für das leibliche Wohl der Herrschaft und deren Hofstaat zu sorgen. Von der Decke hingen Pfannen und Kellen in allen Größen, so dass man an manchen Orten Gefahr lief, sich zu stoßen. Aber laut Helen gewöhnte man sich schnell daran, an den gefährlichsten Stellen den Kopf einzuziehen.
Als Erstes ging es ans Brot backen. Eine sehr kraftraubende Angelegenheit, wie Lillian feststellen musste. Auch hier hatte Helen einen guten Rat. „Denk einfach an irgendetwas Schlechtes oder an jemanden, der dich wütend macht. Dann lass die angestaute Wut am Teig aus. Das setzt ungeahnte Kräfte frei, glaub mir!“
Bei Lillian blieb das versprochene Wunder leider aus und sie war froh, als es ans Gemüse schneiden ging. Nach dem Mittag kam Helen mit einem großen runden Weidenkorb auf sie zu.„Komm mit in die heiligen Hallen! Wir müssen das schmutzige Geschirr der Herrschaft holen.“
Lillians Herz hüpfte vor Freude. „Du meinst, ich sehe jetzt die Privaträume unseres Königs?“
„Nein, tut mir leid, Liebes, aber es sind zumindest die Privatkorridore. Das Geschirr wird von den Dienern der Herrschaft in einer Ecke des Flures abgestellt. Da packen wir es in den Korb und verschwinden wieder. Aber leg vorher deine schmutzige Schürze ab! Die Herrschaft will sicher keine Fettspritzer sehen, sollte sie uns über den Weg laufen.“ Sogleich lebte Lillian wieder auf. „Du meinst das könnte passieren?“
„Nun, einmal im Monat vielleicht.“
Der frische Keim der Hoffnung zog sich jäh wieder in seine Wurzeln zurück. Zügig stieg Lillian hinter Helen die Treppe hinauf. Die Korridore schienen endlos lang zu sein. Die gewölbte Decke über ihnen war mit zahlreichen, handgemalten Deckengemälden verziert, auf denen ausschließlich Jagdszenen zu sehen waren. Durch eine Fensterfront, mit Blick auf den Innenhof des Gebäudes, fielen die Strahlen der frühen Nachmittagssonne, so dass man die kleinen Staubpartikelchen darin tanzen sah. Unter ihren Schuhen spürte Lillian den roten dicken Teppich einsinken.
„Hier ist es“, sagte Helen. Dort stand, durch einen schweren Vorhang verdeckt, ein Tisch mit einer beachtlichen Anzahl Tassen und Tellern. Sie luden alles in den Korb und machten sich auf den Rückweg. Da öffnete sich plötzlich eine der großen Eichentüren. Zu ihrer Enttäuschung musste Lillian feststellen, dass es sich weder um König Aron, noch um seinen Sohn handelte, sondern um Clark, den Kammerdiener seiner Majestät, der ihnen den Weg versperrte.
Mit einem herablassenden Lächeln trat er vor sie hin. „Oh, unsere begnadete Erzählerin! Welch angenehme Überraschung dich hier zu sehen.“
Das Mädchen musterte ihr Gegenüber kurz. Mit seinen blonden, ordentlich zusammengebundenen Haaren und der gutsitzenden, sauberen Dienstuniform, war er ein durchaus ansehnlicher Mann. Aber irgendetwas an ihm missfiel ihr. Seinen Augen fehlte jegliche Wärme und Güte.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Clark und ich bin ein großer Freund deiner Kunst. Ich hoffe, du gestattest mir, mich heute Abend erneut zu euch zu gesellen?“
Lillian antwortete zögernd aber freundlich: „Natürlich! Es darf schließlich jeder kommen, der will. Und vielen Dank für das freundliche Kompliment.“
Seine kalten Augen musterten sie und sie fühlte sich unwohl dabei.
„Oh, das ist nur die reine Wahrheit“, säuselte er. „Einen schönen Tag noch, die Damen!“
Er sah ihnen süffisant lächelnd nach. 'Wäre doch gelacht, wenn ich nicht schon heute Nacht im weichen Heu bei dieser kleinen Hexe liegen würde …'
Helen schüttelte sich übertrieben. „Da hast du dir ja einen tollen Verehrer an Land gezogen. Immer wenn ich ihm in die Augen sehe, ist mir so, als würde mir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gießen. Lass dich lieber auf nichts mit dem ein.“
Lillian machte große Augen. „Wo denkst du nur hin. Das würde mir nicht mal im Traum einfallen!“
Helen zuckte mit einer Schulter. „Dann ist es ja gut.“