Читать книгу Ardantica - Carolin A. Steinert - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1 - Ohne Erinnerung
Leyla rieb sich über die Augen und betrachtete abschätzig ihr Spiegelbild. Sie sah müde aus. Und das war sie auch. Nicht etwa, weil sie zu wenig geschlafen hatte. Nein, es waren die Ereignisse der vergangenen Wochen, die ihr zu schaffen machten – oder besser, die möglichen Ereignisse, denn: Sie konnte sich an absolut nichts erinnern.
Sie seufzte leise und griff nach ihrer Haarbürste, um wenigstens etwas ansehnlicher auszusehen. Ihr zerzaustes rotes Haar war deutlich länger, als sie es sonst zu tragen pflegte, aber es gefiel ihr eigentlich ganz gut und sie würde es wohl erst einmal so lassen. Außerdem war die Haarlänge das geringste Problem, das sie aktuell hatte. Sie starrte auf die Bürste und ihre Gedanken drifteten wieder ab. Was war nur geschehen?
Es war jetzt vier Tage her, dass sie in ihrer kleinen Wohnung in Berlin aufgewacht war – ohne Erinnerung an die vergangenen dreieinhalb Monate. Dreieinhalb Monate! Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Sie konnte sich an den gesamten Sommer nicht erinnern. Nicht einmal an ihren Geburtstag. Am 13. August war sie morgens in ihrem Zimmer erwacht und hatte gedacht, es wäre Anfang Mai. Bis ein Blick auf ihren digitalen Kalender sie eines Besseren belehrt hatte.
Nachdem sie den Gedächtnisverlust registriert hatte, war augenblicklich Panik über sie hereingebrochen. Wie immer war sie sogleich alle Möglichkeiten durchgegangen, die dafür verantwortlich sein konnten. Aber es gab keine rationale Erklärung für ihren Zustand.
Sicher hatte sie keinen schweren Unfall gehabt, sonst hätte sie im Krankenhaus aufwachen müssen. Das hatte Majik jedenfalls gemeint.
Dass ihr bester Freund sich ebenfalls an nichts erinnern konnte, ließ vermuten, dass sie beide zusammen unterwegs gewesen sein mussten und dasselbe erlebt hatten. Doch auch ein gemeinsames Nachdenken hatte nicht dabei geholfen, die Ereignisse der letzten Wochen zu rekonstruieren. Majik hatte sein Bestes getan, um sie aufzumuntern und ihr Mut zuzusprechen.
»Hey«, hatte er geflüstert, als sie vor Verzweiflung in Tränen ausgebrochen war. »Das wird schon wieder. Bestimmt sind wir einfach nur mit den Köpfen zusammengestoßen und haben deshalb eine temporäre Gedächtnislücke. Das ändert sich in ein paar Stunden wieder. Und wenn nicht, können wir ja einen Termin beim, äh …«
»Neurologen.«
»Genau, bei dem - machen.«
Sie hatte wenig beruhigt genickt. Tatsächlich hatten sowohl Majik als auch sie eine kleine Beule am Kopf gehabt – und wahnsinnige Kopfschmerzen. Doch sie hatte stark bezweifelt, dass so ein kleines Ding die Ursache für eine solch große Gedächtnislücke sein konnte.
So sehr sie sich um Ruhe bemüht hatte, die Tränen waren ihr weiter unkontrolliert über das Gesicht gelaufen und Majik hatte daraufhin kurzerhand Leylas Sachen zusammengepackt und beschlossen, dass sie die restlichen Semesterferien in ihrer Heimat Ilmenau, bei ihren Familien, verbringen würden. Grübeln, so hatte er gemeint, konnten sie dort genauso gut wie hier und der Abstand würde ihr sicherlich guttun.
Und da war sie also und konnte nun eines sagen: Weder der zeitliche noch der räumliche Abstand bewirkten irgendetwas. Ebenso wenig lenkte die Familie sie von den trüben Gedanken ab.
Einen Termin beim Neurologen hatte Leyla auch nicht bekommen. Die gestresste Arzthelferin hatte wohl nur verstanden, dass Leyla Angst wegen irgendwelcher Erinnerungen verspürte und hatte sie deshalb recht unfreundlich an einen Psychiater verweisen wollen. Aus Furcht, für verrückt erklärt zu werden, hatte Leyla daraufhin beschlossen, niemanden mehr von alledem zu erzählen.
Seufzend legte sie die Bürste wieder weg. Immerhin musste sie sich keine Sorgen machen, dass sie, dank der spontanen Ferien in der Heimat, Ärger mit der Arbeit bekommen würde, denn sie war entlassen worden. Sie konnte es nicht begreifen.
Nachdem sie Kanyo – ihren ehemaligen Chef im Café – nach dem Ausbleiben der Gehaltszahlung angerufen hatte, hatte dieser ihr ziemlich übellaunig erklärt, dass Zuverlässigkeit und Anwesenheit Grundvoraussetzungen für einen Job und Bezahlung bei ihm wären. Nur, wenn jemand zuverlässig und arbeitsam war, dann Leyla.
Also was hatte sie daran gehindert, zur Arbeit zu gehen? Zumindest zu der im Café, denn ihren Studentenjob hatte sie noch und – was sie noch mehr verwirrte – beste Noten im Studium des zweiten Semesters. Sie musste also da gewesen sein …
Sie zuckte mit den Achseln und warf noch einmal einen Blick in den kleinen Spiegel. Sie war blasser als sonst – was an und für sich schon eine Kunst war – und die Sommersprossen, die jeden Zentimeter ihrer Haut bedeckten, waren dadurch noch deutlicher zu sehen. Ihre Mutter meinte, Leyla arbeite zu viel. Doch das war es nicht. Es war dieses schwarze Loch in ihren Gedanken. Und diese merkwürdigen Träume, die sie nachts schweißgebadet aus dem Schlaf rissen und an die sie sich am nächsten Morgen doch kaum noch erinnern konnte.
Und dann kam noch diese Stimme hinzu. Wenn Leyla an die dachte, lief es ihr kalt über den Rücken, ihr Herz begann zu rasen und sie hatte das Gefühl, eine eisige Hand presste ihren Brustkorb zusammen.
Das erste Mal hatte sie die Stimme direkt nach dem Aufwachen in ihrer Berliner Wohnung vernommen. Ein sanfter Lufthauch war ihr durch die Haare gefahren und jemand hatte ihren Namen in ihr Ohr gewispert. Bald darauf hatte sie weitere Worte vernommen, die irgendetwas in ihr auslösten und ihre tiefe Unruhe verstärkten.
»Leyla. Karinaki. Leyla? Obsidian! Hilfe. Erinnere dich.«
Eines stand damit fest: Jemand wusste, dass sie etwas Wichtiges vergessen hatte. Am Anfang hatte sie sogar gedacht, es wäre ihr Unterbewusstsein gewesen, das ihr Hinweise zuflüsterte. Doch das war absurd, die Stimme war männlich und außerdem war Leyla sich ganz und gar sicher, dass sie die Stimme nicht nur in ihrem Kopf hörte, denn tatsächlich war sie verstummt, sobald Leyla sich die Ohren zugehalten hatte.
Die Stimme war immer schwächer geworden, leiser. Schon als Leyla noch in Berlin gewesen war. Seit ihrer Ankunft in Ilmenau hatte sie sie nicht ein einziges Mal gehört, den Lufthauch nicht ein einziges Mal gespürt. Tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass sich das auch nicht mehr ändern würde. Selbst dann nicht, wenn sie zurück nach Berlin fuhr. Die unheimliche Luftstimme war verstummt. Und aus irgendeinem Grund machte ihr das furchtbare Angst. Mehr noch als die Existenz der Stimme selbst.
Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken. Sie hörte Stimmen unten im Flur. Kurz darauf erklangen Schritte auf der Treppe und jemand riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Obwohl sie damit gerechnet hatte, zuckte sie zusammen. Dann drehte sie sich um. Majik stand dort, lehnte sich lässig an den Türrahmen und strahlte sie an. Doch sein Lächeln verblasste, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
»Hey«, begrüßte er sie und trat nun vollends ein. »Was ist los? Du wirkst so, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen. So schlimm schaue ich doch nicht aus.« Er lachte erneut, doch als sie keine Miene verzog, seufzte er. Er wusste schließlich genau, was los war.
»Majik«, meinte sie tadelnd und versuchte, das schwarze Loch in ihren Gedanken zu verdrängen. »Du hast nicht einmal angeklopft.« Sie gab sich Mühe, ihrer Stimme einen selbstsicheren Klang zu verleihen und zu ihrer Überraschung gelang ihr das. Er grinste.
»Ich bin davon ausgegangen, dass man kurz vor Mittag nicht mehr anklopfen muss«, meinte er zwinkernd, dann wurde sein Blick ernst und er musterte sie durchdringend mit seinen braunen Augen. Sie sah ihn bedeutungsvoll an, doch er sagte nichts, zuckte nur mit den Schultern. Er gab vor, den Erinnerungsverlust ziemlich leicht zu nehmen. Doch sie wusste, dass er in Wahrheit ebenfalls Angst hatte. Er wollte es nur nicht zugeben. Verdrängen war schließlich einfach und der einfachste Weg war Majik bekanntlich am liebsten.
»Sprich mit mir«, forderte er nach einer Weile des Schweigens.
»Das ist doch sonderbar, Majik! Unsere Erinnerungen, diese verrückten Träume, diese Stimme, die ich gehört habe.«
Sie betonte den letzten Teil, wohl wissend, dass er die Stimme nicht vernommen hatte, dass er nicht davon träumte und wohl wissend, dass er annahm, ihre Psyche würde ihr aufgrund der seelischen Belastung einen Streich spielen.
»Kleines«, sagte er fast liebevoll und setzte sich auf ihr Bett. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du den Studiengang wechseln möchtest.«
»Was?«, fragte sie, vollkommen aus dem Konzept aufgrund des abrupten Themenwechsels – zumal sie garantiert nicht vorhatte, das Fach zu wechseln.
»Na, offensichtlich von Mathe zu Kunst. Du scheinst darauf hinzuarbeiten.«
Perplex starrte sie ihn an und er erläuterte seine Gedanken.
»Bisher warst du doch immer die Rationale. Die mit den wissenschaftlichen Antworten und den logischen Lösungswegen. Und ich, ich war das kreative Genie, der Fantast.« Er grinste breit. »Und plötzlich willst du mir meinen Ruf streitig machen? Gib es zu, du willst ein verrückter Künstler werden, im frenetischen Jubel baden und deiner Fantasie freien Lauf lassen. Aber das akzeptiere ich nicht.«
Er wollte sie aufmuntern, das wusste sie. Und obwohl es nicht klappte, tat sie so, als ob, machte einen Satz nach vorn, griff sich ein Kissen und warf es nach ihm. Er duckte sich, packte sie, zog sie auf das Bett und begann, sie zu kitzeln.
»Nicht! Nein, aufhören!«, rief sie und prustete vor Lachen.
»Gib die Kreativität wieder her, ich will meine Ideen zurück«, forderte er grinsend und machte keine Anstalten, mit dem Kitzeln aufzuhören. »Ich habe ein cooles Irgendwas notiert und muss es mit majikschem Input füllen.«
»Majikscher Input? Cooles Irgendwas?«, sagte sie lachend.
Er hörte auf mit dem Kitzeln und sie holte tief Luft. Irgendwie fühlte sie sich jetzt besser. Sie sah ihn an, er schien mit einem Mal nachdenklich.
»Ja. Ich muss eine gute Idee gehabt haben. Aber ich habe bisher nur einen Titel aufgeschrieben. Sonst nichts. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Comic oder ein Musikstück werden soll – oder etwas ganz anderes.«
»Und wie lautet dieser wahnsinnig tolle Titel?«
»Ein Riss in der Wirklichkeit.«
Ihr Herz verkrampfte sich. Sie starrte ihn an. Irgendetwas klingelte weit hinten in ihrem Kopf. Sie hatte jedoch keine Gelegenheit, etwas zu sagen, denn von unten ertönte die Stimme ihrer Mutter, die zum Essen rief.
Ruckartig setzte Leyla sich auf und stieß mit ihrem Kopf gegen Majiks.
»Verzeih«, sagte sie erschrocken, doch er lachte.
»Vermutlich machen wir das öfter.« Er zog sie vom Bett, fuhr sich mit der Hand durch die lockigen Haare und räusperte sich: »Nach Ihnen, Madam.«
Er deutete eine leichte Verbeugung an, während er auf Leylas Zimmertür zeigte. Er wollte der Essensaufforderung anscheinend umgehend Folge leisten, was Leyla ihm nicht verübeln konnte, denn es roch schon im ganzen Haus nach dem herrlichen und allseits bekannten Nudelauflauf ihrer Mutter. Rasch liefen sie die Treppe hinunter.
»Ich will den Rand!«, krähte Shara, Leylas kleine Schwester, die bereits am Tisch saß, und fuchtelte dabei wild mit ihrem Besteck in der Luft herum. Majik lachte, schob sich an Leyla vorbei, um geschwind ins Esszimmer zu gelangen, und begann, der Sechsjährigen aufzufüllen.
»Sie sollte warten, bis wir alle sitzen«, tadelte Leyla, die ihm folgte. Doch Majik hörte nicht darauf und begann nun auch, alle anderen Teller zu füllen.
»Das duftet«, schwärmte Leylas Vater, der soeben eintrat, ließ sich auf seinen Platz fallen und nahm dankend den Teller entgegen, den Majik ihm reichte.
»Es stinkt«, rief Leylas Mutter Amanda und kam mit einer großen Schüssel selbstgemachter Roter Grütze aus der Küche, die für den Nachtisch vorgesehen war. »René, wenn du nicht bald aufhörst, unseren Flur mit dem Geruch dieses furchtbaren Lacks zu verpesten …« Sie ließ den Rest der ohnehin leeren Drohung unausgesprochen und setzte sich ebenfalls.
Die Familie Sealak und Majik begannen zu essen und sich ausgelassen zu unterhalten. Nur Leyla sagte nichts. Ihr Kopf tat weh – an der Stelle, an der sie eben mit Majik zusammengestoßen war. Und das führte dazu, dass ihre Gedanken sich natürlich sofort wieder um die Erinnerungslücken drehten. Was hatte Majik eben gesagt? Ein Riss in der Wirklichkeit. Ein Kribbeln in ihrem Magen verriet ihr, dass dieser Satz wichtig war.
Plötzlich lachte Leylas Vater laut auf und schlug Majik anerkennend auf die Schulter. Leyla zuckte zusammen und blickte auf. Ihr war entgangen, wovon das Gespräch handelte. Doch beide Männer grinsten breit.
Sie schüttelte den Kopf und ein kleines Lächeln erschien auf ihren Lippen. Majik gehörte einfach schon so lange zur Familie. Ihre Mutter nannte ihn sogar ihr Zieh-Kind. Er passte auch perfekt zu den Sealaks – mehr als sie selbst, fand Leyla manchmal.
»Und dein Vater?«, fragte René plötzlich. Majiks Mundwinkel zogen sich augenblicklich nach unten.
»Ist gerade in Barcelona.«
»Ich will auch in den Urlaub«, krähte Shara dazwischen. »Wir waren dieses Jahr noch gar nicht am Meer.«
»Ich glaube nicht, dass Herr Dryska im Urlaub ist, Schätzchen«, meinte Amanda und wuschelte der Kleinen durch die roten Locken.
»Aber wann fahren wir ans Meer?«, quengelte Shara weiter.
»Nun«, seufzte Leylas Mutter, »dieses Jahr wohl nicht mehr.« Sie tauschte einen Blick mit Leylas Vater. »Weißt du, Schätzchen …« Sie warf einen vorsichtigen Blick in Leylas Richtung. »Mamis Forschungsauftrag an der Uni ist abgeschlossen. Und jetzt muss Mami sich erst etwas Neues suchen und wieder ein bisschen Geld für einen Urlaub verdienen.«
Leyla nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Majik plötzlich unangenehm berührt auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Über Geld zu reden, war ihm stets unangenehm. Seine Eltern verdienten beide sehr gut und auch wenn das Verhältnis der Dryskas zu ihrem Sohn nicht das beste war, so bezahlten sie ihm doch alles. Vermutlich, um sich selbst ein reines Gewissen zu erkaufen, weil sie nie wirklich Zeit für Majik hatten.
Ihr Blick glitt zu Shara. Leylas kleine Schwester verstand das Argument nicht wirklich, begriff aber, dass es dieses Jahr keinen Strand und kein Meer geben würde. Sie war entsprechend enttäuscht. Leyla tat es leid. Sie selbst hatte zwar weder die Zeit noch den Kopf frei, um in den Urlaub zu fahren, und davon einmal abgesehen war ihr schon länger klar, dass die Arbeit ihrer Mutter hier irgendwann beendet sein würde, aber Shara hatte sich offensichtlich schon darauf gefreut. Die Kleine zog einen Schmollmund.
Leyla wollte gerade ansetzen, etwas Tröstendes zu sagen, als … Sie zuckte zusammen. Es war kein direkter Schmerz, aber irgendetwas war mit – oder besser in – ihrem Kopf geschehen. Es hatte sich wie ein kleiner Blitzschlag angefühlt.
»Leyla, ist alles in Ordnung?«, fragte ihre Mutter und musterte sie eingehend.
Leyla nickte und versuchte, die aufkommende Nervosität zu verbergen. Was war das gewesen? Nur nicht drüber nachdenken. Ablenken. Auf etwas anderes konzentrieren, dachte sie. Wo waren ihre Gedanken noch gleich gewesen? Bei Shara und ihrem Schmollmund. Sie sah genauso aus wie ihr Vater, wenn er enttäuscht war. Irgendetwas pochte unangenehm und verhängnisvoll in Leylas Kopf. Sie kniff die Augen zusammen, ohne weiter auf die Worte ihrer Mutter zu achten.
»Amanda arbeitet als Forscherin im meeresbiologischen Institut der Universität.« Das hatte Majik kürzlich jemandem erzählt. Aber wem? Und warum? Ihr Blick glitt zu Majik und dann zurück zu ihren Eltern und Shara. Die kleine süße Shara mit ihren roten Korkenzieherlöckchen – ganz wie die Mutter.
»Kommt sie eher nach ihrer Mutter oder nach ihrem Vater?« Hitze breitete sich in Leyla aus. Ihr Herz begann, wie wild zu wummern, als ihr das durch den Kopf schoss. Eine Frage, gestellt von der unheimlichen Flüsterstimme und doch so weit weg. Ihre Hände wurden feucht vor Angst. Was hatte das zu bedeuten? Was …
»Leyla? Hörst du überhaupt zu?«, fragte Amanda.
Leyla fuhr zusammen und starrte ihre Mutter an, sah in diese grünen Augen, die die meisten in ihrer Familie hatten. Einige Verwandte ihres Vaters hatten braune Augen. Nur sie hatte weder braune noch grüne Augen. Ihre waren blau mit merkwürdigen goldenen Sprenkeln. Das war doch sonderbar. Warum war ihr das noch nie aufgefallen? Warum war es überhaupt wichtig?
Sie spürte Majiks Präsenz neben sich. Sie waren lange nicht mehr gemeinsam zum Essen hier gewesen. Aber sie hatten vor Kurzem über ihre Familie und Ähnlichkeiten gesprochen, oder? Etwas bahnte sich den Weg aus dem Untergrund ihres Bewusstseins. Keine direkte Erinnerung, eher eine Ahnung, eine Angst.
»Leyla?«, fragte ihre Mutter erneut und klang nun ernsthaft besorgt. Als sie den Kopf drehte, wippten ihre roten Locken.
Jetzt, da Leyla genauer hinsah, fiel ihr auf, dass es ein anderes Rot war als bei ihren eigenen Haaren. Es war, als schärfte sich ihr Blick für all die kleinen Details. Sie sah ihre Eltern an, die Personen, die sie in- und auswendig kannte, und doch wirkten sie plötzlich fremd. Leyla schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Was war los mit ihr?
»Alles okay«, murmelte sie, nahm noch einen Bissen und würgte ihn hinunter.
Ihre Mutter kochte gut. Leyla selbst war da weniger talentiert. Dafür hatte sie ein Faible für Zahlen – wie niemand sonst in der Familie. Das war doch merkwürdig, oder? Irgendeine Stimme flüsterte in ihrem Kopf. Wurde sie wahnsinnig?
»Meeehr«, krähte Shara, hielt ihren Teller hoch und patschte mit ihren Händchen auf den Tisch. »Aber nicht so viel Paprika.« Sie sortierte die Paprika immer aus. Genau wie Leylas Oma und …
»Leyla?«, fragte ihre Mutter erneut, ohne auf Shara zu achten. »Geht es dir nicht gut?«
Leyla ließ die Gabel auf den Teller fallen.
»Schmeckt wieder ausgezeichnet, aber ich kann nicht mehr«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Du gefällst mir nicht, Kind. Nicht, dass du krank wirst. Bei diesem Lackgestank wäre es kein Wunder!«
»Oh, Liebling«, rief René lachend.
Den Rest der Worte hörte Leyla nicht mehr. In ihren Ohren rauschte es.
»Leyla ist halt etwas Besonderes.« Das hatte Majik gesagt. Besonders. Sie dachte über dieses Wort nach. Besonders oder doch vielleicht eher …
»Anders.« Unbewusst hatte sie das letzte Wort laut ausgesprochen.
»Bitte?«, fragte ihr Vater.
»Bin ich …«, stotterte sie, schüttelte den Kopf, um wieder klarer denken zu können, und musterte dann alle am Tisch Sitzenden noch einmal eingehend. Das war doch aberwitzig. Wie kam sie auf so etwas? Sie war halt ein bisschen anders als der Rest der Familie. Besonders eben. So etwas gab es in jeder Familie.
Aber es war zu spät. Der Gedanke hatte sich bereits eingenistet. Die fremde Stimme säuselte in ihrem Kopf und füllte einen winzigen Flecken in dem schwarzen Loch in ihren Erinnerungen. Die Worte brannten ihr auf der Zunge.
»Bist du was?«, fragte ihre Mutter und Leyla konnte die Frage, diese absurde Frage, nicht mehr zurückhalten.
»Eure Tochter?«, platzte es aus ihr heraus.
Perplex starrten Amanda, René und Majik sie an. Nur Shara klopfte fordernd mit ihrem Besteck auf dem Holztisch herum.
»Meeehr«, forderte sie erneut. Doch niemand reagierte.
Die unangenehme Stille zog sich.
»Leyla!«, rief ihre Mutter schließlich fassungslos und ein wenig verwirrt. »Natürlich bist du unsere Tochter! Was ist das für eine Frage?« Sie füllte der drängelnden Shara endlich noch mehr Nudelauflauf auf. Zitterten ihre Hände dabei? Leyla war sich nicht sicher.
»Ich weiß, dass ich eure Tochter bin«, sagte sie leise mit bebender Stimme und senkte den Blick. »Ich meinte, ob ich eure …« Sie zögerte noch einmal, doch jetzt brauchte sie den Gedanken auch nicht mehr zurückzuhalten. »… leibliche Tochter bin.« Sie spürte den bohrenden Blick von Majik, der anscheinend nicht verstand, was hier gerade passierte.
»Leyla«, sagte er leise und fragend.
Sie überging ihn, hob erneut den Blick und sah ihrer Mutter fest in die Augen.
»Bin ich adoptiert?«, fragte sie und ihre Stimme brach bei dem Wort.
»Wie kommst du denn plötzlich auf so etwas?«, fragte ihre Mutter und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
»Was ist adoptiert?«, fragte Shara, während sie sich weiter Nudeln in den Mund schaufelte.
Keiner reagierte. Leyla begann zu zittern. Sie wusste ja selber nicht, wie sie auf diesen Gedanken gekommen war. Er war plötzlich da gewesen. Eingepflanzt und hatte sein Gift versprüht.
»So etwas fragt man doch nicht auf einmal am Tisch«, meinte ihr Vater.
Sie schluckte, ihr wurde schlecht.
»Ihr hättet auch einfach Nein sagen können, wenn …« Sie brach ab. Wieder trat Stille ein.
»Shara, gehst du mal bitte in die Küche und holst ein Paar Schälchen für den Nachtisch?«, fragte Amanda mit belegter Stimme. »Majik hilft dir sicher dabei.«
Aber Majik konnte nicht aufstehen. Leylas Hand hatte sein Bein erwischt und ihre Finger krallten sich mit aller Macht in seinen Oberschenkel.
›Sagt einfach Nein und lacht‹, dachte ihr Gehirn panisch. Doch niemand lachte. Und niemand sagte Nein. Die Stimmung war drückend.
»Wann hattet ihr vor, mir das zu sagen?«, schrie Leyla in die Stille hinein, sprang auf, und bevor jemand reagieren konnte, stürzte sie aus dem Zimmer.
»Leyla!« Sie hörte das Schaben von Stuhlbeinen, Schritte, dann schlug die Haustür hinter ihr zu und sie rannte.
Sie achtete kaum darauf, wohin sie lief. Ihre Füße trugen sie einfach durch die vertrauten Straßen, vorbei an bekannten Häusern, und tappten irgendwann durch Gras, als sie den kleinen Teich erreichte. Vollkommen am Ende ihrer Kräfte ließ sie sich im Schatten der Bäume auf eine Bank fallen.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon mit tränenüberströmtem Gesicht und angezogenen Beinen dagesessen hatte, als sie die Schuhe bemerkte, die offensichtlich schon eine ganze Weile vor ihr standen. Langsam hob sie den Blick, um die dazugehörige Person zu betrachten.
Majik sah ein wenig verlegen auf sie hinunter und hielt ihr ein Paar Sandalen hin. Jetzt erst nahm sie bewusst wahr, dass sie keine Schuhe anhatte, sondern barfuß losgestürmt war. Sie nahm die Sandalen entgegen und zog sie an, während Majik sich zögernd neben ihr auf die Bank fallen ließ. Vorsichtig nahm er sie in den Arm. Sie schluchzte erneut. Er schwieg. Sie mussten eine Ewigkeit so gesessen haben, als er plötzlich das Wort ergriff.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Aber … du darfst nicht … Ich meine, sie sind trotzdem …« Offensichtlich wusste er nicht, wie er es sagen sollte. Also fragte er einfach, schon wieder etwas neugierig: »Wie kommst du nur auf so etwas?«
»Ich, ich weiß nicht«, stammelte sie. »Es war irgendeine Erinnerung.« Sie schwieg und lauschte angespannt in sich hinein, vielleicht waren da noch mehr Erinnerungen? Doch nichts.
»Was für eine Erinnerung?«, fragte er irritiert. Sie zuckte die Schultern.
»Ich weiß es nicht genau. Irgendetwas mit dir. Mit meiner Familie und mit …« Sie brach ab. Ja, mit wem? »Es war, als hätte mir jemand vor Kurzem gesagt, dass es so wäre«, versuchte sie, sich erneut zu erklären. »Vielleicht in den letzten drei Monaten?« Sie sah ihn hilflos an.
»Warum sollte dir jemand so etwas sagen? Ich war es sicher nicht, denn woher sollte ich es wissen? Deine Familie war es offensichtlich auch nicht. Und ein Unbekannter? Woher sollte ein Fremder diese Information haben?«, fragte Majik, der zu bemerken schien, dass ihre Gedanken schon wieder mehr in Richtung Gedächtnisverlust als zu ihrer Familie gingen. Sie hatte sich aufgesetzt und starrte in die Ferne.
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie und kniff die Augen zusammen.
»Aber …«, setzte er an, kam jedoch nicht weit.
»Ich weiß es nicht. Verdammt noch mal, ich weiß es nicht!« Sie schrie fast und er zuckte zusammen. Vermutlich, weil er sie so unbeherrscht überhaupt nicht kannte.
Sie fing sich augenblicklich wieder.
»Tut mir leid«, flüsterte sie und lehnte sich an ihn. »Ich bin … Ich weiß gerade nicht … Was soll ich nur tun?«
Er zögerte kurz.
»Ich weiß, dir wird nicht gefallen, was ich dir jetzt rate, aber du solltest nach Hause gehen und mit deinen Eltern reden. Um mehr zu erfahren«, sagte er und strich ihr halb beruhigend, halb hilflos über den Rücken.
»Aber sie sind doch nicht meine Eltern«, gab Leyla verzweifelt zurück.
»Doch, das sind sie.«
Sie schwieg. Sie wusste, dass er recht hatte. Doch da war noch irgendetwas anderes und ihr wurde bewusst, dass das ihr eigentliches Problem war. Zwar war sie enttäuscht über die jahrelange Heimlichkeit, aber sie liebte ihre Eltern, ob sie nun die leiblichen waren oder nicht, es war nur so, dass …
»Ich weiß nicht, wer ich bin, Majik.«
»Du bist immer noch du selbst. Es ändert sich nichts.«
»Es ändert sich alles!«, meinte sie trotzig und zog die Beine an. »Wo komme ich her?« Ihr Inneres begann, bei dieser Frage unangenehm zu brennen. Kannte sie die Antwort? Sie zögerte.
»Frag sie.«
»Ich kann nicht zurück. Nicht jetzt gleich. Ich muss erst einmal einen klaren Kopf bekommen«, fügte sie dann hinzu, nahm das Taschentuch, das Majik ihr hinhielt und schnäuzte sich geräuschvoll.
»Willst du mit zu mir?«
»Ist das dein Ernst? Katja würde ausflippen, wenn sie davon erfährt.« Majiks Freundin Katja war in Leylas Augen ein echter Albtraum. Ein sehr eifersüchtiger Albtraum. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, aber danke. Ich denke, ich fahre zu Andy. Könntest du …«
»Ja, ich sage ihnen Bescheid.«
»Hast du wenigstens ein bisschen schlafen können?«, fragte Andrea am nächsten Morgen und reichte Leyla eine Tasse Tee.
Sie schälte sich stöhnend aus der mit bunten Animefiguren versehenen Bettwäsche und gähnte. Dann griff sie nach dem Tee und nippte daran. Er roch besser, als er schmeckte.
»Wenig«, meinte sie, verzog das Gesicht und stellte die Tasse auf das kleine Nachttischchen, das voller kleiner Sammelfiguren war. »Ich habe unendlich viel Mist geträumt.«
»Kannst du dich an irgendetwas davon genauer erinnern?«, fragte Andrea und ihre Augen begannen zu leuchten.
In Leyla machte sich prompt die Sorge breit, dass die Freundin ihr Traumdeutungsbuch hervorkramen würde, in dem ungefähr jedes zweite Symbol mit Tod, Verlust und Trauer zu tun hatte. Dennoch antwortete sie.
»Ich weiß nicht mehr viel. Aber es hatte mit merkwürdigen Wesen und ziemlich vielen Steinen zu tun. Schwarzen Steinen.«
»Du und deine Steine«, lachte Andrea. »Vielleicht solltest du noch einmal über deine Studienfachwahl nachdenken.«
»Du bist schon die Zweite, die das vorschlägt«, grummelte Leyla. »Wieso sagst du so etwas?« Plötzlich hellwach richtete sie sich gerade auf.
»Na, wenn du dich so für Steine interessierst, wäre vielleicht Mineralogie für dich die ideale Studienfachwahl. Oder du könntest erst einmal Geoökologie studieren und hängst Mineralogie dann als Master hinten dran. Oder du belegst da Zusatzkurse. Du könntest hierbleiben. Gibt es in Berlin oder Potsdam Kurse zum Thema Mineralogie? Bestimmt nicht.« Andrea geriet richtig in Fahrt. »Oh Leyly, das wäre doch zu cool, wenn wir beide an derselben Uni studieren würden.«
»Stopp«, hielt Leyla sie von weiteren Ausführungen ab. »Ich meinte nicht so ein Wieso. Ich meinte eher wieso im Sinne von wie.«
»Wie, was?« Jetzt war Andrea sichtlich aus dem Konzept gebracht.
»Wie kommst du darauf, dass ich mich für Steine interessieren würde?«, fragte Leyla, ohne auf die Uni-Kurs-Debatte einzugehen.
»Na, der Obsidian«, meinte Andrea, als wäre es selbstverständlich.
»Der Obsidian?«, hakte Leyla vorsichtig nach.
»Muss ich mir Sorgen um dich machen?« Nun war Andrea wirklich irritiert. »Was ist los mit dir? Ich meine den schwarzen Stein, den du mir geschickt hast und den du erst gar nicht herausrücken wolltest. Mein Dozent hat ihn untersucht und herausgefunden, dass es ein Obsidian ist. Und er wollte ihn bei Gelegenheit noch einmal für weitere Untersuchungen haben, weil er der Meinung war, dass ein merkwürdiges organisches Material darin eingeschlossen ist. Du hast doch meinen Brief bekommen?«
»Ja, klar«, lachte Leyla gekünstelt und rieb sich die Stirn. »Der Obsidian. Klar.« Irgendetwas regte sich in ihren Erinnerungen.
Andrea musterte sie eingehend und zog an ihren stark toupierten pinken Haaren.
»Wo hast du den Stein denn nun hergehabt und was war so wichtig daran?«
»Ach, nichts. Ich habe ihn gefunden.«
»Gefunden? Ein vulkanisches Gestein hast du gefunden? In Berlin? Oder doch in Potsdam?«
»In einem Laden.«
»Ach so.« Augenblicklich wich der Spott aus Andreas Stimme. »Und die konnten dir dort nicht sagen, was es für ein Stein ist?«
»Nein. Ich meinte, Majik hat ihn in einem Laden gefunden. Er hat ihn mir geschenkt und wusste nicht mehr, was es ist.«
»Er hat so einen unschön geformten Stein für dich gekauft? Warum hat er keinen genommen, der in Herzform geschliffen war? Oder wenigstens einen Anhänger, damit du immer …«
»Andy!«, unterbrach Leyla sie warnend und begann dann, nachdenklich auf ihrer Lippe zu kauen. Nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass Andrea sie anstarrte.
»Was?«, fragte sie deshalb.
»Irgendwie bist du seltsam. Und das jetzt schon seit Mai«, meinte Andrea und runzelte die Stirn.
»Seltsam?«, lachte Leyla und versuchte, es nicht allzu hysterisch klingen zu lassen.
»Na, erst der Stein und die Dringlichkeit der Untersuchung seiner Herkunft. Dann bist du verschwunden und partout nicht erreichbar. Dir wird gekündigt, weil du nicht zur Arbeit erscheinst – ausgerechnet du? Und jetzt fragst du deine Eltern einfach so spontan am Esstisch, ob du adoptiert bist. Irgendetwas läuft bei dir doch gerade nicht ganz rund. Wo warst du in den letzten Wochen und … Oh, Leyly, das tut mir leid. Ich wollte nicht …«
Sie unterbrach sich. Leyla waren erneut die Tränen in die Augen gestiegen.
»Schon gut, Andy. Es ist derzeit halt alles ein bisschen viel.« Sie wischte die Tränen weg und rang sich ein Lächeln ab.
»Das verstehe ich.«
»Vielleicht hatte Majik gestern recht und ich sollte nach Hause gehen, um mit meinen Eltern zu reden. Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast und ich hier schlafen durfte.«
Sie versuchte, Andreas mitleidsvollem Blick auszuweichen. Sie wollte plötzlich ganz dringend nach Hause. Aber das lag nicht an dem Gespräch mit ihren Eltern, wie sie behauptete und vor dem sie sich fürchtete …
Obsidian, das Wort hallte in ihrem Kopf nach. Das hatte die Stimme doch auch gesagt. Und war da nicht ein schwarzer Stein gewesen, in ihrem Rucksack? Ja! Ein merkwürdig geformter Stein. Sie hatte sich zwar gewundert, doch es war so viel, worüber sie sich Gedanken machte, dass der komische Stein ihr als das unwichtigste aller Puzzleteile erschienen war. Aber vielleicht hatte sie sich geirrt. Vielleicht war er der Schlüssel. Sie musste sich den Stein unbedingt genauer ansehen!
Sie hatte sich wirklich bemüht, das Haus leise zu betreten, doch ihre Mutter hatte Ohren wie ein Luchs. Gerade, als Leyla auf der obersten Stufe des ersten Stockwerks angekommen war und die Hand auf die Türklinke ihres Zimmers legte, rief von unten eine Stimme:
»Leyla, bist du da?«
Leyla unterdrückte ein Fluchen und versuchte trotzdem, leise in ihr Zimmer zu huschen und die Tür zu schließen. Sie war noch nicht bereit für das Gespräch. Vielleicht würde ihre Mutter ja nicht hinaufkommen.
Raschen Schrittes ging sie zum Schreibtisch, an dem ihr Rucksack lehnte. Sie packte ihn, setzte sich auf ihr Bett und begann hektisch, darin zu kramen.
Ein zögerliches Klopfen ließ sie innehalten. Sie sah auf und beobachtete, wie sich die Tür öffnete. Ihre Mutter steckte den Kopf durch den Spalt. Sie wirkte ziemlich mitgenommen, als hätte sie die ganze Nacht geweint. Augenblicklich ging es Leyla wieder schlechter.
»Hast du kurz Zeit?«, fragte Amanda vorsichtig und trat ein.
»Ist gerade etwas ungünstig«, antwortete Leyla halbherzig. Sie griff nach ihrem Notizbuch, das in ihrem Rucksack steckte und öffnete es alibihalber. Sorgsam darauf bedacht, irgendwohin zu starren.
»Wieso habt ihr es mir nie gesagt?«, brach es plötzlich aus ihr heraus. Sie warf das Notizbuch auf das Bett und hob den Blick.
»Es macht doch keinen Unterschied. Du bist unsere Tochter.«
»Ja«, meinte Leyla nach einigem Zögern. »Aber ich weiß nicht, wer ich bin. Wo ich herkomme.«
»Du bist nicht von dort«, echote plötzlich wieder diese Stimme in ihrem Kopf. Sie schauderte. Ihr Blick fiel erneut auf ihr Notizbuch. Die Seiten hatten sich beim Aufprall auf das Bett umgeblättert. Auf der jetzt aufgeschlagenen Seite standen einige Wörter. Leyla hatte sie in den letzten Tagen immer wieder gelesen und versucht, sie zu verstehen. »Du bist nicht von dort.« Ihr Blick blieb an dem Namen hängen. Van Raiken. »Du bist nicht von dort.« Sie keuchte.
»Leyla, Liebes?«, fragte ihre Mutter und kam näher.
»Bitte lass mich einen Moment allein«, stammelte sie. Ihre Mutter nickte resigniert und ging zur Tür. »Ich habe furchtbare Kopfschmerzen«, meinte Leyla, deren Gewissen sich meldete. Sie ertrug es einfach nicht, ihre Mutter so niedergeschlagen zu sehen. »Schlecht geschlafen. Ich komme nachher runter.«
Ihre Mutter nickte erleichtert und Leyla zwang sich zu einem gequälten Lächeln, bevor die Tür hinter Amanda zufiel.
»Du bist nicht von dort.« Van Raiken. Die Stimme und der Name gehörten irgendwie zusammen. Nur wie? Sie kannte keinen van Raiken. Also musste sie herausfinden, wer er war. Hektisch begann Leyla erneut, ihren Rucksack zu durchwühlen. Wo war dieser Stein, von dem Andrea gesprochen hatte? Irgendwo musste er doch sein. Vielleicht hatte sie ihn in Berlin gelassen. Oder weggeworfen? Nein, das garantiert nicht. Hauptsache, sie hatte ihn nicht verloren. Sie war immer mehr davon überzeugt, dass er wichtig war. Da!
Endlich hielt sie den schwarzen Stein in den Händen. Sie begutachtete ihn von allen Seiten. Er sah eigentlich ganz gewöhnlich aus. Dennoch machte sich ein merkwürdiges Kribbeln in ihr breit. Sie nahm den Stein fest in ihre Hand und schloss die Augen, um ihn besser wahrnehmen zu können. Er war ganz glatt – ohne die kleinste Unebenheit. Unheimliche Bilder jagten plötzlich an ihrem inneren Auge vorbei. Schwarzer Stein. Gelbe Augen. Majik. Ein blonder junger Mann, den sie nicht kannte. Oder? Erschrocken riss sie die Augen auf.
»Theodor«, murmelte sie.
Es war Theodors Stimme, die ihr immer wieder etwas ins Ohr geflüstert hatte. Nur war sie sich nicht sicher, wer Theodor war. Sie spürte Hände auf den ihrigen. Eine sonderbare Kraft. Sie begann zu zittern, ihr Herz raste. In ihrem Inneren herrschte das reinste Gefühlschaos.
Sie öffnete die Hand und starrte auf den Stein, als sich mit einem Mal etwas von ihr löste. Sie spürte einen Ruck, der sie zurückschleuderte. Eine unsichtbare Kraft fegte den Stein von ihrer Hand. Er krachte gegen die Wand und zerbarst. Splitter fielen zu Boden. Einen Moment lang war Leyla wie erstarrt.
»Naurénya!«, hauchte sie dann.