Читать книгу Ardantica - Carolin A. Steinert - Страница 8
ОглавлениеKapitel 3 - Neue und alte Gesichter
Eine Hand packte sie, eine andere presste sich auf ihren Mund. Sie gab einen erstickten Laut von sich und begann zu strampeln, um sich zu befreien. Es war überraschend leicht. Sie trat nach hinten. Ihr Fuß erwischte jemanden, der keine Rüstung trug und ein unterdrücktes Stöhnen von sich gab. Überrascht hielt sie inne, dann zappelte sie erneut, um sich zu befreien. Sie hatte es fast geschafft, als eine Stimme in ihr Ohr zischte.
»Pst! Wir müssen hier weg.«
Erneut verharrte sie in der Bewegung. Das war kein Alb. Derjenige hinter ihr ließ sie endlich los. Sie wollte sich umdrehen, doch da trat die Person schon neben sie. Leyla sah die ausgestreckte Hand und spürte kurz darauf ein vorsichtiges Zupfen am Arm. Perplex ließ sie sich mitziehen. Ein paar Meter weiter sank der Unbekannte zu Boden und gab ihr mit wilden Gestiken zu verstehen, dass sie es ihm gleichtun sollte. Zögernd folgte sie seinem Beispiel.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Sie drehte den Kopf. Ihre Augen, die sich immer besser an das Dunkel gewöhnten, machten eine weitere Gestalt am Ende des Ganges aus. Definitiv ein Dunkelalb. Sie presste sich fest gegen den Boden. Wie konnten diese schweren Gestalten sich nur so lautlos bewegen?
»Pst!«
Ein Zischen an ihrer Seite verlangte wieder ihre Aufmerksamkeit. Sie drehte den Kopf vorsichtig zurück und sah, wie der Unbekannte neben ihr durch die leere untere Regalreihe in den nächsten Gang robbte. Sie nahm so leise wie möglich ihren Rucksack ab und folgte ihm. Kaum streckte sie den Kopf in dem neuen Gang aus dem Regal, sah sie, dass sich der Unbekannte bereits erhoben hatte und im Begriff war, den Gang entlang zu hechten.
Schnell kroch sie hervor und zerrte ihren Rucksack durch das Regal. Der Unbekannte drehte sich zu ihr um. Es schien, als wäre er ein wenig ungeduldig. Sie zögerte kurz. Konnte sie ihm trauen? Aber was hatte sie schon für eine Wahl? Alleine würde sie nie aus diesem Labyrinth aus Büchern herausfinden. Also folgte sie ihm.
Ihr Blick war starr auf seinen Rücken geheftet und schon bald begann sie wieder zu keuchen, denn er legte ein zügiges Tempo vor. Flink wie ein Wiesel bewegte er sich, verharrte hin und wieder kurz und änderte dann abrupt die Richtung.
Plötzlich knallte etwas in der Bibliothek. Erschrocken fuhr Leyla zusammen und wandte den Kopf. Als sie wieder nach vorne sah, war der Unbekannte verschwunden. Ohne sie.
Sie machte ein paar Schritte in die Richtung, in die er gelaufen war, gelangte in die nächste Regalreihe und stieß fast mit ihm zusammen.
»Da bist du ja«, wisperte er. »Los.«
Mit absoluter Zielstrebigkeit bewegte er sich weiter. Immer wieder wechselten sie die Richtung, wichen Dunkelalben aus und krochen durch leere Regalreihen, die Leyla so nie entdeckt hätte. Ein Knirschen verriet, dass sie wieder nicht alleine waren. Sie verharrten, lauschten.
Leyla spähte zwischen den Büchern hindurch in den nächsten Gang. Dort bewegte sich etwas. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Der Alb bewegte sich langsam. Er schritt durch den Gang und am Ende der Regalreihe schien er zu zögern. Dann wandte er sich nach rechts und entfernte sich somit von ihr. Kurz darauf verschwand er aus ihrem Sichtfeld. Das leise Knirschen seiner Stiefel verklang. Leyla stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. Sie tippte dem Unbekannten auf die Schulter, um ihm zu bedeuten, dass sie weiterkonnten. Sofort setzte er sich in Bewegung.
Bald erreichten sie eine geschwungene Treppe. Geduckt schlichen sie darauf zu. Bei dem Gedanken, sie hinunter zu gehen, musste Leyla schlucken. Hier gab es keinen Sichtschutz. Ein Alb würde ihre Bewegungen auch in dieser Dunkelheit wahrnehmen können. Die harmlosen Stufen erschienen ihr plötzlich wie eine riesige Herausforderung und sie konnte es kaum fassen, dass sie es tatsächlich ungesehen bis zur letzten Stufe schafften. Sie seufzte erleichtert und sah sich um. Mehr und mehr Erinnerungen kehrten inzwischen zurück. Sie war schon einmal in diesem Teil der Bibliothek gewesen, war schon einmal hieraus geflohen – mit Theodors Hilfe.
Doch das zerbrochene Fenster war verschwunden. Das dachte Leyla zumindest für einen kurzen Augenblick. Dann bewegte der Unbekannte ein dunkles, mit schwarz glänzendem Lack bestrichenes Holzpaneel zur Seite, hinter dem sich das Fenster offenbarte. Sie krabbelten hinaus und befanden sich auf der Rückseite der Universitätsbibliothek.
Leyla atmete auf. Regen trommelte auf sie ein und durchnässte sie sofort. In der Ferne ertönte ein Donnern und sie zuckte zusammen.
»Es ist kaum zu sehen«, murmelte sie erstaunt und betrachtete das Fenster von außen. Sie wandte sich zu dem Unbekannten, der sie jedoch kaum beachtete, sondern stattdessen die Umgebung unter die Lupe nahm. Dann deutete er in Richtung der Bäume. Ihr Nicken sah er schon nicht mehr, als er sich auf den Weg machte. Sie folgte.
Sie huschten in die Deckung der schwarzen Bäume und sahen sich dort erneut um. Die Rückseite der Bibliothek war verlassen.
»Danke«, sagte Leyla leise und vollkommen erschöpft.
Der Unbekannte zuckte mit den Schultern. Endlich hatte Leyla Zeit, ihn eingehender zu mustern.
Es war ein Junge, vielleicht 15 Jahre alt. Sein Haar, das ebenso rot war wie Leylas, klebte ihm nass im schmalen Gesicht. Auf seiner Stupsnase tummelten sich ein paar Sommersprossen. Er war kaum größer als sie, sehr schlank, wirkte beinahe ein wenig zerbrechlich.
»Keine Ursache«, meinte er und seine Stimme quiekte merkwürdig. Er betrachtete Leyla nun ebenfalls aufmerksam. »Wer bist du? Und was hast du hier überhaupt zu suchen?«, fragte er und Leyla war überrascht über seinen tadelnden Tonfall.
Sie hob die Augenbrauen, doch sie war zu erschöpft und zu dankbar, um irgendetwas Freches zu erwidern.
»Ich, äh, ich bin Leyla«, sagte sie nur. »Und du?«
»Ethan«, erwiderte er und sah sie mit seinen braunen Augen durchdringend an. »Was wolltest du hier?«, fragte er erneut. Darauf konnte sie schlecht antworten.
»Was machst du hier?«, versuchte sie stattdessen nervös, den Spieß umzudrehen. »Die Uni ist ein gefährlicher Ort geworden und du bist noch recht jung. Zu jung, um Kräfte zu haben, mit denen du dich verteidigen kannst, oder?« Im selben Moment hätte sie sich auf die Zunge beißen können.
Ethan schnaubte und sah sie ungläubig an.
»Mir scheint, ich komme weitaus besser zurecht als du. Davon einmal abgesehen, hast du deine Fähigkeiten wohl auch noch nicht entwickelt.«
»Wie kommst du darauf?«, entgegnete sie im Bemühen, die Situation zu retten. Nun wurde sein Blick wirklich ungläubig.
»Na, sonst hättest du sie ja wohl hoffentlich benutzt.«
»Stimmt«, murmelte sie resigniert und kramte in ihrem Rucksack nach ihrer Wasserflasche. Sie hatte unglaublichen Durst. »Warum kennst du dich in der Bibliothek so gut aus?«, fragte sie.
»Ich war im letzten Jahr oft mit meinen Schwestern dort. Was ist das für ein komischer Deckel?« Mit großen Augen trat Ethan näher, um den Schraubverschluss der Flasche in Augenschein zu nehmen.
»Äh.« Leyla zögerte und schraubte die Flasche wieder zu. »Wir sollten hier vielleicht verschwinden, oder?« Obwohl sie sicher war, dass hier niemand war, sah sie sich aufmerksam nach allen Seiten um. Währenddessen ließ sie die Flasche rasch wieder in den Rucksack gleiten. »Nicht, dass sie uns doch noch entdecken.« Zu ihrer großen Erleichterung stimmte Ethan umgehend zu.
Im großen Bogen umrundeten sie die Bibliothek und die Unterkünfte, bis sie in den angrenzenden Park gelangten. Hinter den Hecken schlichen sie weiter. In der Ferne hörte Leyla merkwürdige Geräusche und sie vermutete, dass sie aus der Arena kamen, von der der Alb gesprochen hatte.
»Trainieren die Alben?«, fragte sie und drehte den Kopf in die Richtung, in der sie diese Arena vermutete.
»Hast nicht viel sehen können, was?«, fragte Ethan und grinste breit. Offensichtlich fühlte er sich ihr deutlich überlegen. »Ja«, fügte er dann hinzu. »Also wolltest du auch spionieren? Für wen?« Er ließ nicht locker.
»Nein. Ich spioniere nicht. Eigentlich bin ich … durch einen unglücklichen Zufall hier gelandet.« Sie gab sich Mühe, sich möglichst vage auszudrücken. »Ich wollte eigentlich zu den van Raikens.«
Ethan blieb augenblicklich stehen und richtete sich ruckartig auf. Besorgt sah Leyla zur Universität zurück, doch sie schienen weit genug entfernt und gut verdeckt zu sein. Also folgte sie seinem Beispiel und gab ihre gebückte Haltung auf. Er musterte sie ärgerlich.
»Och nö«, jammerte er dann und setzte seinen Weg fort. »Ich habe eine van Raiken gerettet?« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das hättest du auch früher sagen können.«
»Ich bin keine van Raiken«, beteuerte Leyla. Es war ihr wichtig, das klarzustellen. »Aber ich muss mit ihnen sprechen. Und zwar dringend.«
Ethan bedachte sie mit einem misstrauischen Blick.
»Was ist das Problem?«, fragte sie. Ihr war wieder bewusst, dass die van Raikens nicht bei allen beliebt waren, aber Ethans Reaktion irritierte sie doch ein wenig. Er straffte sich, reckte die Brust vor und tippte sich mit dem Finger darauf.
»Na, weil ich von der anderen Seite bin«, erwiderte er stolz.
»Welcher anderen Seite?«, fragte Leyla.
»FRK1.2. Und du?« Jetzt klang er wieder ärgerlich. »Wo bist du? Bei FRK2.1? Oder bist du nicht mal von einer FRK? Was dann? FS? Oder gar …«
Leyla musste sein Geplapper unterbrechen.
»FRK? Du meinst die …« Sie dehnte die Worte in der Hoffnung, dass Ethan antworten würde und unbewusst ihre Wissenslücke füllte.
»Fraktion zur Rettung des Königreichs, ja. Gibt es neuerdings noch andere Gruppen, die diese Abkürzung verwenden?« Er runzelte die Stirn.
Leyla schwirrte der Kopf. ›Na toll‹, dachte sie. ›Ich bin noch nicht einmal einen Tag hier und schon restlos überfordert.‹ Sie war sich aus irgendeinem Grund sicher, dass es bei ihrem letzten Aufenthalt noch keine Fraktionen gegeben hatte. Innerlich seufzte sie. Es war schon schwer genug, sich an alles zu erinnern. Diese neuen Puzzleteile machten die Verwirrung noch größer.
»Ich bin bei keiner Fraktion«, meinte sie, denn Ethan schien immer noch auf eine Antwort zu warten. »Ich bin bei den … BvS. Befreiung von Stein, das ist unser oberstes Ziel.«
Er nickte. »Von den meisten, oder? Wobei ich die Abkürzung noch nie gehört hab. Sie klingt ein wenig lächerlich.«
Sie hob abwehrend die Hände.
»Und ich bin keine van Raiken. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie etwas mit dem Stein zu tun haben.« Bei diesen Worten war sie sich selbst nicht sicher. Sie lauschte in sich hinein. Irgendwas ließ sie zumindest glauben, es wäre so.
»Ziemlich naiv«, schnaubte Ethan und leise fügte er hinzu: »Typisch Mädchen.«
Leyla verdrehte die Augen. Von allen Menschen oder Wesen, die ihr hätten helfen können, musste sie einen pubertierenden Teenager mit zu großem Selbstbewusstsein erwischen.
»Also FRK1.2 – was hattest du hier für einen Auftrag?« Sie sah ihm augenblicklich an, dass er nicht sicher war, ob er darauf wirklich antworten sollte.
»Mich ein bisschen umsehen«, druckste er schließlich herum. »Sie beobachten. Schauen, wie viele es sind, was sie so treiben. Ob es was mit Pagnon zu tun hat.«
Da war er schon wieder, dieser Name, den der Dunkelalb eben erwähnt hatte.
»Pagnon?«
»Sag mal, bist du auf den Kopf gefallen?«
»Schon gut«, lenkte sie ein. »Warum schicken sie dich, wo du noch gar keine Kräfte hast?«
Er wirkte ertappt.
»Möglicherweise war es nicht direkt ein Auftrag«, gab er zu und trat verlegen gegen ein versteinertes Grasbüschel – eines der wenigen, die noch nicht zertreten waren.
Leyla grinste. ›Aha‹, dachte sie. Er war also kein Freund von Regeln. Vielleicht konnte sie das zu ihrem Vorteil nutzen.
»Was hältst du davon, wenn du mir erzählst, was du weißt, und ich erzähle dir, was ich weiß?«, schlug sie vor, doch er schüttelte unwirsch den Kopf. Offensichtlich fiel er nicht auf die Finte herein. Er traute ihr nicht.
»Ich bringe dich bis zum Hof der van Raikens«, sagte er plötzlich. »Alleine scheinst du mir nicht überlebensfähig zu sein.«
Sie zog die Augenbrauen bedeutungsvoll nach oben, war aber dennoch dankbar für die Begleitung. Auch wenn sie nicht daran glaubte, dass ein 15-Jähriger ihr wirklich Schutz bieten konnte. Aber vielleicht ließ sich ja doch noch die eine oder andere Information aus ihm herauskitzeln.
Sie hob den Kopf und schaute gen Himmel. Immer noch prasselte der Regen auf sie hinab, aber es war zumindest angenehm warm.
Etwas später stellte sie frustriert fest, dass aus Ethan wirklich nichts mehr herauszubekommen war. Er bedachte Leyla nur mit merkwürdigen Blicken. Sie ignorierte diese und konzentrierte sich auf die Umgebung. Als sie den versteinerten Universitätsbereich und den Park hinter sich gelassen hatten und sich einem prunkvollen Anwesen näherten, erinnerte sich Leyla immer besser an Theodor und seinen Vater. Und an ihren ersten, nicht sehr angenehmen Besuch auf diesem Hof. Endlich erreichten sie das Anwesen der van Raikens und blieben vor der langen, von Blumenkübeln und Statuen gesäumten Treppe stehen.
»Also, wenn du wirklich keine van Raiken bist, dann viel Erfolg. Und falls du in die Stadt kommst, können wir uns ja mal treffen«, sagte Ethan. »Dann erzähle ich dir vielleicht auch etwas über FRK1.2.« Er grinste, offensichtlich hielt er die Kombination für ein unschlagbares Angebot.
»Äh ja«, meinte Leyla etwas verblüfft und unternahm einen letzten Versuch. »Und die Zahl stand gleich noch für was?«
Er antwortete nicht, sondern zwinkerte nur vielsagend. Doch dann änderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. »Wenn du allerdings doch eine van Raiken bist …«
Leyla seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die geschwungene Portaltreppe und das weiße Anwesen, das selbst bei diesem trüben Wetter geradezu zu leuchten schien. Trotzdem hatte Leyla das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas anders war als beim letzten Mal. Sie kniff die Augen zusammen, konnte aber nicht sagen, was es war.
»Kommst du nicht mit?«, fragte sie Ethan aus reiner Höflichkeit. Er schüttelte entsetzt den Kopf.
»Nur weil es regnet, werde ich noch lange nicht bei den van Raikens Zuflucht suchen.«
Sie wollte etwas erwidern, stockte aber mitten im Satz. Die Wahrscheinlichkeit, dass Aston van Raiken sie einließ, war schon gering genug. Dieser Bengel würde es vermutlich nicht mal bis zur Türschwelle schaffen. Sie dankte ihm noch einmal für seine Unterstützung und ging dann die Treppe hinauf zu dem hölzernen Hoftor. Ihre Beine zitterten vor Aufregung und Erschöpfung.
Sie läutete, vernahm jedoch keinen Ton. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass sie sich darüber schon einmal gewundert hatte. Sie wartete lange und mit gespitzten Ohren. Doch hinter dem Tor schien sich nichts zu bewegen. Jetzt wurde ihr auch bewusst, was ihr so ungewöhnlich vorgekommen war. Die glänzenden Kübel, die die Treppe zierten, wirkten matt und wiesen an einigen Stellen Schmutz auf. Aber daran war sicherlich der Regen schuld. Leyla schüttelte den Kopf. Sie war erst einmal hier gewesen, wie konnte sie sich die Freiheit herausnehmen, zu sagen, was stimmte und was nicht.
Sie läutete erneut, doch nichts geschah. Leyla hatte die Hoffnung, dass man ihr öffnen würde, schon fast aufgegeben, als eine feine Stimme sagte: »Ihr schon wieder!«
Erschrocken sah sie sich um. Es dauerte eine Weile, bis sie entdeckte, woher die Stimme kam. In dem Holztor, ziemlich weit am Boden, hatte sich eine winzige Luke aufgetan. Zwei Äugelein schauten zu ihr hinauf. Sie erkannte den Glauppel sofort wieder und ein Lächeln breitete sich unwillkürlich auf ihren Lippen aus.
»Neue Sicherheitsvorkehrung?«, fragte sie und deutete auf den Spalt. Beim letzten Mal hatte der Glauppel schließlich einfach das große Tor geöffnet. Der kleine Gnom nickte. »Darf ich rein?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. Leyla seufzte. Das war ja zu erwarten gewesen. »Bitte«, sagte sie flehend. »Ich muss dringend mit Theodor sprechen.«
Der Glauppel sah sie ziemlich skeptisch an und Leyla konnte sich sehr gut vorstellen, was in dem kleinen Köpfchen vor sich ging. Warum wollte sie ihn sprechen? Beim letzten Mal, als sie hier gewesen war, waren sie alles andere als Freunde gewesen – was, so wurde Leyla gerade klar, sich auch nicht geändert hatte. Warum also suchte sie ausgerechnet ihn auf, fragte sie sich nun selbst. Sie zuckte mit den Schultern. Das war ganz einfach, weil sie keine andere Wahl hatte. Theodor war abgesehen von Pan der einzige, an den sie sich richtig erinnerte.
»Es ist wirklich wichtig. Bitte«, rief sie und starrte den Glauppel durchdringend an, was ziemlich schwer war, da er zum einen so klein und so weit unten und zum anderen fast in der Dunkelheit verborgen war.
»Der junge Herr ist zurzeit nicht zugegen«, ließ sich der Glauppel zu einer Erläuterung herab und schloss dann einfach das Guckloch. Leyla hämmerte gegen die Tür.
»Was soll das heißen? Wo ist er?«, rief sie, wischte sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und klopfte weiter. Das Guckloch wurde erneut geöffnet.
»Er ist seit mehreren Tagen unterwegs«, sagte der Glauppel.
»Dann muss ich mit seinem Vater sprechen. Wo ist Aston van Raiken?« Sie begann zu betteln und der Glauppel schien Mitleid zu haben.
»Ist auch nicht im Hause.«
»Wo ist er hin?«
»Kann ich nicht sagen.«
»Bitte, Herr … Glauppel.« Da er sie dieses Mal so förmlich angesprochen hatte, wählte auch sie die höfliche Anrede.
»Gladix.«
»Bitte?«
»Gladix. Mein Name ist Gladix. Glauppel ist die Art, von der ich stamme. Ich sage ja auch nicht Frau Mensch, sondern Frau Leyla.«
Erstaunt darüber, dass er ihren Namen noch kannte, hielt sie inne.
»Bitte lasst mich ein, Herr Gladix. Ich bin doch eine Freundin der Familie.«
Der kleine Gnom schnaubte. »Das sah beim letzten Mal ein klein wenig anders aus.«
Leyla seufzte und entschied sich dazu, alle Vorsicht fahren zu lassen.
»Bitte. Ich glaube, Theodor ist in großer Gefahr. Als ich ihn das letzte Mal sah, da …« Ja, was war da eigentlich gewesen? »Da war es jedenfalls so«, vollendete sie den Satz. »Ich brauche jemanden, der ihn und die Gegend kennt. Ich brauche einen Unterschlupf. Ich weiß nicht, wo ich hin soll bei diesem Wetter.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Und ich weiß nicht einmal, wo ich die Nacht verbringen soll.«
Sie musste wirklich herzerweichend aussehen, wie sie da verzweifelt stand, vollkommen durchnässt und mit hängendem Kopf. Der Glauppel blinzelte, was unglaublich niedlich aussah, und seufzte dann leise. Die Luke schloss sich erneut, aber kurz darauf öffnete sich das Tor.
»Das wird mich meinen Kopf kosten«, grummelte der kleine Gnom leise.
Leyla quetschte sich durch den schmalen Spalt, der sich aufgetan hatte, und trat in den Innenhof. Er war sonderbar leer. Es mochte am Wetter liegen, aber sie war sich da nicht so sicher. Der Glauppel, der ihren Blick bemerkte, setzte zu einer Erläuterung an.
»Ja, viele sind mit dem Herrn van Raiken verschwunden. Einige haben ihn wohl begleitet, andere sind nach Hause zurückgekehrt. Es sind nur noch wenige hier, die sich um Haus und Hof kümmern, alles überwachen und hier ihr Zuhause gefunden haben.« Er hüpfte auf das Dienstbotenquartier zu, doch Leyla schritt auf das Haupthaus zu.
»Was macht Ihr denn da?«, jammerte Gladix.
»Herr van Raiken?«, rief Leyla, als sie vor der Tür stand und klopfte. Sie erhielt keine Antwort.
»Was soll das? Glaubt Ihr mir nicht?«
»Doch«, murmelte sie, verharrte jedoch und streckte die Hand nach dem Türknauf aus. Sie zögerte, erinnerte sich an den Wind, der ihr beim letzten Mal entgegengeschlagen war. Ob Aston van Raiken solche Sicherheitszauber installiert hatte? Konnte er das überhaupt? Über einen so langen Zeitraum, wenn er gar nicht da war? Sie starrte auf die geschlossene Tür. Es reizte sie, hineinzugehen, doch sie zog die ausgestreckte Hand wieder zurück.
»Gehen wir zu den Dienstbotenquartieren«, nuschelte sie und der Glauppel seufzte erleichtert.
Kaum dass sie das Gebäude erreicht hatten, riss eine Dienstbotin die Tür auf und sah sie mit großen Augen an. Leyla war erschrocken zusammengefahren und brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen.
»Hallo«, murmelte sie verlegen und überlegte, ob sie sich an der jungen Frau, die ihr irgendwie bekannt vorkam, einfach vorbeiquetschen sollte. Doch als Leyla sich wieder in Bewegung setzte, wich diese augenblicklich von allein von der Tür zurück.
»Ich habe Euch vom Fenster aus ankommen sehen.« Die Frau warf Leyla einen skeptischen Blick zu und langsam dämmerte es ihr, dass es dieselbe Dienstbotin war, die ihr schon beim letzten Mal begegnet war. Sie schien nicht zu wissen, was sie von Leylas erneuter Anwesenheit halten sollte. Doch dann fasste sie offenbar einen Entschluss und lächelte.
»Ich werde umgehend ein paar frische Kleider besorgen und Euch etwas zu essen zubereiten lassen. Und oh, Ihr braucht gewiss ein Zimmer für die Nacht. Ich werde eines für Euch herrichten.« Mit diesen Worten verschwand die Dienstmagd, um zu halten, was sie angekündigt hatte. Sie brachte Leyla ein etwas zu großes marineblaues Kleid, das sie dankend annahm.
Immer mehr Erinnerungen an ihren ersten Besuch bei den van Raikens kamen zurück, während sie auf den leeren Hof starrte und sich ihre Haare mit einem Handtuch trocken rubbelte. Als sie fertig war, trat sie auf den Flur, wo die Magd bereits wartete, um sie in einen Nebenraum der Küche zu führen. Er war groß, aber spärlich eingerichtet. Schüsseln, ein Teller und eine Tasse standen auf dem riesigen runden Holztisch. Leyla setzte sich.
Das Essen war nicht annähernd so üppig wie bei ihrem ersten Besuch. Doch darauf hatte Leyla auch nicht spekuliert. Sie war dankbar, überhaupt etwas zu bekommen.
»Also, wo ist Aston van Raiken hin?«, fragte sie den Glauppel neugierig, der auf dem Tisch hockte und sie nicht aus den Augen ließ. Er musterte sie mit seinen schwarzen Knopfäuglein.
»Ihr solltet ihn nur Aston nennen, es könnte uns jemand hören«, meinte er und sah sich prompt um.
Sie betrachtete ihn verwirrt.
»Als Ihr hier mit diesem unheimlichen Gestaltwandler angekommen seid, haben viele gemunkelt, dass Ihr aus der anderen Welt kommt. Ihr habt viele komische Fragen gestellt, außerdem sagte der Gestaltwandler, Ihr wärt von drüben – die Türen haben Ohren, wisst Ihr. Nun ja, vielleicht hat er damit aber auch gemeint, Ihr seid aus Behfin und hat es unglücklich formuliert. Jedoch, auch die Tatsache, dass Ihr zum König gebracht werden solltet, wie soll ich sagen … Niemand hat gerne einen Andersweltler hier, schon gar nicht jetzt.«
»Wieso?«, wollte Leyla fragen, hielt dann aber inne, um den Glauppel aussprechen zu lassen.
»Aber als der junge Herr van Raiken aus Numäia zurückgekehrt ist, wo er Euch zum König bringen sollte, haben einige Dienstboten gehört, wie er seinem Vater erzählte, er habe der Familie Tellonis Leyla, seine Cousine mütterlicherseits, vorgestellt. Seitdem ranken sich eine Menge Geschichten um Eure Person. Seid Ihr fremd oder Familie? Für Euch ist es besser, sie glauben Letzteres.« Leyla schluckte.
»Und was glaubt Ihr?«
»Oh, mit Verlaub, ich meine es nicht böse, wenn ich sage, Ihr könnt keineswegs von hier sein, dazu seid Ihr einfach zu dumm«, flüsterte Gladix und er sagte es so niedlich, dass Leyla ihm tatsächlich nicht böse sein konnte. »Aber offiziell seid Ihr nun eine Cousine des jungen Herrn mütterlicherseits«, fügte der kleine Gnom hinzu.
»Eine van Raiken?«, fragte Leyla und musste an Ethans Worte denken.
»Eigentlich eher eine Papili«, meinte Gladix. »Aber irgendwie dann auch eine van Raiken.«
Leyla ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Papili hatte sie noch nie gehört, aber bei dem Namen Tellonis klingelte etwas bei ihr. Sie erinnerte sich daran, dass sie Freunde von Theodor aufgesucht hatten, um vor dem Regen Schutz zu suchen. Dort musste Theodor behauptet haben, sie sei eine Art Cousine. Ja, so war es gewesen. Er hatte nicht sagen können, dass sie aus der anderen Welt kam. Aber warum?
»Hm«, machte sie.
»Hm?!«, machte auch Gladix und legte das kleine Köpfchen schief.
»Also, wo ist Aston?«, wiederholte Leyla ihre ursprüngliche Frage.
»Nun ja, es gibt böse Gerüchte über die Versteinerung und ihren Verursacher«, meinte der Glauppel zögernd. »Einige denken wohl, der Herr könnte damit in Verbindung stehen, weil sein Sitz als einer der wenigen Reichen in der Nähe Numäias noch verschont geblieben ist. Es gab in den letzten Tagen ein paar kleine Aufstände und da hat er beschlossen, zu handeln.«
»Inwiefern?«
»Ich bin der Torwächter, wertes Fräulein. Alles zu wissen, steht mir nicht zu.«
»Wo genau ist er hin? Zu seiner Familie?«
Einen Augenblick lang starrte der Glauppel sie ungläubig an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Das war wohl Antwort genug.
»Also gab es noch mehr Versteinerungen in den letzten …« Sie überlegte kurz: »… zwei Wochen?«
Gladix beruhigte sich schlagartig wieder und nickte.
»Vor knapp einer Woche. Seitdem nicht mehr. Aber es waren nur kleine Areale.«
Was nicht weniger beunruhigend war, fand sie.
In der Nacht warf sich Leyla unruhig hin und her. Ihre Gedanken kreisten. Sie wünschte sich, Majik wäre hier, um mit ihm über mögliche Vorgehensweisen zu diskutieren. Sie seufzte tief und fiel schließlich doch in einen unruhigen Schlaf.
Mit den ersten Sonnenstrahlen war sie jedoch schon wieder erwacht und setzte sich im Bett auf. Im Haus schien alles ruhig zu sein. Sie schälte sich aus der dünnen Decke und zog das neue Kleid über, das ihr die Dienstbotin, die – wie Leyla in der Zwischenzeit herausgefunden hatte – Annahe hieß, hingelegt hatte. Sie musste nicht lange raten, um zu wissen, dass das mit großen weißen Blumen übersäte Kleid einst Theodors Mutter gehört hatte. Im Gegensatz zu dem blauen Kleid, das sie am Vortag bekommen hatte, passte dieses wie angegossen. Sie verzichtete auf den Blick in den Spiegel, sondern öffnete leise die Zimmertür und schaute den Gang entlang.
Alle Türen waren geschlossen. Doch das Fenster am Ende des Ganges stand offen. Ein leichter Wind zog durch den Gang. Schnell schloss Leyla ihre Tür, damit die Zugluft sie nicht zuwarf. Dann huschte sie die Treppe hinunter, lief zum Ausgang und verließ das Dienstbotenquartier. Tief sog sie die Morgenluft ein, die jedoch unangenehm schwer, feucht und stickig war. Leyla wollte sich schon wieder abwenden und ins Haus zurückkehren, als sie ein Geräusch hörte.
Es klang wie das Wiehern eines Pferdes. Sie spitzte die Ohren und schaute zu den Stallungen auf der anderen Seite des Hofes. Eine Idee tauchte in ihrem Kopf auf. Zögernd ging sie auf den Stall zu.
Die Luft dort drinnen war ebenso stickig, roch aber angenehm heimelig nach Stroh und Heu – und Tier. In einer gigantischen Box stand ein Pferd, bei dessen Anblick Leyla beinahe der Atem stockte.
Das Tier war hellbraun und hatte eine lange schneeweiße Mähne. An den Rücken schmiegten sich zwei ebenso weiße Flügel. Als Leyla nähertrat, schnaubte das Tier und wich verängstigt zurück. Es schien unruhig, warf den Kopf hin und her und musterte Leyla misstrauisch. Als sie noch einen Schritt darauf zu machte, spreizte es die Flügel ein wenig vom Körper ab und Leyla konnte erkennen, dass es libellenartige und nicht vogelähnliche waren.
»Schon gut«, murmelte sie leise und streckte die Hand aus, um das seltsame Wesen zu streicheln. »Ganz ruhig. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, flüsterte sie. Der Klang ihrer Stimme schien eine beruhigende Wirkung zu haben, denn das Tier legte die Flügel wieder an und kam zögernd einen Schritt auf sie zu. »Na, siehst du«, murmelte Leyla, als sie das weiche Maul und den warmen Atem an ihren Fingern spürte. »Bist du ganz allein?« Sie fuhr sanft über die Nüstern und sah sich um. Es gab noch eine weitere Box, aber die war leer. Es fiel ihr nicht schwer, den Grund dafür zu erraten.
»Was machst du hier?«, sagte eine fremde Stimme und Leyla zuckte zusammen. Einen kurzen Moment lang starrte sie das geflügelte Pferd fassungslos an, dann nahm sie die Gestalt wahr, die im Stall aufgetaucht war.
»Ich, ich wollte nur gucken«, stammelte sie. »Ich habe noch nie so ein Pferd gesehen und …« Sie musterte ihr Gegenüber. Er sah fast menschlich aus, war ein Stück kleiner als sie, aber unglaublich dünn. Seine Haare waren von einem sonderbaren Hellblau und standen zu allen Seiten ab. Seine Augen hingegen waren so schräg wie bei den Dunkelalben. Er musterte sie kühl.
»Was bist du?«, fragte sie.
Er runzelte die Stirn.
»Ich habe schon gehört, dass du eigentümlich sein sollst«, murmelte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Verlegen wechselte Leyla das Thema.
»Du kümmerst dich also um die Pferde?«
»Peidëen.«
»Äh, natürlich, um das Peidëen.«
»Die. Es ist eine Sie«, sagte das Wesen mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Natürlich. Ich …«
»Du wolltest sicherlich gerade gehen.«
Sie verstand, dass sie unerwünscht war, nickte und ging Richtung Tür. Als sie an dem Blauhaarigen vorbeikam, überlief sie ein Schauer. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die dunkelblauen Augen pupillenlos waren. Unheimlich, fand sie.
»Würdest du mir zeigen, wie man auf ihr reitet?«, fragte sie vorsichtig. Er lachte.
»Bestimmt nicht. Sie ist zu kostbar.«
»Aber sie braucht doch bestimmt Bewegung.«
»Die bekommt sie. Sei unbesorgt.« Und damit schloss er die Stalltür vor ihrer Nase. Aber die wahnwitzige Idee nahm in Leylas Kopf immer mehr Gestalt an. Nachdenklich stapfte sie über den Hof.
»Ah, Frau Leyla ist schon erwacht«, sagte der Glauppel, als sie das Nebenzimmer der Küche betrat, und präsentierte ihr stolz den gedeckten Tisch.
»Wie liebenswürdig!«, rief sie und setzte sich. »Ich werde nach dem Essen aufbrechen«, erklärte sie dem kleinen neuen Freund. Gladix nickte. »Ich muss in die Stadt.«
»Soll ich eine Tagesverpflegung für Euch zusammenpacken lassen?«
Sie überlegte. Das war vielleicht ratsam. Schon allein, um zu verbergen, was sie vorhatte. Sie nickte, während ihre Gedanken zu dem halben Plan reisten. Sie wollte herausfinden, was geschehen war. Dabei konnte augenblicklich nur Theodor helfen. Der schien in Gefahr, also musste sie ihn finden und ihm helfen.
Sie hätte bei dem Gedanken fast gelacht. Sie und jemanden retten, das war absurd. Und dann auch noch ausgerechnet Theodor. Das würde sie nie schaffen. Davon mal abgesehen, dass sie gar nicht wusste, wo und wie sie suchen sollte. Also brauchte sie Leute, die ihr da voraus waren und helfen konnten. Und so viele kannte sie hier in Naurénya nicht. Es lag also auf der Hand, wo sie hin musste.
Rasch schlang sie das Essen herunter. Als sie fertig war, ging sie in das kleine Zimmer, in dem sie übernachtet hatte, packte ihre getrockneten Kleidungsstücke in den Rucksack und nahm dann dankend das kleine Verpflegungsbündel von Gladix entgegen. Anschließend ließ sie sich von dem Gnom zur Tür begleiten. Ihr Magen flatterte.
»Oh nein, ich habe meine Uhr im Zimmer liegen lassen«, rief sie und tat so, als wollte sie sich umwenden, doch der kleine Gnom kam ihr zuvor.
»Ich hole sie«, sagte er sofort und verschwand Richtung Treppe.
Leyla sah ihm nach. Sie hatte damit gerechnet, dass er so hilfsbereit war und sie ihn so ablenken und ein wenig Zeit gewinnen konnte. Beschämt guckte sie zu Boden. Sie mochte den kleinen Kerl und war sich sicher, dass er enttäuscht von ihrem Vorhaben sein würde.
Sie öffnete die Tür, trat auf den Hof und stutzte. Wenn das kein perfekter Zufall war. Ihr Blick heftete sich auf die gesattelte Peidëen, die im Innenhof stand und vermutlich auf ihren blauhaarigen Reiter wartete. Das begünstigte ihren Plan natürlich ungemein.
Nervös drehte sie an ihrem Ohrring. Sie war nicht dafür gemacht, Regeln zu brechen – und sie hatte nur wenig Ahnung vom Reiten. Andererseits musste sie schnellstmöglich in die Stadt. Und die Vorstellung, alleine den halben Tag durch einen unbekannten Wald zu wandern, behagte ihr nicht. Vermutlich würde sie sich sogar verlaufen. Aus der Luft hingegen war die Stadt sicherlich gut zu sehen. Es war also das Naheliegendste und der kürzeste Weg. Bevor der Mut sie verließ, ging sie rasch auf das geflügelte Pferd zu.
Das Tier schnaubte.
»Ruhig!«, murmelte sie. »Wir kennen uns doch schon.« Sanft tätschelte sie den Hals der Peidëen. Ihre Hände zitterten, als sie nach den Zügeln griff. Das Tier schüttelte die Mähne, scharrte mit dem Huf, verhielt sich sonst aber ausgesprochen still.
»Was hältst du von einem kleinen Ausflug?«, flüsterte Leyla.
Das geflügelte Pferd schnaubte erneut. Leyla sah sich um und entdeckte einen kleinen Hocker. Mit dem Fuß zog sie ihn zu sich heran. Dann hielt sie inne.
Nein, das konnte sie einfach nicht tun. Das war Diebstahl. Allein bei dem Gedanken an das Wort wurde ihr übel. Wie war sie nur auf diese dumme, wagemutige Idee gekommen? Sie würde einfach zu Fuß gehen. Allein. Durch den Wald. Sie schauderte. Aber wenn Theodor wirklich in Lebensgefahr schwebte und starb, weil sie gezögert hatte und nur ein paar Stunden zu spät kam?
Sie atmete tief ein, stellte sich entschlossen auf den Hocker und zog sich in den Sattel. Kaum das sie saß, nahm sie die Zügel auf, beugte sich leicht nach vorne und drückte ihre Schenkel an den Bauch des Tieres. Die Peidëen wieherte laut und setzte sich augenblicklich in Bewegung. Sie machte einen Satz vor, tat nur wenige Schritte und verfiel dann sofort in eine galoppartige Gangart. Hufe trommelten auf den Boden. Leyla spürte, wie sich der Körper unter ihr anspannte. Sie wurden noch schneller. Sie hatten das geschlossene Tor des Anwesens binnen weniger Sekunden erreicht. Leyla ließ den Zügel los und krallte sich in der Mähne des Tieres fest.
»Hey!«, rief eine wütende Stimme. »Runter von ihr.«
In diesem Moment breiteten sich hinter Leyla die weißen, schillernden Libellenflügel aus und das Pferd stieg wiehernd in die Luft.
Im Nachhinein war sich Leyla selbst nicht sicher, wie sie es geschafft hatte, im Sattel zu bleiben. Vermutlich verdankte sie das den Reitstunden, die sie als Kind bekommen hatte.
Die Peidëen bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Höhe und kreiste weit über dem imposanten Anwesen der van Raikens. Dann ließ das Tier sich wieder sinken, nur um direkt danach wieder aufzusteigen. Leylas Magen machte einen Satz. Immer noch klammerte sie sich an die helle Mähne.
Als das Tier plötzlich zur Seite abdrehte, stieß sie einen erschrockenen Laut aus. Die Peidëen driftete ziellos durch die Luft, die libellenartigen Flügel sirrten leise und bewegten sich so rasch, dass Leyla sie nur als eigenartiges Schillern wahrnehmen konnte.
Sie atmete tief ein und aus, richtete ihren Blick auf den Horizont und wartete, bis die Übelkeit etwas nachließ. Dann setzte sie sich wieder ordentlich im Sattel zurecht und griff nach den Zügeln. Die Ohren der Peidëen wackelten aufmerksam.
»Na schön«, murmelte Leyla und versuchte, sich zu orientieren. Hinter ihr lagen die schwarze Universität und das Birmgebirge. Sie zuckte zusammen. Das Gebirge. Die Zwergenstadt! Erschrocken wandte sie sich um. Ihr Blick blieb an den gezackten Gipfeln, die sich in den Himmel streckten, haften. Irgendetwas war dort. Sie zögerte. Vielleicht sollte sie … In diesem Moment wieherte die Peidëen laut und Leyla riss sich von dem Anblick der Berge los und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne.
Sie hob die Hand vor die Augen, damit das helle Sonnenlicht sie nicht blendete. Zu ihrer großen Freude war Numäia von hier oben tatsächlich problemlos auszumachen. Leyla gab der Peidëen ein paar winzige Hilfestellungen und das Tier schoss sofort los. Die schlanken Beine bewegten sich in der Luft, als würden sie auf dem Boden und nicht am Himmel dahin galoppieren, die Flügel sirrten parallel dazu gleichmäßig.
Bald entspannte sich Leyla ein wenig. Sie bekam ein immer besseres Gefühl für das geflügelte Pferd und sie schaffte es sogar, die Aussicht ein wenig zu genießen. Unter ihr jagten Wald und Wiesen dahin, der Wind pfiff in ihren Ohren und spielte mit ihrem Haar.
Schneller als gedacht, näherte sie sich so der Stadt. Sie frohlockte schon, doch als sie den äußeren Stadtrand erreichte, wurde ihr flau im Magen. Entsetzt stellte sie fest, dass sie absolut keine Ahnung hatte, wie sie die Peidëen zum Landen überreden konnte.
Sie drosselte das Tempo und brachte das Tier dazu, am Himmel zu kreisen – immer auf der gleichen Höhe.
»Komm schon«, murmelte Leyla verzweifelt und drückte mit ihren Schenkeln gegen den Bauch der Peidëen. Sie musste unbedingt hinab. Von hier oben hatte sie nicht die geringste Chance, das Haus zu finden, das sie suchte. Es würde schon von unten schwer genug werden. Das Tier reagierte nicht. Leyla zog am Zügel, die Peidëen schnaubte und schüttelte unwirsch die Mähne.
»Bitte«, flehte Leyla und schnalzte. Ruckartig warf das geflügelte Pferd plötzlich den Kopf hoch, stieß ein durchdringendes Wiehern aus und riss Leyla die Zügel aus den Händen. Ohne Vorwarnung setzte es zum Sturzflug an. Leyla schrie gellend auf und krallte sich wieder in der Mähne fest, als der Boden viel zu schnell immer näher kam.
Die Peidëen rauschte durch eine Straße, über die Köpfe einiger Elements, die sich erschrocken duckten. Dann landete das Tier unsanft und machte ein paar holprige Sätze über die Pflastersteine. Leyla stöhnte, sie hatte das Gefühl, ihre Wirbelsäule rutschte einmal nach oben, unten und wieder in die ursprüngliche Position.
Sie sah sich um. Einige Leute blickten aus ihren Fenstern, andere waren stehen geblieben und starrten sie an. Glücklicherweise war die Straße, in der sie gelandet waren, relativ leer, sodass niemand angerempelt oder gar verletzt worden war.
»Hey«, rief eine unbekannte Stimme aus einem Fenster. »Alles okay? Sah ja nicht gut aus.«
Leyla spürte, wie ihr die Peinlichkeit die Röte ins Gesicht trieb. Sie sah scheu in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und nickte, ohne ein Gesicht zu fixieren. Sie wollte rasch weiter, also griff sie wieder nach den Zügeln.
»Wer ist das?«, hörte sie Getuschel. Zwei Frauen waren stehen geblieben und musterten sie eingehend von oben bis unten.
»Weg hier«, flüsterte Leyla und trieb die Peidëen erneut an. Brav setzte diese sich in Bewegung, doch die weit auseinander liegenden Pflastersteine schienen dem Tier arge Probleme zu bereiten. Nervös begann es hin und her zu tänzeln. Schließlich beschloss Leyla, abzusteigen und das geflügelte Pferd zu führen. Sie wollte auf keinen Fall, dass es wegknickte und sich womöglich noch verletzte. Außerdem waren sie auch so schon ein Aufmerksamkeitsmagnet. Als Leyla registrierte, wie sie angestarrt wurde, zog sie den Kopf ein. Krampfhaft versuchte sie, die Blicke zu ignorieren, was wirklich schwer war. Sie stierte auf den Boden und wich gekonnt den zahlreichen Pfützen aus. Doch so hatte sie keine Chance, sich umzusehen. Schließlich hielt sie inne. Sie hatte keine andere Wahl.
»Entschuldigung«, sagte sie zu einem Mann, der soeben stehen geblieben war und sie von Kopf bis Fuß musterte. Sie lief dunkelrot an. »Können Sie mir sagen, wo ich die Familie Tellonis finde?«, fragte sie schüchtern und presste sich an ihre geflügelte Begleiterin. Sie hatte wenig Hoffnung, dass der Mann es wusste. Sie kannte den Bekanntheitsgrad der Familie nicht, aber Numäia war groß und die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen, der sagen konnte, wo die Familie wohnte, war gering. Der Mann schüttelte auch prompt den Kopf.
»Ist das ein Peidëen?«, fragte er respektvoll und trat näher. Als er die Hand ausstreckte, tänzelte das Tier nervös zur Seite.
»Eine«, erwiderte Leyla. »Es ist eine Sie.« Sie lief weiter. Unsicher. In der nächsten Straße fragte sie eine Frau nach der Familie Tellonis. Doch auch sie schüttelte den Kopf, starrte die Peidëen an und betrachtete Leyla eingehend.
»Aus welcher Familie stammt Ihr?«, fragte die Frau und Leyla wurde bewusst, dass Peidëen so teuer und selten sein mussten, dass jeder ihren Familiennamen kennen sollte. Kurz überlegte sie, ob sie die bereits bestehende Möglichkeit nutzen sollte, um zu behaupten, dass sie zu den van Raikens gehörte.
Dann hielt sie inne. Aston van Raiken war verschwunden. Er hatte Feinde. Es gab Gruppen, die der Familie nicht positiv gesinnt waren, trotz der entsprechenden Gegenlager. Der falsche Name konnte sie hier also gut in Schwierigkeiten bringen.
»Aus, aus … einer befreundeten Familie der Tellonis. Ich komme nicht aus Numäia«, stotterte sie.
»Etwa von Aikim Tellonis?«, mischte sich eine weitere Frau ein und trat näher. Über dem Arm trug sie einen großen Weidenkorb, der Inhalt war von einem Tuch bedeckt. Ihre Wangen leuchteten.
»Ja«, rief Leyla erleichtert. »Könnt Ihr mir sagen, wo ich sie finde?«