Читать книгу Ardantica - Carolin A. Steinert - Страница 7

Оглавление

Kapitel 2 - Schemen in der Dunkelheit

Die Erinnerungen waren nur bruchstückhaft und geradezu unglaublich. Trotzdem war sie sich sicher: Sie waren real. Erleichterung paarte sich mit Aufregung und Sorge. Vor ihrem inneren Auge sah sie die schwarze, versteinerte Universität Naurényas. Sie sah den großen Mann mit dunkler Hautfarbe – Pan - und den blonden, unausstehlichen Theodor. Alles andere war noch ziemlich verschwommen.

Sie wusste, dass sie gemeinsam auf der Suche nach etwas gewesen waren, nach jemandem. Demjenigen, der die Universität versteinert hatte! Hatten sie ihn gefunden? Sie war sich nicht sicher, aber dafür wusste sie eines ganz genau: Pan und Theodor waren in Gefahr.

Diese Gewissheit ließ sie nicht los. Unstet wanderte sie in ihrem Zimmer auf und ab. Was sollte sie nun tun? Sie starrte kurz auf ihre Hände, dann griff sie nach ihrem Handy und wählte fast schon automatisch Majiks Nummer. Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal. Er ging nicht ran. Frustriert legte sie wieder auf und überlegte. Dann ging sie raschen Schrittes zur Tür, die Treppe hinunter und hinaus auf die Terrasse, die zu einem kleinen, ziemlich verwilderten Garten gehörte.

Leylas Eltern blickten erstaunt auf, als sie plötzlich an ihren Tisch trat. Verlegen sahen sie sich alle an.

»Wo genau komme ich her?«, fragte Leyla ohne Umschweife. Sie musste es wissen. Der Gedanke an Naurénya gab ihr eine sonderbare Kraft.

»Willst du dich nicht zu uns setzen?«, fragte ihr Vater und deutete auf den Tisch und den frischgebackenen Obstkuchen darauf. Leyla zögerte, folgte der Aufforderung dann jedoch. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum und beobachtete, wie ihr Vater den Kuchen gleichmäßig zerschnitt.

»Wir wissen nicht, wo du herkommst«, sagte ihre Mutter währenddessen leise. »Du lagst in einem Korb in einem Park am Rheinufer. Wir waren dort damals im Urlaub spazieren und haben dich gefunden. Du hast uns angesehen mit deinen unglaublichen Augen und so breit gelacht, wir haben uns sofort in dich verliebt. Aber wir mussten natürlich erst einmal die Polizei informieren. Die haben nach deinen richtigen Eltern gesucht. Als die nicht ausfindig gemacht werden konnten, wurde das Jugendamt eingeschaltet. Darauf haben wir, ehrlich gesagt, gewartet und gehofft. Ständig haben wir beim Jugendamt angerufen, um Neuigkeiten zu erfahren, denn du gingst uns einfach nicht mehr aus dem Kopf. Dann gab es eine Menge Papierkram zu erledigen, aber schließlich hat das Familiengericht entschieden, dass wir dich zu uns nach Hause holen können und du wurdest eine echte Sealak.« Sie stockte und Leyla schluckte. »Wir haben nie herausgefunden, wo du hergekommen bist. Du lagst einfach in diesem sonderbaren Korb mit nichts als einem kleinen Zettel. Darauf stand lediglich: ›03.05.1991, L.‹. Daher haben wir uns auch für deinen Namen entscheiden, Leyla. Aber mehr wissen wir nicht«, murmelte sie dann.

Leyla atmete tief durch.

»Ein sonderbarer Korb?«, fragte sie.

»Ja, ein sehr schöner. Die Herstellung muss aufwendig gewesen sein. Wir haben versucht, herauszufinden, wer ihn gefertigt hat, aber ohne Erfolg. Wir haben ihn aufgehoben, wenn du …« Sie brach ab.

Leyla nickte bedächtig.

»Später vielleicht.« Sie war also wirklich nicht von hier. Das durfte sie auf keinen Fall Theodor erzählen. Diese Genugtuung darüber, recht gehabt zu haben, die sie in seinen Augen sehen würde, gönnte sie ihm nicht. Erstaunt stellte sie fest, dass sie zu einhundert Prozent sicher war: Dieser Gedanke der Adoption war von Theodor in ihren Kopf gepflanzt worden und er würde wohl wirklich überheblich grinsen, wenn er die Wahrheit erfuhr. Er hatte es ihr in der Nähe eines Flusses gesagt.

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als ihre kleine Schwester auf die Terrasse gestürmt kam.

»Mami, Papi, kommt schnell!«, krähte sie. »Der Mann von gegenüber hat einen neuen Hund. Er ist riesengroß und grau und sieht aus wie ein Wolf.«

»Ein Wolf?«, fragte Leyla erstaunt.

Da war ein Wolf gewesen. Im versteinerten Palast. Der Wolf hatte eine wichtige Information gehabt. Er sagte, Theodor sei der Verräter. Halt. Hatte er das wirklich gesagt? Nein, da war irgendetwas falsch. Der Obsidian war der Verursacher. Aber … Sie dachte angestrengt nach und ließ dann entmutigt die Schultern hängen. Sie hatte keine Ahnung. Da waren so viele verrückte Bilder, aber sie ergaben keinen Zusammenhang.

Sie folgte ihren Eltern, die von Shara zur Haustür gezerrt wurden, um den Hund zu betrachten. Mr. Mecoy hob grüßend die Hand, als sie in der Tür erschienen. Er war ein älterer Herr, der vor rund zwanzig Jahren der Liebe wegen aus London hierher gezogen war. Mittlerweile war er Witwer, doch es hielt ihn immer noch in dem kleinen Ort, mit dem er so viele Erinnerungen verband.

»Das ist aber ein schöner Hund«, rief Leylas Vater.

»Ein Tamaskan«, rief Mr. Mecoy zurück.

Der Hund sah wirklich wie ein Wolf aus, fand Leyla. Allerdings war er sehr gepflegt. So ganz anders als der Wolf im Palast. Leyla legte den Kopf schief und überlegte. Aber mehr als die Erinnerung an zottiges Fell war da nicht. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr eines klar wurde: Es gab nur eine einzige Möglichkeit, ihrem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen. Sie musste nach Naurénya.

Der Gedanke verfestigte sich unglaublich schnell. Am liebsten wäre sie sofort in ihr Zimmer gestürmt und in die fremde Welt eingetaucht. Doch sie zwang sich zur Ruhe und ging wieder zurück in den Garten.

Als auch der Rest ihrer Familie wieder am Tisch saß, aß sie ihren Kuchen weiter und ließ ihre Gedanken kreisen. Sie brauchte einen Plan – oder zumindest ein paar Antworten auf ganz grundsätzliche Fragen, beginnend mit: Wie würde sie nach Naurénya kommen? Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie hierfür zurück nach Berlin, beziehungsweise zur Uni nach Potsdam musste. Aber was sollte sie tun, wenn sie dort war? Würde sie sich sofort an alles erinnern? Sie zuckte unbewusst mit den Schultern. Diese Frage konnte sie vorab nicht beantworten.

»Leyla?«, fragte ihr Vater.

Sie sah überrascht auf und eine weitere Frage blitzte augenblicklich in ihren Gedanken auf. Wie sollte sie ihrer Familie erklären, dass sie schon wieder abreisen würde? Sicher, in knapp zwei Monaten begann das neue Semester und sie würde ohnehin zurück zur Uni müssen. Aber dann musste sie studieren und vor allem arbeiten und hätte keine Zeit und … Sie stutzte.

»Wenn du jetzt quasi arbeitslos bist«, meinte sie und sah ihre Mutter nachdenklich an, »und wir weniger Geld bekommen, bedeutet das, dass ich Bafög erhalte, oder? Dann muss ich gar nicht weiter in dieser furchtbaren Firma bleiben.«

»Ja, kann sein. Du arbeitest ohnehin zu viel. Wir können dich doch bei der Miete unterstützen.«

Leyla wusste nur zu gut, dass sie das nicht konnten. Sie lächelte dankbar und schüttelte ablehnend den Kopf. Ihre Gedanken wanderten weiter. Wenn sie nicht arbeiten musste, hatte sie immerhin nicht den finanziellen Druck, der ihre Reise nach Naurénya kürzen würde. Die ganze Familiensituation war plötzlich wie aus ihrem Kopf gefegt. Es gab Wichtigeres, an das sie nun denken musste.

In diesem Augenblick klingelte ihr Handy.

»Majik«, rief sie erleichtert und drückte auf den Annahmeknopf. Sie lief zurück ins Haus, in ihr Zimmer, schloss die Tür und berichtete dem Freund dann, was ihr wieder eingefallen war.

»Ley«, meinte Majik, nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …« Es klang merkwürdig zögernd und Leyla wurde bewusst, dass die Geschichte laut ausgesprochen noch viel merkwürdiger und fantastischer klang, als sie es ohnehin schon war, und dass Majik sich nun ernsthaft Sorgen um ihren Geisteszustand machte.

»Das war etwas viel für dich in den letzten Tagen«, fügte er langsam hinzu und ließ den Rest seines Satzes in der Luft hängen.

»Die Situation hatten wir schon mal«, murmelte sie. Sie blickte auf. Es schien, als würde der sonderbare Gedankennebel sich immer mehr lichten.

»Was?«

»Du hast mir das schon einmal nicht geglaubt, bis du es gesehen hast.«

»Was habe ich gesehen?«

»Naurénya.« Sie zögerte. Wie genau hatte sie ihn beim letzten Mal überzeugen können? Hatte sie ihn einfach mitgenommen?

»Das ist doch absurd«, rief Majik am anderen Ende der Leitung.

»Uns fehlt auf mysteriöse Art und Weise das Gedächtnis – für denselben Zeitraum. Ich höre Stimmen. Ich weiß plötzlich, dass meine Eltern nicht meine biologischen Eltern sind. Gib mir eine andere Erklärung dafür«, versuchte sie zu argumentieren. »Ich weiß, dass es so ist.«

»Du bist vollkommen …«

»Majik!«, unterbrach sie ihn warnend. Wenn er weiter so zweifelnd redete, würde sie selbst anfangen zu glauben, sie sei verrückt.

»Eine Parallelwelt? Die versteinert ist? Sorry, Kleines. Das ist unmöglich.«

Sie schwieg.

»Schön, gehen wir davon aus, dass es so etwas gibt und es nicht deiner Fantasie entsprungen ist«, lenkte er ein. »Wie sind wir dahin gekommen, und warum ausgerechnet wir? Und: Wieso können wir uns an nichts erinnern und wieso haben wir niemandem etwas davon erzählt?«, fragte er und ihr wurde bewusst, dass er versuchte, ihr ihre Denkfehler aufzuzeigen. Aber nicht mit ihr. Sie öffnete den Mund, um zu antworten und stutzte, denn sie kannte die Antworten nicht.

»Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Aber unsere Uni ist der Schlüssel. Wirklich. Da waren die Übergänge. Der Riss in der Wirklichkeit. Wir müssen zur Uni!«

»Kleines! Ich bin froh, dass ich da mal nicht hin muss«, lachte er.

Sie runzelte die Stirn.

»Majik, bin ich verrückt?«, flüsterte sie leise.

»Nein, nur komplett mit den Nerven am Ende. Du brauchst ganz dringend richtigen Urlaub. Was hältst du davon?«

Sie hielt inne.

»Majik.«

»Komm schon. Zwei Wochen Sonne täten dir sicherlich gut. Ich lade dich ein.«

»Denk nicht mal daran!«

»Aber …«

»Du weißt genau, dass das nicht geht und dass ich das nicht will. Von Katjas Meinung hierzu einmal ganz abgesehen.«

»Das ist mein Problem und nicht deins. Ganz ehrlich, Ley, wann hast du das letzte Mal wirklich den Kopf ausgeschaltet und einfach die Zeit richtig genossen?«

Sie zögerte. Er hatte recht. Sie war nur noch mit Lernen und Arbeiten beschäftigt. Oder damit, sich Gedanken zu machen. Vielleicht war die Idee gar nicht so blöd. Sie gab sich einen Ruck.

»Eine Woche«, sagte sie. »Und ich zahle selber.«

»Okay.«

Sie konnte sein Grinsen fast hören und lächelte nun ebenfalls. Die Idee gefiel ihr immer besser. Sie würde ihr Handy auslassen, ein bisschen Digital Detox konnte schließlich nicht schaden. Und so würden vielleicht auch diese Hirngespinste mit den Namen Naurénya und van Raiken verschwinden. Sie atmete tief ein und aus. Majik hatte sich den Titel Ein Riss in der Wirklichkeit notiert. Vermutlich hatten sie sich dazu einfach eine verrückte Geschichte ausgedacht. Dieses Naurénya existierte nicht wirklich. Punkt!

Ihr Blick glitt durch das Zimmer und fiel auf die Splitter des Steines, den sie vorhin aus Versehen zerschmettert hatte. Zweifel überkamen sie. Sie hatte den Stein bewegt, durch die Luft.

»Majik«, flüsterte sie. »Warte.«

Sie war das gewesen. Und wenn sie noch einmal einen Gegenstand so wie den Stein durch die Luft bewegen würde und Majik es sah, musste er ihr glauben.

Sie ging zum Schreibtisch, nahm einen Bleistift und legte ihn sich auf die ausgestreckte Hand. Dann machte sie vorsichtige Bewegungen. Doch nichts geschah. Der Bleistift blieb liegen, wo er war. Sie seufzte. Dann erst fiel ihr auf, dass Majik und sie sich jetzt seit geraumer Zeit anschwiegen und er offensichtlich darauf wartete, dass sie noch etwas sagte.

»Es geht nicht, Majik. Ich kann nicht in den Urlaub, ich muss dahin.«

»Wohin?«

»Zur Uni.«

Obwohl sie ihn nicht sah, spürte sie, dass er hin- und hergerissen war und sich fragte, ob sie ihm einen Streich spielte. Er ging vermutlich sämtliche Möglichkeiten im Kopf durch, sie von dem Vorhaben abzubringen. Gleich würde er damit beginnen, den Urlaub richtig zu planen, und sie wusste, dass sie sich früher oder später endgültig von ihm überzeugen lassen würde. Doch dann seufzte er resigniert.

»Ich kann mich an nichts von dem erinnern, was du sagst. Es klingt verrückt. Gespenstisch. Und ich würde einen echten Urlaub wirklich super finden. Aber wenn du unbedingt zur Uni möchtest, werde ich dich hinfahren. Ich fahre dich, wohin du willst.«

Sie lächelte erleichtert und überhörte den letzten Satz geflissentlich.

»Danke«, flüsterte sie.

René und Amanda verabschiedeten sich mit leicht bekümmerten Blicken. Leyla war klar, dass ihre Eltern dachten, es läge an der jetzigen Situation, dass sie schon wieder nach Berlin wollte. Noch einmal wiederholte sie ihre Beteuerung, dass sie etwas Wichtiges in der Hauptstadt vergessen hätte und dann nur bleiben wollte, um zu arbeiten. Es tat ihr leid, ihre Eltern so traurig zu sehen, aber den wahren Grund für ihre Abreise konnte sie ja schlecht sagen.

Also winkte sie noch einmal und stieg dann zu Majik ins Auto. Er startete den Motor. Leyla spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. In ein paar Stunden würde sie in Naurénya sein – vorausgesetzt, sie fand den Weg dorthin.

Am vergangenen Abend hatte sie noch einmal die Bruchstücke ihrer Erinnerungen zusammengetragen, sich alles notiert und versucht, noch mehr Antworten zu finden. Sie hatte sogar im Internet nach den Namen van Raiken, Naurénya und Karinaki gesucht. Doch nichts. Weder das Internet noch ihr Gedächtnis waren bereit, weitere Antworten auszuspucken. Also musste Leyla sich wohl überraschen lassen und mit etwas Glück würde sie später erfahren, was sie in Naurénya erwartete. Etwas mulmig war ihr schon bei dem Gedanken, eine Reise ins Unbekannte anzutreten. Sie hoffte nur, dass sie mit dem Inhalt ihres Rucksacks bestmöglich auf alles vorbereitet war.

Sie spürte Majiks Blick von der Seite.

»Was?«, fragte sie und drehte an ihrem Ohrring.

»Nichts«, meinte er, doch es klang zu beiläufig.

»Du denkst immer noch, ich wäre durchgeknallt«, stellte sie fest.

»Kannst du es mir verübeln?«, grinste er, schüttelte zu ihrer Überraschung dann jedoch den Kopf. »Ich habe heute Nacht lange nachgedacht, über das, was du erzählt hast. Ich kann mich an absolut nichts erinnern, es kommen auch keine Bilder oder irgendwas. Aber in gewisser Weise klingt es …«, er zögerte, »… vertraut, was du erzählst.«

Sie merkte, wie schwer es ihm fiel, dies zuzugeben. Erleichtert lächelte sie ihn an.

Die Fahrt verging schnell. Je näher sie ihrem Ziel jedoch kamen, desto nervöser wurde Leyla. Majik, dem das nicht zu entgehen schien, lächelte und legte eine CD mit 90er-Hits ein, die sie stets in gute Laune versetzte. Sie war so dankbar, ihn an ihrer Seite zu haben. Doch sie kannte ihn ebenso gut wie er sie, und so bemerkte sie, dass ihn etwas bedrückte, als sie nach knapp drei Stunden auf dem Parkplatz des Universitätsgeländes hielten.

»Was ist los?«, erkundigte sie sich.

»Nun, du weißt, ich würde für dich durchs Feuer gehen …«

»Was ja keiner verlangt hat«, grinste sie und fragte dann doch nach: »Aber?«

»Ich muss spätestens morgen früh zurück nach Ilmenau. Es ist nicht nur ein Feuer, das mich verbrennen will, sondern es sind zwei. Mein Vater kommt von der Dienstreise zurück und Katja …«

Leyla nickte und kramte in ihrem Rucksack.

»Ich denke, ich werde länger brauchen«, sagte sie.

»Wie meinst du …?« Er brach ab, als sie ihm mit leicht zitternden Fingern ihren Wohnungsschlüssel reichte.

»Danke, dass du mich hergebracht hast. Könntest du meine anderen Sachen noch in die Wohnung bringen? Und Andy Bescheid geben. Und meinen Eltern, dass es mir gut geht und …« Ihre Stimme versagte, sie hatte Angst vor dem, was sie erwarten würde. Majik sah sie sehr sonderbar an.

»Melde dich, wenn du irgendetwas findest oder sonst etwas ist«, flüsterte er und sie nickte, öffnete die Autotür und stieg aus.

Tief durchatmend stand sie vor dem beeindruckenden Universitätskomplex. Was nun? Sie spürte Majiks Blick in ihrem Rücken. Er schien noch zu warten, vielleicht in der Hoffnung, sie würde sich besinnen und wieder ins Auto steigen.

Langsam machte sie ein, zwei Schritte auf den Rasen zu. Wohin? Sie war sich sicher, dass die Universität der Schlüssel war, aber …

Irgendetwas flimmerte schwarz in ihrem Sichtfeld. Sie blinzelte ein paarmal, doch das Flimmern blieb. Unruhe machte sich in ihr breit. Was war das? Sie versuchte, sich selbst zu beruhigen: vermutlich nur ihr Kreislauf. Die Augustsonne brannte unbarmherzig auf sie nieder.

Sie tat ein paar weitere Schritte und ließ ihren Blick suchend über den Campus gleiten, der aufgrund der Semesterferien erwartungsgemäß leer war. Das Flackern wurde stärker. Es störte sie. Sie versuchte, es zu ignorieren, und lief einfach weiter, durch das Flackern hindurch, als wäre es gar nicht da und … Knall.

Stöhnend rieb sie sich die Stirn. Dann zuckte sie zusammen und starrte ihre Umgebung fassungslos an. Der Rasen unter ihren Füßen, der knirschte, als sie ihr Gewicht verlagerte, und der Baum, zu dem der dicke Ast gehörte, gegen den sie eben gelaufen war: Alles war rabenschwarz. Versteinert. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über die Rinde, die seltsam glatt und sehr warm war. Sie blickte ganz langsam auf und eines war klar: Sie befand sich nicht mehr in Potsdam.

›Himmel!‹, dachte Leyla und trotz der Hitze fröstelte sie. Doch dann begann sie zu begreifen. Die Übergänge an der Uni waren wirklich Risse! Die Grenzen bröckelten. Sie rieb sich die Stirn, die an der Stelle, wo sie mit dem Baum kollidiert war, schmerzte. Ihr armer Kopf musste in den letzten Tagen ganz schön etwas aushalten. Dabei hätte sie es wissen müssen. Was hatte Pan ihr immer wieder versucht einzubläuen: Nutze keine Übergänge, die du nicht kennst. Jetzt war ihr klar, warum. Nicht auszudenken, wenn sie direkt den Baum getroffen hätte und in ihm gelandet wäre. Ob sie dann zwischen den Welten gefangen gewesen wäre? Sie hätte Pan fragen sollen, was sie in einem solchen Fall tun musste.

Sie zuckte erneut zusammen. Pan! Natürlich! Ihre Erinnerungen wurden klarer. Sie sah seine Eckzähne, sah die Feuerkugel vor dem inneren Auge, wusste, dass er ein Gestaltwandler war.

»Manchmal braucht es wohl einen kleinen Schlag auf den Kopf«, murmelte sie.

Da war sie also. Trotz der Tatsache, dass sie sich noch immer nicht an alles erinnern konnte und der unheimlichen Schwärze, breitete sich ein warmes Gefühl in ihr aus. Soweit sie das aktuell beurteilen konnte, schien sich nichts verändert zu haben. Das Gelände lag schwarz und verlassen vor ihr.

Leyla richtete den Blick auf die Gebäude geradezu. Zwei Bauwerke waren durch ein weiteres bogenförmiges, auf Säulen getragenes miteinander verbunden. Die Institute für Feuer und für Wasser und die Forschungseinrichtung.

Ob Pan wohl da drin war? Sie musste ihn finden. Also setzte sie sich in Bewegung. Mehrfach musste sie dem merkwürdigen Flackern ausweichen, das den Übergang von einer Welt in die andere markierte. Sie ging langsam, blickte sich aufmerksam um. Doch mehr Erinnerungen wollten sich einfach nicht einstellen.

Leyla erreichte die Treppe, die zur Portaltür des Feuerinstituts führte. An ihrer Uni war es das mathematische Institut und der Ort, an dem sie das erste Mal in diese andere Welt hinübergetreten war. Fast ehrfürchtig ging sie fünf glatte schwarze Stufen hinauf. Sie streckte die Hand nach dem Türknauf aus und hielt dann mitten in der Bewegung inne. Wenn es doch keine gute Idee war, hier zu sein? Vielleicht hatte sie das alles nicht grundlos vergessen.

Sie schüttelte den Kopf. Sie musste es einfach wissen. Entschlossen griff sie nach dem Knauf.

Es passierte nichts. Der Knauf ließ sich nicht einen Millimeter bewegen. Sie seufzte resigniert. Natürlich ging das nicht, er war schließlich versteinert. Sie ärgerte sich kurz über sich selbst, starrte die Tür an und überlegte, wie sie ins Innere der Uni kommen sollte. Da ihr so schnell keine Lösung einfiel, fasste sie den Entschluss, sich erst einmal draußen umzusehen. Sie wollte sich gerade umdrehen, als eine schwere Hand sich auf ihre Schulter legte. Ihr Herz machte einen Satz.

Einen Moment verharrte sie, dann drehte sie ganz langsam den Kopf. Die Hand auf ihrer Schulter war behandschuht. Dicke Eisenplatten bedeckten den Handrücken. Ihr Herz schlug schneller, ihr schwante nichts Gutes. Ruckartig wurde sie herumgedreht, die Hand stieß sie nach hinten und presste sie grob an die versteinerte Portaltür. Nun endlich konnte Leyla denjenigen sehen, der sie festhielt – oder das Etwas. Entsetzt riss sie die Augen auf.

Die Kreatur war Furcht einflößend. Die Augen waren ganz dunkel, ohne das bei Menschen typische Weiß um die Iriden, und standen unnatürlich schräg. Die Ohren lugten viel zu spitz unter zottigem, dunklem Haar hervor und die Haut war fast genauso grau wie die schwere Rüstung, die das Wesen trug.

Leyla keuchte und presste sich nun ihrerseits an die Tür, in der verzweifelten Hoffnung, diese würde sich doch öffnen. Ihr Rucksack drückte sich unangenehm in ihren Rücken. Das Wesen musterte sie. Sie starrte stumm zurück, vor Angst nicht mehr Herr über ihren Körper und ihre Stimme. Irgendwo, ganz weit entfernt in ihrem Kopf, fragte sie sich, wie es möglich war, dass sie dieses Wesen nicht hatte näherkommen hören und …

»Was haben wir denn hier?«, fragte es mit tiefer, knurriger Stimme. Die dunklen Augen funkelten bösartig.

Leyla öffnete den Mund, doch da ruckte die Hand des Wesens höher und umfasste ihren Hals. Sie würgte, schnappte nach Luft und versuchte, sich zu wehren. Sie griff nach der Eisenhand und zerrte daran, um sich zu befreien.

Das Wesen bewegte sich nicht und schien von ihrem Zappeln gänzlich unbeeindruckt.

»Bisschen herumgeschnüffelt, was?«, fragte es weiter.

Sie krächzte etwas Unverständliches.

»Hast du gefunden, was du gesucht hast?«

Endlich ließ der Druck an ihrem Hals nach. Sie japste, zog die Luft ein.

»Antworte«, zischte das Wesen drohend.

»Nein«, stammelte Leyla und rieb sich mit zitternden Fingern den Hals. Ihr Blick huschte zur Seite. Wenn sie jetzt nach links springen würde …

»Antworte!«

Die Stimme wurde lauter. Das unheimliche Gesicht näherte sich ihrem. Irgendwo hatte sie schon einmal solch grausige Gestalten gesehen, aber die waren versteinert gewesen …

»Ich suche einen Freund«, flüsterte sie voller Angst.

Das Wesen schnaubte und machte einen Schritt zurück. Dunkelalben. Das Wort war aus dem Nichts in ihren Gedanken aufgeploppt. Dies musste ein Dunkelalb sein.

»Wir werden die Wahrheit schon noch aus dir herausbekommen«, sagte der Alb.

»Aber das ist die Wahrheit.«

»Lügnerin.«

Mit diesem Wort hob er die Hand und traf sie hart im Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite und knallte gegen den Stein. Sie stöhnte. Vor ihren Augen blitzte es.

»Mitkommen«, knurrte der Alb und packte sie erneut. Benommen vom Schmerz, taumelte sie die Stufen hinunter. Sein fester Griff ließ ihr auch gar keine andere Möglichkeit.

Sie gingen am Feuerinstitut vorbei und liefen durch den Säulengang, der die Forschungseinrichtung trug. Langsam ließ der Schmerz in Leylas Kopf nach und ihre Gedanken begannen wieder damit, ihre Arbeit aufzunehmen. Sie hatte absolut keine Ahnung, was gerade passierte, aber sie musste hier weg. Ohne noch groß zu überlegen, warf sie sich nach vorne, um sich aus dem Griff zu befreien. Doch die Hand hielt sie erbarmungslos fest. Die Finger bohrten sich noch etwas stärker in ihre Schulter, sodass sie stöhnte. Der Alb hinter ihr lachte höhnisch und schubste sie weiter vorwärts. Als wäre sie ein Blatt und er der Wind, der mit ihr spielte, gab er die Richtung vor.

Ihr Körper verkrampfte sich. Er schob sie nach links, wo ein weiteres versteinertes Gebäude wartete.

Sie erkannte die Bibliothek. Hier war sie schon mehrmals gewesen. Das große Loch im bodentiefen Fenster führte direkt in den Lesesaal. Dort hatte sie sich mit Pan und dem arroganten Theodor van Raiken unterhalten. Jetzt aber stand jemand anderes davor.

Sie schauderte, als sie den zweiten Dunkelalben musterte. Was hatten diese Wesen hier zu suchen? Und was in aller Welt wollten sie von Leyla?

Von irgendwoher erklang ein Geräusch. Leyla spitzte die Ohren. Sie wollte verharren, doch sie wurde unsanft weitergestoßen. Sie bohrte ihre Fersen in den Boden und sträubte sich mit aller Macht gegen das Weiterlaufen. Das bereute sie prompt. Der Griff des Alben wurde noch fester. Sie unterdrückte einen Schrei und stolperte vor ihm her.

Der zweite Alb hatte sie längst entdeckt, doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Kalt und ausdruckslos sah er ihnen entgegen. Leyla begann zu schwitzen, das Blut rauschte in ihren Ohren. Wie sollte sie hier nur entkommen? Oh, warum hatte sie nicht auf Majik gehört. Sie könnte jetzt auf dem Weg nach Italien oder Spanien sein. Aber sie hatte ja hierher gewollt. Warum? Wenn sich doch nur ein Übergang plötzlich und unmittelbar vor ihr bilden würde. Aber dann würde sie den Alben vielleicht mit in ihre Welt reißen. Das wäre furchtbar!

Sie erreichten den zweiten Alben, der immer noch regungslos vor dem Loch stand.

»Was soll das? Wer ist das?«, fragte er nur. Seine Stimme klang irgendwie heller als die des ersten. Er wirkte zudem ein wenig kleiner, fand Leyla. Auch wenn er sich sonst kaum von dem ersten Dunkelalben unterschied, mutmaßte sie deshalb, dass er jünger war – und damit vielleicht unerfahrener.

»Geht dich nichts an. Wo ist er? Drinnen?«

›Er? Wer zur Hölle ist er?‹, dachte Leyla angespannt und schielte zu dem Loch im Fenster. Ihr Puls beschleunigte sich.

»Nein«, sagte der jüngere Alb. »In der Arena.«

Der Alb, der Leyla hielt, knurrte. Dann schubste er Leyla ohne Vorwarnung. Der Druck der Hand verschwand. Überrascht taumelte sie nach vorne. Sie machte sofort einen Satz zur Seite und setzte zum Spurt an, duckte sich, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten sah, machte einen weiteren Satz nach vorne und … wurde wieder zurückgerissen. Der jüngere Alb hatte nur einen Schritt machen müssen, um sie aufzuhalten.

»Was soll das?«, fragte er verärgert.

»Pass auf das Balg auf. Ich gehe ihn suchen.«

Der Jüngere schien von der Aufgabe nicht begeistert. Er warf einen Blick auf das Loch im Fenster, das, wie Leyla nun feststellte, viel größer war als bei ihrem letzten Besuch in Naurénya. Doch dann nickte er.

Der, der sie am Feuerinstitut aufgegabelt hatte, drehte sich wortlos um und marschierte davon. Kaum war er außer Sicht- und Hörweite, begann Leyla wieder zu zappeln.

»Lass mich los!«, fauchte sie.

Doch der Wunsch blieb unerfüllt. Sie trat und schlug um sich, doch der Alb blieb davon gänzlich unbeeindruckt. Als es ihm zu bunt wurde, packte er Leyla einfach grob am Haar und wirbelte sie herum, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Sie schrie auf.

»Jetzt reicht es«, knurrte er hinter ihr. »Du kleine Kratzbürste entkommst mir nicht. Das würdest du nicht einmal dann, wenn du schon deine Fähigkeiten entwickelt hättest.« Er lachte abfällig und sie schauderte. Dann wurde sie ruhig. Fähigkeiten. Konnte sie damit vielleicht etwas ausrichten? Offensichtlich glaubte er, sie hätte keine. Nur – sicher, dass sie welche hatte, war sie sich auch nicht.

Dieser Luftstoß, der den Stein gegen die Wand geschmettert hatte, das hätte auch ein normaler Windstoß sein können, oder? Sie hatte keine besonderen Fähigkeiten. Sie stammte aus der falschen Welt. Aber sie war adoptiert! Und Wind in einem geschlossenen Raum war auch höchst selten. In ihrem Inneren wusste sie einfach, dass der Stein durch ihre Kraft von ihrer Hand geschleudert worden war. Wenn sie den Luftstoß also wiederholen könnte … Vielleicht konnte sie das Überraschungsmoment nutzen. Aber wie funktionierte diese verdammte Elementmagie?

Mit dem merkwürdigen Netz, das sich wie ein Adersystem durch ihren Körper zog. Sie stutzte. Woher wusste sie das? Egal.

Sie presste die Augen zusammen und suchte nach der Kraft. Doch sie fand nichts. Sie war viel zu aufgeregt, als dass sie sich wirklich auf etwas hätte konzentrieren können.

Der Schweiß lief ihr über die Stirn und ihr wurde bewusst, wie ungewöhnlich schwül es plötzlich war. Sie öffnete die Augen wieder. Dunkle Wolken ballten sich am Horizont zusammen. Auch das noch. Sie zog die Nase kraus, blickte in die Ferne und hielt besorgt Ausschau nach dem verschwundenen Dunkelalben und dem er, der gesucht wurde.

Die ersten Regentropfen landeten auf ihrem Gesicht. Warum standen sie eigentlich hier draußen? Hielt der Dunkelalb Wache? War dort drinnen womöglich etwas Wichtiges?

»Was macht ihr hier überhaupt?«, fragte sie vorsichtig, während sie überlegte, wie sie ihn dazu bringen konnte, dass er ihre Haare losließ.

Der Alb antwortete nicht. Sie hatte auch nichts anderes erwartet. Weitere Regentropfen landeten auf ihrem Gesicht. Plötzlich passierte etwas. Sie konnte ihren Kopf nicht drehen, um sein Gesicht zu sehen, doch sie spürte, dass er mit einem Mal wieder Haltung annahm und sie wusste sofort, wieso. Der andere Alb näherte sich ihnen erneut. Er ging rasch, mit großen Schritten und er war nicht mehr allein. Im Schlepptau hatte er einen weiteren Dunkelalben.

Fast hätte Leyla vor Erleichterung gelacht. Sie war sich nicht sicher, was oder wen sie erwartet hatte, spürte aber, dass sich ihr Puls ein wenig beruhigte.

Das änderte sich augenblicklich wieder, als der Neuankömmling hinter sich griff und mit einer fließenden Bewegung ein langes, breites Schwert zog, das er auf den Rücken geschnallt hatte. Eine furchtbare Vorahnung machte sich in Leyla breit und erneut stieg Panik in ihr auf.

»Das ist sie?«, fragte der neue Alb, kaum dass er sie erreicht hatte.

Die Hand löste sich endlich aus Leylas Haaren, aber die beiden Alben vor ihr versperrten jeglichen Fluchtweg. Den Blick immer noch starr auf das glänzende Schwert gerichtet, wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den jüngeren Alben stieß.

Der Neuankömmling musterte sie eingehend, dann sagte er mit lauter, dröhnender Stimme: »Ist das ein schlechter Witz?«

»Ich verstehe nicht«, sagte der, der sie aufgegabelt hatte.

»Sie sieht ja wahnsinnig gefährlich aus«, schnaubte der Neue.

»Sie könnte ein Spion sein.«

Wieder schnaubte der Neue. Er schien erbost darüber, sich um so eine Nichtigkeit kümmern zu müssen.

»Hat sie überhaupt schon ihre Kräfte?«, fragte er abschätzig.

»Es scheint nicht so«, erwiderte der andere. »Aber sie hat versucht, in das Feuerinstitut zu gelangen. Das finde ich schon etwas merkwürdig, wenn man bedenkt, dass jeder weiß, dass durch die versteinerten Türen kein Durchkommen ist.« Er machte eine kurze Pause und sagte dann eindringlich: »Jedenfalls, soweit wir informiert sind.« Das wir betonte er recht auffällig, doch der Alb mit dem Schwert wirkte kaum interessiert.

»Traurig, dass du das nicht selbst in die Hand nehmen kannst, Yaric «, sagte er. »Also«, wandte er sich an Leyla. »Was willst du hier?«

»Ich …«, stammelte sie. »Nichts. Ich …«

Ungeduldig klopfte der Alb mit dem Schwert auf seinen Unterarm. Als das Metall die Rüstung berührte, klirrte es unheilvoll. Leylas Atem beschleunigte sich.

»Wer schickt dich?«

»Niemand«, beteuerte sie angespannt.

»Sollst du Pagnon holen?«, fragte der Alb ungerührt weiter. Zu Leylas Überraschung vernahm sie daraufhin ein Lachen, das sich schnell in ein Husten wandelte. Es kam von dem jungen Alben hinter ihr. Sie drehte den Kopf ein wenig, um ihn zu sehen.

»Glaubt Ihr das ernsthaft? Dass so etwas wie sie …« Wieder lachte der jüngere Alb. »Wie soll sie denn aus einer versteinerten Uni einen unauffindbaren Gegenstand holen, wenn nicht einmal w…?« Er verstummte schlagartig, als er die Blicke bemerkte, die ihm zuteilwurden.

»Nein«, knirschte der mit dem Schwert. »Das glaube ich nicht. Allerdings kann ich mich auch nicht daran erinnern, dir das Wort erteilt zu haben.«

»Ich meinte, also … Verzeiht«, stammelte der Jüngere verlegen.

»Die Regeln!«, forderte der mit dem Schwert.

»Im Schatten geschmiedet, der Treue …« Weiter kam er nicht.

Das glänzende Schwert zuckte blitzschnell vor, direkt an Leylas Arm vorbei. Sie spürte den kalten Lufthauch. Ein Röcheln erklang. Die Härchen in Leylas Nacken stellten sich auf.

Sie hatte es für unmöglich gehalten, dass etwas diese Rüstung durchdringen konnte, doch der Stich hatte sein Ziel offensichtlich nicht verfehlt. Mit einem widerlichen Geräusch zog der Alb sein Schwert zurück. Es glänzte nass – und das nicht vom Regen.

Leyla stieß ein entsetztes Keuchen aus. Der Alb hinter ihr sackte in sich zusammen. Berührte sie. Sie sprang zur Seite. Etwas streifte ihren Arm, seine Rüstung schepperte, als er auf dem Boden aufschlug.

»Jetzt zu dir«, sagte der Alb.

Sie wich zurück. Ihr Fuß stieß gegen den am Boden liegenden Körper. Sie warf einen Blick darauf und Übelkeit stieg in ihr auf. Sie taumelte.

»Also«, sagte der Alb ruhig, als wäre nichts geschehen.

Leyla wich abermals zurück, blieb erneut mit dem Fuß hängen und dieses Mal strauchelte sie richtig. Sie fiel rücklings über den toten Alben. Die Fassade der Universitätsbibliothek fing sie auf.

»Ich habe nichts«, rief sie voller Entsetzen und versuchte, den grauen Berg, der nun am Boden vor ihr lag, nicht allzu oft anzusehen. Sie musste weg!

»Was hast du in deinem Beutel?« Der namens Yaric streckte seine Hand fordernd aus. Leyla, die mit den Nerven endgültig am Ende war, presste sich an die Wand. Sie versuchte, ihre Hände in die glatte Steinfassade zu krallen, rutschte ab und ertastete das scharfkantige Fensterloch.

Ein Blitz zuckte in der Ferne am Himmel und der Regen wurde stärker. Als sie nicht reagierte, schoss die Hand des Alben vor. Er wollte sie packen. Abwehrend riss Leyla die Hände hoch. Eine gewaltige Druckwelle löste sich von ihren Handinnenflächen. Die Kraft drückte sie nach hinten und gegen die versteinerte Fassade der Bibliothek. Die beiden Dunkelalben wurden zurückgeschleudert. Sie wankten, machten ein paar Schritte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, fielen jedoch nicht.

Leyla keuchte, blickte auf ihre Hände. Das war doch … Sie sah zu den Alben. Die beiden wirkten ein wenig irritiert, aber nur für einen winzigen Moment. Und diese kostbaren Sekunden verschenkte Leyla fast, als sie sich auf die Angst vor der ungebändigten und gefährlichen Kraft in ihr konzentrierte. Aber nur fast. Dann erwachte sie aus ihrer Erstarrung.

Als die Dunkelalben wieder einen Schritt auf sie zu machten, wirbelte Leyla herum. Vorbei an ihnen konnte sie nicht. Auf dem freien Gelände würden sie sie zu schnell einholen, also blieb ihr nur ein Weg. Sie sprang mit einem großen Satz durch das zerborstene Fenster und gelangte so ins Innere der Bibliothek.

Der Lesesaal war schwach erleuchtet. Jemand hatte in die leeren Halterungen an den Wänden Fackeln gesteckt. Die Tische waren teilweise demoliert, Steinsplitter lagen auf dem Boden. Etwas klirrte. Ein Dolch flog dicht an Leylas Ohr vorbei. Sie sah sich hektisch um und ihr wurde klar, dass die Flucht in das Innere der Bibliothek nicht die beste Entscheidung gewesen war. Am anderen Ende des Raumes stand ein weiterer Alb, der sie etwas verdutzt musterte.

Nur kurz registrierte sie noch, dass irgendetwas Starkes ein kleines Loch in eine der steinernen Türen geschlagen oder gesprengt hatte. Dann sauste sie auch schon an den Tischchen und Sesseln vorbei auf die große Treppe zu. Die beiden anderen Alben sprangen durch das Fenster. Sie hörte kurze Rufe und bemerkte, wie sich ihre Verfolgerzahl erhöhte.

»Und was, denkst du, soll dir das bringen?«, hörte sie die höhnischen Worte hinter sich.

Sie stolperte, als sie sich umsah, fing sich aber am Geländer ab und rannte weiter in Richtung der Galerie. Nur wenige Stufen trennten sie und die Alben. Sie legte einen Zahn zu, warf sich förmlich die Treppen hoch und stolperte erneut. Innerlich fluchte sie. Sie konnte kaum etwas sehen. Durch den hereinbrechenden Sturm hatte sich der Himmel dramatisch verfinstert. Das wenige Licht, das sonst durch die nahezu geschwärzten Fenster ins Bibliotheksinnere fiel, fehlte. Vielleicht war aber gerade das ihre Chance, sich vor den Alben zu retten. Sie musste mit der Dunkelheit verschmelzen.

Etwas berührte sie am Rücken. Sie warf sich zur Seite und entging dem Griff nur knapp. Endlich hatte sie den oberen Treppenabsatz erreicht und sprintete nach links, um zwischen den gigantischen Bücherregalen zu verschwinden.

Die polternden Schritte folgten ihr. Sie bog erneut nach links ab, in einen weiteren Gang, dann wieder nach rechts, noch einmal links, immer darauf bedacht, sich so weit wie möglich von dem Eingang zu entfernen.

Keuchend hielt sie inne. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie spitzte die Ohren, hörte aber nichts. Was nichts zu sagen hatte. Vorhin hatte sich dieser Yaric schließlich auch an sie heranschleichen können. Sie lief weiter, hielt dann wieder an und wandte sich um. Immerhin war hinter ihr niemand. Sie kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit etwas besser zu sehen, und drehte sich im Kreis. Regale, Bücher und weitere Regale. Aus welcher Richtung war sie jetzt eigentlich gekommen? Sie hörte ein Geräusch und spitzte die Ohren. Da war es wieder: ein Knirschen, wie es schwere Stiefel verursachen. Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Sie bog um das Regal herum und landete im nächsten Gang.

Ihr Herz hämmerte wie wild und sie rang nach Atem. Es war schwer, sich zum Weiterlaufen durchzuringen. Das Gewicht ihres Rucksacks schien plötzlich erdrückend, sie hatte Seitenstiche und ihre Beine zitterten. Doch sie zwang sich, den Schmerz zu ignorieren. Sie spannte sich an und packte die Träger des Rucksacks fester, damit er beim Laufen nicht zu sehr auf ihrem Rücken hüpfte. Sie musste hier raus – und zwar schnellstmöglich.

Hastig bewegte sie sich durch den nächsten dunklen, langen Gang. Draußen blitzte es und da sie nah an den Fenstern sein musste, wurde ihre Umgebung für einen Sekundenbruchteil erleuchtet. Und für eben jenen Sekundenbruchteil konnte sie ihn sehen, den gewaltigen Schatten eines Alben, der sich dort am Ende des Ganges aufbaute. Lautlos. Bedrohlich. Sie keuchte entsetzt, machte augenblicklich kehrt und lief den Gang zurück. Wenn dort am anderen Ende noch ein Dunkelalb auftauchte, saß sie in der Falle. Da! Waren da Schritte? Was sollte sie tun?

Sie hatte Glück, keine böse Überraschung erwartete sie an diesem Ende des Ganges. Sie sauste in den nächsten Gang, ohne aufgehalten zu werden. Doch sie wusste, dass zumindest der eine Alb ihr dicht auf den Fersen war. Als sie um das nächste Regal fegte, schoss eine Hand aus der Dunkelheit auf sie zu. Sie keuchte, warf sich zu Boden und rollte sich auf die Seite. Jemand packte sie am Fuß. Sie trat heftig zu. Irgendetwas traf sie. Ihr Fuß war frei. Sie zog sich über den Boden vorwärts und richtete sich auf. Ihre Beine knickten unter ihr weg, sie strauchelte. Dann warf sie sich zur Seite, damit ihr Angreifer sie nicht doch erwischte. Sie rannte. Ihre Lunge brannte, sie schmeckte Blut. Ihre Schritte wurden langsamer und dann hielt sie inne.

Hastig glitt ihr Blick umher. Sie schien allein zu sein. Oder? War da etwas? Ein Schemen, der in der Dunkelheit umher huschte? Ihr Puls raste. Wo musste sie entlang? Sie hatte die Orientierung vollkommen verloren. Warum war diese verdammte Bibliothek auch so groß? Wo waren die Ausgänge? Es musste doch mehrere Türen geben. Nein, halt! Sie war durch ein Fenster rein, die Türen ließen sich nicht bewegen. Sie überlegte fieberhaft. Sie konnte ja schlecht die Fenster einschlagen, das würde jeder hören und …

Vor ihrem inneren Auge blitzte ein Bild auf. Es gab einen alternativen Ausgang. Theodor hatte sie hier lang geführt. Aber wo genau war das gewesen? Er war von der Galerie aus gesehen nach rechts und dann? Sie stutzte plötzlich. Wenn er als erstes rechts abgebogen war, war sie jetzt vollkommen falsch. Also musste sie zurück zum Ausgangspunkt. Sie drehte sich um die eigene Achse. Draußen blitzte es wieder.

Der riesige Schatten stand am Ende des Ganges. Sie unterdrückte einen Schrei und fegte, noch einmal alle Kräfte mobilisierend, davon. Sie musste diesen anderen Ausgang finden. Wo zur Hölle war Pan, wenn man ihn dringend brauchte, fragte sie sich.

Abrupt hielt sie an. Pan war tot. Versteinert. Schlagartig wurde ihr das bewusst und sie sah das entsprechende Bild vor ihrem inneren Auge. Sie taumelte. So lückenhaft ihre Erinnerungen auch waren, so sicher war sie sich. Und die Erkenntnis schmerzte. Ihre Augen wurden feucht. Von neuen Bildern, Erkenntnissen und Gefühlen derart abgelenkt, sah sie den Schemen nicht, der aus dem Gang heraus auf sie zuschoss.

Ardantica

Подняться наверх