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Reichenbach im Allgäu

Sommer 2014



Am Straßenrand stand ein roter VW Golf und hatte hinten rechts einen Platten. Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren kniete am Boden und montierte das Ersatzrad. Zum Glück war genug Druck im Reservereifen.

Ein weißes Hemd lag auf dem Sitz.

Als die ersten beiden Schrauben wieder festsaßen, richtete sich der Mann einen Augenblick auf und blickte hinüber zu dem hübschen Städtchen, das wenige Kilometer entfernt vor ihm lag.

Die Kirchturmspitze glänzte im Schein der Nachmittagssonne, die auf seinen Schultern brannte.

Er atmete tief ein und wieder aus.

Das war noch einmal gutgegangen.

Ausgerechnet so kurz vor dem Ziel musste ihm das noch passieren. Ein Knall, Schlingern des Wagens, Bremsenquietschen, sonst nichts. Der brave Golf stand nach wenigen Metern.

Seine braungebrannten Hände zogen die letzten Schrauben fest und gaben dem Reserverad einen lustigen Schwung. Nachdem er sich die braunen Haare aus dem gutgeschnittenen Gesicht gewischt hatte, nahm er den Wagenheber ab und verstaute ihn im Kofferraum.

Mit wenigen Schritten lief er zu dem kleinen Bach, der ihn schon einige Zeit begleitet hatte, und wusch sich. Das kalte Wasser lief prickelnd über den Oberkörper. Dann rieb er sich das Gesicht trocken und zog sein weißes Hemd wieder an. Er wollte einen guten Eindruck machen, wenn er seine neue Heimat zum ersten Mal betrat:

Die kleine Stadt dort am Fuß der Allgäuer Alpen.

Reichenbach lag unterhalb des Nebelhorns und nur wenige Kilometer von Oberstdorf entfernt.

Weit genug von München weg!

Dies sollte ihm einen Neuanfang ermöglichen.

Keine Großstadt mit einer Schlangengrube voller erziehungsresistenter Schüler.

Nein, hier könnte er wirklich neu anfangen!

Die kleine Ortschaft Reichenbach wirkte so einladend. Es war Liebe auf den ersten Blick. Verwinkelte Gassen bogen von der Hauptstraße ab. Freundliche Häuser mit breiten Dächern und schön geschnitzten Balkonen, auf denen leuchtend rote Geranien blühten, standen einladend an der Straße. Ein reich verzierter Brunnen schmückte die Mitte des Rathausplatzes. Die Inschrift in golden glänzenden Buchstaben am Fuße des Brunnenheiligen lud den Fremden ein, sich an dem erfrischenden Wasser zu laben. An einer Brücke war ein verwittertes Holzschild befestigt. Im langsamen Vorbeifahren las er: Für Traktoren gesperrt!

Er ließ seine Augen über den Fluss schweifen, zu den Bergen hinüber, die in bläulichem Dunst hinter den Hügeln aufragten.

Er hielt an und blickte zum Nebelhorn empor.

Gewaltige Gebilde aus Stein, die seine Phantasie beflügelten. Märchen- und Fabelwesen, Hexen und Feen wohnten dort oben über den grünen Almen. Er liebte den Zauber der ungebändigten Natur.

Das Hupen eines Autos schreckte ihn aus seinen Gedanken.

„Wohl verrückt geworden, he?“ rief der Fahrer eines offenen Sportwagens. „Mitten auf der Straße zu pennen. Blöde Großstadtaffen!“

Großstadt?

Stimmt, mein Münchner Kennzeichen, stellte er fest.

Er machte eine entschuldigende Handbewegung, fuhr wieder an und bog in die nächste Straße ein.

Ein Schild wies ihm den Weg: Zur Schule.

Das Schulgebäude passte nicht in das Stadtbild, obwohl der moderne Bau aus Glas und Beton sehr zweckmäßig wirkte. Aber da die Schule ein wenig entfernt vom Ort am Waldrand stand, neben Sportgelände und Fußballstadion, machte sie einen guten Eindruck.

Während er sich der Schule näherte, sah er auf dem Sportplatz junge Männer in bunten Trikots über den Rasen laufen. Rot spielte gegen Gelb.

Er musste grinsen und hielt kurz an. Noch vor wenigen Tagen lief das DfB-Pokalfinale in Berlin zwischen Bayern und Dortmund, dass die Roten mit 2:0 nach Verlängerung gewonnen hatten.

Jetzt sah er wieder Rot gegen Gelb. In der Allgäuer Stadt Reichenbach.

Was für ein Kontrast!

Aber plötzlich fühlte er sich frei und glücklich.

München war weit weg!

„Tor, Tooor!“ schrien die zehn Zuschauer, als ein Blondschopf in Rot nach raschem Spurt den Ball in Tor schoss.

Der Lärm eines Schwimmbades tönte herüber. Die spielenden, planschenden Kinder übertönten mit ihrem Geschrei noch die Rufe der Fußballfans.

Badefreuden und Schulalltag, dachte der Mann und fühlte sich glücklich.

Er wendete und fuhr in die Stadt zurück. Durch einen Torbogen, dann links und die nächste Straße rechts, so hatte es ihm Frau Obermayr beschrieben. Drei Minuten mit dem Auto, stellte er fest, also etwa zwölf Minuten zu Fuß.

Er fand einen Parkplatz genau vor Nummer einundzwanzig. Es war ein freundliches Haus mit weiß getünchten Mauern, grünen Fensterläden und einem schönen Balkon im ersten Stock. Auch hier blühten rote Geranien in den Kästen.

Er stieg aus und schloss sein Auto ab. Dann ging er langsam auf das Gartentor zu. „Obermayr“, stand auf dem Klingelschild, „einmal läuten“.

Das Schild darunter war nicht beschriftet. Er klingelte und ging zur Haustür. Ein hübscher kleiner Garten mit Jasmin und Fliedersträuchern lag vor dem Haus; auf den Stufen zur Eingangstür standen zwei Schalen mit blühenden Fuchsien. In den Beeten neben dem Gartenweg blühte roter und weißer Phlox.

Aus dem geöffneten Fenster neben der Haustür hörte er das Klappern von Geschirr.

„Moment“, rief eine Frauenstimme, „ich komme gleich.“

Dann hörte man das Schlagen einer Tür und tippelnde Schritte.

Eine ältere Dame öffnete. Mit ihr kam ein Schwall von Küchenduft aus der Tür. Frisch gebacken, dachte Henri, wie zu Hause.

„Ja, bitte?“, fragte sie freundlich.

„Ich bin Henri von Bartenstein“, stellte sich der Mann vor.

„Oh, Herr von Bartenstein“, rief die Hausfrau. „Gerade haben wir von Ihnen gesprochen.“

„Tatsächlich?“

„Aber ja. Ich habe meiner Schwester am Telefon erzählt, dass der neue Lehrer bei mir wohnen wird. Wie in alten Zeiten, habe ich gesagt. Sie müssen nämlich wissen, dass mein Mann auch Lehrer war. Aber nun kommen Sie doch erst einmal herein. Ich bin Resi Obermayr.“

Damit trat sie von der Tür zurück und bot ihm die Hand. Henri betrat das Haus.

Da er hier wohnen sollte, sah er sich mit einem raschen Blick genau um. Es gefiel ihm hier sofort: ein breiter Flur, glänzend gebohnerte Holzdielen mit einem rötlichen Teppich belegt, mehrere Türen und auf einer alten Kommode ein großer Asternstrauß. Henris Blicke verweilten einen Augenblick auf der Treppe, die sich in behäbiger Rundung nach oben in den ersten Stock erhob. Dann folgte er der einladenden Handbewegung von Frau Obermayr. Auf dem Tisch war für zwei Personen Kaffeegeschirr aufgedeckt. Ein frischer, duftender Napfkuchen stand in der Mitte.

„Mögen Sie Kuchen?“, fragte Frau Obermayr.

„Meine heimliche Leidenschaft.“

„Ach“, rief sie freudig, „meine auch. Aber setzen Sie sich doch. Ich hole schnell den Kaffee. Dann können wir ein wenig plaudern. Oder möchten Sie erst Ihr Zimmer sehen?“

„Das kann noch warten. Aber wenn ich mir vielleicht zuerst die Hände waschen dürfte? Ich hatte nämlich eine Reifenpanne.“

„Na, so ein Pech. Kommen Sie, ich zeige ihnen das Badezimmer.“

Einige Minuten später saßen sie sich bei Kaffee und Kuchen gegenüber. Henri genoss die gemütliche Atmosphäre.

Er fühlte sich vom ersten Augenblick an wohl. Fast eine Stunde lang hörte er ihr zu, aß Kuchen, trank Kaffee und nickte.

Sehr bald kannte er ihre ganze Lebensgeschichte. Als Kind eines Bauern hatte Resi Obermayr das Licht der Welt erblickt, vor siebenundsechzig Jahren. Sie sieht eigentlich viel jünger aus, dachte Henri, sie hat so lebendige Augen und ein so fröhliches Lächeln. Mit achtzehn heiratete sie einen jungen Lehrer und zog mit ihm in die nahe Kleinstadt. Sie schenkte ihm eine Tochter und war eine gute Ehefrau. Später ging die Tochter nach Amerika und heiratete dort einen Farmer. Ihr Mann war vor einigen Jahren gestorben. Seit dieser Zeit lebte sie allein, aber sie schien sich mit dem Leben gut auszukennen, war rüstig und trotz allem guter Dinge.

Vor zwei Monaten hatte der Schuldirektor bei Resi Obermayr angefragt, ob sie nicht ein Zimmer an einen Lehrer aus München vermieten wolle.

Und ob sie wollte!

Wo sie doch so viel Platz hatte. Und so viel Zeit. Außerdem konnte sie viele gute Ratschläge geben.

„Ich schwatze doch zu viel“, sagte sie lächelnd, nachdem sie geendet hatte.

„Aber nein, ich höre Ihnen gern zu. Übrigens, Ihr Kuchen schmeckt ganz ausgezeichnet. Auch Ihr Kaffee ist so, wie ich ihn gern mag.“

„Sie sind sehr liebenswürdig, junger Mann“, bemerkte sie geschmeichelt.

„Nun möchte ich Ihnen aber auch etwas über mich erzählen“, sagte Henri. Im Gegensatz zu Resi Obermayr brauchte er nur wenige Minuten, um seinen Lebenslauf zu schildern. Alter vierunddreißig. Abgeschlossenes Studium an der Universität. Unverheiratet, keine Kinder.

„Ich habe fast zehn Jahre in München als Lehrer gearbeitet.“

„Warum haben Sie die Stadt verlassen? München ist doch sehr schön.“

„Ja, sicher eine der schönsten Städte in Deutschland“, antwortete Henri nachdenklich und nickte mit dem Kopf.

„Warum haben Sie sich dann hierher versetzen lassen, ins einsame Allgäu?“

„Ich brauchte Abstand.“

„Warum?“

„Wegen der Schlangengrube.“

Die ältere Dame blickte Henri leicht verwundert an. „Ich verstehe nicht.“

„So nennen wir die Schülerinnen im Alter von 18-20 Jahren, deren einziges Ziel es ist, erotische Reize an die Lehrer auszusenden um dadurch Erfolge zu erzielen.“

„Ich verstehe“, sagte Resi Obermayr nachdenklich. „Haben Sie schlechte Erfahrungen mit Schülern gemacht.“

„Ja, aber nicht nur ich, sondern auch Kollegen von mir. Die Schlangengrube an meiner damaligen Schule war sehr ausgeprägt.“

„Wollen Sie mir davon erzählen?“

Henri sah die alte Frau tiefgründig an, nickte dann mit dem Kopf. „Ja, das würde ich gerne, aber nicht jetzt. Vielleicht etwas später.“

Sie blickte ihm ernst in die Augen. Nach einer kurzen Pause stand sie auf. „Möchten Sie jetzt Ihr Zimmer sehen?“

Henri ging mit ihr in den ersten Stock. Seine Hand strich dabei über das dunkel glänzende Eichenholz des Geländers, als er die Stufen hinaufging. Ein dicker Velourteppich schluckte jedes Geräusch der Schritte. Oben blieb er auf dem kleinen, blitzsauberen Vorplatz stehen. Resi Obermayr öffnete die Tür neben der Treppe und bat ihn einzutreten.

Henri blieb überrascht auf der Schwelle stehen.

Der Raum übertraf alle seine Erwartungen. Er war sehr geräumig; zwei Fenster gaben angenehmes Licht. Die Abendsonne sandte die letzten goldenen Strahlen herein. Auf dem hellen Riemenfußboden lag ein dicker, bunter Teppich. Am linken Fenster stand ein großer Schreibtisch aus Eichenholz, dessen Platte mit grünem Filz bezogen war. Deckenhohe Wandregale boten viel Platz für Bücher. Gleich neben der Tür stand eine behagliche, braunbezogene Sitzgruppe, daneben eine Blumenbank mit bunten Herbstblumen in einer Tonschale. Über dem Sofa hing an der weißen Wand eine Reproduktion von Manet, eine bunte Wiesenlandschaft mit weiblichen Figuren im Hintergrund.

Es war ein anheimelnder Raum.

„Das ist doch sicher das Arbeitszimmer Ihres Mannes gewesen“, fragte Henri.

Resi Obermayr nickte. „Es steht schon so lange leer. Da habe ich mir gedacht... Gefällt es Ihnen?“

„Und ob es mir gefällt!“

„Na, sehen Sie! Gleich nebenan ist Ihr Schlafzimmer. Auf der anderen Seite des Flurs liegen Bad und Toilette.“

„Es sieht alles wunderbar aus“, bedankte sich Henri.

„Also, ich lasse Sie jetzt allein. Sie wollen sicher Ihre Sachen aus dem Wagen holen und einräumen. Der Haustürschlüssel liegt auf dem Schreibtisch. Ich habe auch ein Klingelschild für Sie anfertigen lassen. Wäre es Ihnen Recht, wenn ich unter ihrem Namen „Dreimal läuten“ schreibe? Dann wissen wir gleich, wer von uns beiden gemeint ist.“

Henri nickte zustimmend. Ihm gefiel es hier sehr gut. Als Frau Obermayr zur Treppe ging, fragte er: „Kann ich mein Auto vor dem Haus stehen lassen?“

„Ach ja, natürlich. Sie können aber auch hinter das Haus fahren. Dort ist ein leeren Holzschuppen.“

Henri bedankte sich. Resi Obermayr ging nach unten. Sie freute sich, dass ihm offensichtlich alles gut gefiel. Dieser nette junge Mann war ihr als Mitbewohner sehr willkommen.

Henri holte seine Koffer und richtete sich häuslich ein. Dann nahm er ein Duschbad und zog sich im Schlafzimmer frisch an. Er hatte zwar zwei Anzüge in den Schrank gehängt, aber er nahm sich eine Jeans und ein hellblaues Hemd. In dieser Kleidung fühlte er sich am wohlsten. Bisher war er auch in Jeans zum Unterricht gegangen, dies war in München so üblich.

Er sah sich in seinem Schlafzimmer um. Auch hier lag ein bunter Teppich auf dem hellen Holzfußboden. Ein breites Bett nahm die eine Wand ein, gegenüber stand eine zierliche Kommode aus Kirschholz mit einem hübschen Spiegelaufsatz. Ein dazu passendes Nachtkästchen stand neben dem Bett mit einer Lampe, deren Schirm aus hellgelbem Leinen bestand, passend zu den Vorhängen am Fenster.

Henri warf einen Blick hinaus. Es wurde Abend. Die Sonne war untergegangen, aber er hatte gerade jetzt noch Lust auf einen kleinen Spaziergang. Er lief die Treppe hinunter und ging mit elastischen Schritten durch den Hausflur und über den Steinplattenweg zur Straße. Er wollte noch einmal den Rathausplatz und die umliegenden engen Straßen sehen.

Als er nach einer Stunde zurückkam, telefonierte er mit seinem Handy kurz mit dem Schuldirektor. Beide vereinbarten für den nächsten Tag ein Treffen in der Schule, ein erstes Kennenlernen.

Resi Obermayr kam aus der Küche. „Ich habe eine Kleinigkeit gekocht, nichts Besonderes, aber ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.“

Henri hörte, wie sein Magen knurrte. „Ja, danke, sehr freundlich von Ihnen.“

Nach dem Abendessen saßen sie im Wohnzimmer vor einer Flasche Rotwein und unterhielten sich angeregt. Die Stimmung und Atmosphäre wurde von Glas zu Glas lockerer.

„Sie wollten mir erzählen, was in München geschehen ist“, sagte sie, nachdem sie die zweite Flasche Wein geöffnet hatte.

„Wollen Sie das wirklich hören?“

„Natürlich, sehr gerne. Es wird Ihnen guttun, wenn Sie sich alles von der Seele reden. Nur so ist ein Neuanfang möglich und ich bin eine gute Zuhörerin.“

„Es ist so viel geschehen...“

„Beginnen Sie einfach, er wird Ihre Seele reinigen.“

Henri nickte nachdenklich mit dem Kopf. Dann begann er in einem ruhigen Ton zu erzählen:

Die Schlangengrube in der Berufsschule München-Pasing...“

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