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Frauen, Ehre, Sex und die Ehe
ОглавлениеOberyn: „In Dorne tun wir kleinen Mädchen nicht weh.“
Cersei: „Überall auf der Welt wird kleinen Mädchen wehgetan.“ (4.5)
Die Frauen von Westeros und Essos unterliegen genau wie ihre mittelalterlichen Schwestern der Herrschaft des Patriarchats. Der Wert adeliger Frauen besteht hauptsächlich in ihrer Funktion als Bindeglied zwischen verschiedenen Familien, und ihr übliches Schicksal ist, von der Verwandtschaft unter strategischen Überlegungen verheiratet zu werden, um dadurch Bündnisse zu schmieden und Versprechen einzulösen. Dieser Mangel an Handlungsfreiheit war typisch für aristokratische Heiratsmuster im Mittelalter. Einige Mädchen wurden jung verlobt und häufig schon verheiratet, sobald sie die Pubertät erreichten („blühten“, wie die Westerosi sagen). So wird Catelyn nach dem Tod von Neds älterem Bruder Brandon mit Ned verheiratet; die Liebe entwickelt sich erst langsam im Lauf ihrer Ehe. Daenerys wird an Drogo verkauft gegen das Versprechen militärischer Unterstützung für Viserys’ Ziel, sich den Eisernen Thron zurückzuholen; wider Erwarten zeigt Drogo ihr gegenüber Zärtlichkeit in der Hochzeitsnacht – im Roman, wenn auch nicht in der Fernsehserie. Sansa, eine wichtige Figur im Spiel mit der Ehe, wird mit Joffrey verlobt und später mit Tyrion verheiratet (diese Ehe wird als nicht vollzogen aufgelöst), alles nur, damit Kleinfinger sie (in der Serie) Ramsay anbietet. Die Vergewaltigung, der Sansa in ihrer Hochzeitsnacht ausgesetzt ist, muss das Schicksal so mancher mittelalterlicher Braut gewesen sein; eine Jungfrau konnte kaum ahnen, was im Schlafzimmer auf sie wartete. Denn im Europa des Mittelalters war sexuelle Gewalt ebenso endemisch wie in Westeros; nur ein männlicher Beschützer konnte außer Haus die Sicherheit einer Frau garantieren. Martin selbst sagt dazu:
Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gehören zu jedem Krieg, der je stattgefunden hat, von den alten Sumerern bis in unsere Zeit. Sie aus einer Geschichte auszusparen, die um Krieg und Macht kreist, wäre grundfalsch und unehrlich gewesen und hätte ein Thema der Bücher ad absurdum geführt: dass das wahre Grauen der menschlichen Geschichte nicht von Orks und Dunklen Herrschern herrührt, sondern von uns selber.8
Margery Kempe, von der wir in Kapitel 4 mehr erfahren werden, hat uns den wahrscheinlich ersten autobiographischen Bericht einer Frau in englischer Sprache hinterlassen, entstanden in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Darin beschreibt sie einen sexuellen Übergriff, den der Truchsess des Hauses Leicester an ihr verübte; auf ihren vielen Reisen durch Europa lebte Margery in ständiger, berechtigter Angst, von Fremden vergewaltigt zu werden. Ihr Glaube ließ sie Abneigung dagegen empfinden, nach der Geburt ihres ersten Kindes noch sexuelle Beziehungen zu ihrem Mann zu unterhalten. Gleichwohl gab ihm das zeitgenössische Eheverständnis das Recht, sie zu zwingen; das Ergebnis waren 13 weitere Kinder. Schließlich versicherte sich Margery der Hilfe Jesu bei den Verhandlungen mit ihrem Mann, und strategisch klug schaffte sie es, sich vom unerwünschten ehelichen Verkehr freizukaufen, indem sie seine Schulden abzahlte, ehe sie nach Jerusalem aufbrach.9
Zumindest in England sah man Witwen als frei von der Hausgewalt ihrer Väter und Brüder an, besonders wenn sie Söhne hatten, und so fiel es ihnen leichter, ungewollte Zweitehen zu umgehen. In den Städten des spätmittelalterlichen Italien dagegen, wo die Frauen meistens sehr viel ältere Männer heirateten, waren sie häufig schon früh verwitwet. In solchen Fällen verlangten die Brüder der Witwe ihre Schwester und deren Mitgift zurück, um eine weitere arrangierte Ehe für sie zu schließen. Und sehr häufig behielt dann die Familie des ersten Mannes die Kinder aus dieser Ehe; damit verlor die trauernde Frau zugleich ihre Kinder und ihren Gatten. Daher überrascht es nicht, dass Cersei sich als Witwe und Königinmutter gegen ihren Vater nicht durchsetzen kann, als er sie anweist, Loras Tyrell zu heiraten und dadurch ein zweites Band zwischen den Lennisters und dem mächtigsten Haus der Weite zu knüpfen: die anerzogene Gewohnheit, ihrem Vater zu gehorchen, verlernt sie nicht so schnell. Im Lauf des Mittelalters, besonders als die Kirche zu betonen begann, wie wichtig das Einverständnis der Frau beim Eingehen einer Verbindung war, wuchs allmählich die Einsicht, dass gegenseitige Achtung und Zuneigung die Ehen für beide Beteiligten tragfähiger und glücklicher machten. Ehemänner, die auf ein Jahrzehnt in die Kreuzzüge aufbrachen, mussten sicher sein, dass ihre Frauen die Geschäfte richtig führen konnten; der informelle Einfluss und die Weisheit von Gattinnen und Müttern konnte das Schicksal ganzer Nationen verändern.
Eleonore von Aquitanien, eine der eindrucksvollsten Königinnen, die England je hervorgebracht hat, schlug sich auf die Seite ihrer Söhne, als diese sich gegen ihren Vater Heinrich II. auflehnten. Margaret von Anjou, die Gemahlin Heinrichs VI., musste lange bis zur Geburt ihres Erben warten und außerdem mit dem körperlichen und geistigen Verfall ihres Mannes und der wachsenden Macht und dem Ehrgeiz des Hauses York fertig werden, lauter Faktoren, die zum Ausbruch der Rosenkriege führten. Persönlich konnte Margaret, die man oft mit Cersei vergleicht, das Königreich nicht beherrschen: Für die Dauer der Krankheit des Königs wählte man den Duke of York unter dem Titel „Protektor“ als Regenten. Seine Kritik an der Art, wie die Partei des Königs, von der Königin unterstützt, die Reichsangelegenheiten im Inneren und in den Kriegen mit Frankreich geführt hatte, machte einen offenen Zusammenstoß unvermeidlich. Die Siege der Yorkisten, die 1461 in der Krönung Edwards IV. gipfelten, zwangen Margaret zu Jahren voll diplomatischer Feldzüge in der Hoffnung, ihrem Mann oder ihrem Sohn auf diese Weise den Thron zurückzuholen. Zehn Jahre brauchte sie, bis sie die Unterstützung Frankreichs für den Versuch des Earl of Warwick (des „Königsmachers“) erhielt, die Herrschaft des Hauses Lancaster wiederherzustellen; es ist wahrscheinlich, dass sie darauf hoffte, man werde ihren Sohn als faktischen König annehmen. Die Restauration war von kurzer Dauer: Die Armeen der Yorkisten und Lancastrier trafen sich am 4. Mai 1471 auf dem Schlachtfeld von Tewkesbury. Margarets Sohn Edward kam ums Leben und Heinrich VI. starb in Gefangenschaft – Margarets Hoffnungen waren zerschlagen. Die nächsten fünf Jahre verbrachte sie im Gewahrsam von Alice de la Pole, der Herzoginwitwe von Suffolk, die eine Enkelin des Dichters Geoffrey Chaucer war. Alice war in ihrer Jugend eine Freundin und Unterstützerin Margarets gewesen; vielleicht machte das die Lage erträglicher. Nachdem ein beachtliches Lösegeld geflossen war und sie auf all ihren Besitz in England verzichtet hatte, kehrte Margaret 1475 in ihre Heimat Frankreich zurück, wo sie sieben Jahre später starb. Ihre Geschichte ist besonders dramatisch, in ihren Grundzügen jedoch ähnelt sie dem Schicksal sehr vieler mittelalterlicher Königinnen.10
Die Ehre der Frau wird in Westeros in ganz andere Kategorien gefasst als die des Mannes. Mit dem Schimpfwort „Hure“ wird ausgiebig um sich geworfen und Frauen wie Männer empfinden es als Kränkung. Um ein Haar erwürgt Ned Petyr Baelish, als dieser wahrheitsgemäß behauptet, Neds Frau befinde sich in seinem Bordell. Dorthin hat Petyr Cat gebracht, um ihre Ankunft in Königsmund geheimzuhalten, Ned aber fasst das als empörende Beleidigung ihrer und seiner Ehre auf. Sexuelle Reinheit ist der Schlüsselbegriff im Konzept der weiblichen Ehre, während sexuelle Freiheit das Vorrecht von Männern und von Wildlingsfrauen ist. Osha sagt, sie habe Männer gehabt, die Theon auffressen und seine Knochen als Zahnstocher verwenden könnten; Ygritte pocht unmissverständlich darauf, dass sie das Recht hat, sogar die „Krähe“ Jon Schnee als Liebhaber zu wählen. Mit der Promiskuität von Männern scheint keine Schande verbunden zu sein, obwohl sich Cersei durch Roberts Verhalten verletzt fühlt und Catelyn es nicht über sich bringt, über die augenscheinliche Untreue Neds hinwegzukommen, die Jon Schnee in ihre Familie gebracht hat. Allein Tywin Lennister findet, dass sich Tyrion unwürdig benimmt, wenn er eine Geliebte aushält, während er seinen Vater im Amt der rechten Hand des Königs vertritt; Tywins Heuchelei in dieser Hinsicht – denn er nimmt Shae dann selbst zur Mätresse – trägt wesentlich zu seinem Tod bei.
Wie in den mittelalterlichen Städten Europas sind Bordelle ein wesentlicher Bestandteil des Lebens in Westeros. Der Bischof von Winchester besaß den Boden, auf dem in Southwark die bekanntesten Bordelle Londons standen, und zog beträchtliche Gewinne aus den Mieten, die sie ihm zahlten; die örtlichen Prostituierten liefen manchmal unter der Bezeichnung „Winchester-Gänse“. Ein Bordell steht an den Toren von Winterfell und dort begegnen wir das erste Mal Tyrion, wie er ein Bier und einen Blowjob genießt; Kleinfingers Reichtum rührt aus seinen Bordellen in Königsmund her, Häusern, die jeglichen sexuellen Geschmack bedienen, so prahlt er gegenüber Varys. Kleinfingers Etablissements wenden der Straße eine mit Sichtblenden verkleidete Fassade zu, drinnen aber sind sie luxuriös ausgestattet, mit prallen, reich bestickten Kissen, hauchdünnen Vorhängen, üppigen Wandteppichen und geschwungenen Bögen, hinter denen sich in einladend mediterranem Stil der Blick in Separees auftut. Baelish unterweist seine Angestellten in der Kunst, ihrer Kundschaft zu gefallen, anscheinend belässt er es allerdings nur bei Worten. Als Ros und ihre Freundin ihn einladen, sich zu ihnen zu gesellen, lehnt er ab, denn sein Herz sei anderswo gebunden. Die Bordelle von Mulwarft, nahe der Mauer gelegen, sorgen für die Befriedigung der Brüder der Nachtwache; schließlich haben sie nur geschworen, keine Frau zu nehmen, nicht aber, vollständig enthaltsam zu leben.
Verrufene Häuser des Mittelalters boten oft Badegelegenheiten an; die Möglichkeit, seine Kleider abzustreifen, mit der Frau seiner Wahl in einen schönen warmen Badezuber voll Wasser zu klettern und anschließend vom Bad ins Bett und wieder zurück zu wechseln, rundete die Freuden ab, die solche Einrichtungen zu bieten hatten. Wein, gutes Essen, Musik und Gespräche waren in Etablissements der besseren Klasse erhältlich. Bordelle für die Unterschichten wie das in Mulwarft waren deutlich schmieriger und setzten ganz auf ihr Kerngeschäft und schnellen Umsatz. Das Bordell in Winterfell bewegt sich irgendwo zwischen beiden Extremen; es ist nicht so geschmackvoll wie ein Baelish-Haus, doch die Gastlichkeit scheint durchaus nach Tyrions Geschmack zu sein.
Abb. 7: Szene in einem Badehaus mit Bordellbetrieb
Sehen wir uns jetzt jene Frau näher an, welche die frauenfeindlichen Stereotype von Westeros (und des mittelalterlichen Europa) am meisten provoziert: Brienne. Sie ist eine eindrucksvolle Kämpferin – sei es gegen Jaime Lennister oder (in der Fernsehserie) den Hund. Dass sie den Mord an ihrem geliebten Renly nicht verhindern konnte, verfolgt sie, obwohl schwer vorstellbar ist, wie irgendein Mann sich gegen den übernatürlichen Schattenmörder besser hätte schlagen können. Brienne hat in der Romandichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verblüffende Parallelen: Britomart, die jungfräuliche Rittersfrau in Spensers The Faerie Queene aus den 1590ern, und ihre Vorgängerin Bradamante in den italienischen Versepen Orlando Innamorato (1495) und Orlando Furioso (1516).
Beide Frauen sind wichtige Kriegerinnen; sie streifen durch die Romanwelt, ohne je eine Herausforderung auszuschlagen. Beide sind aber auch überaus schön und jede von ihnen ist in einen edlen Ritter verliebt: Bradamante in den Sarazenen Ruggiero, den sie heiratet, nachdem er sich zum Christentum bekehrt hat, und Britomart in Artegall, jenen Ritter, der im Epos die Gerechtigkeit verkörpert. Artegall (gleich Artus) wird von einer Zauberin namens Radigund verhext und eingekerkert. Allein Britomart kann ihn retten, und das tut sie, wobei sie Radigund besiegt und ohne Erbarmen tötet. Merlin weissagt, dass Britomart und ihr Geliebter die Ahnen einer langen Reihe britischer Könige und Königinnen sein werden, und obwohl das Gedicht unvollendet ist, besteht jeder Grund zur Annahme, dass dies in Erfüllung gehen wird.
So ein heterosexuelles, traditionelles Happy End wirkt für Briennes Geschichte unwahrscheinlich. Sie ist stark und gar nicht so unattraktiv, aber auch groß und bedrohlich. Ihre brennende Liebe für Renly hat in ihrem Herzen wenig Platz für Gefühle zu anderen gelassen; sie entwickelt von Respekt und Zuneigung geprägte Bindungen zu Jaime und Pod, aber die meisten anderen Männer behandeln sie mit offener oder kaum verhüllter Verachtung. Das verräterische Großmaul Ser Shadrich, dem Brienne begegnet, während sie mit zwei edlen, wenn auch hoffnungslosen Heckenrittern reist, redet sie mit äußerster Rüpelhaftigkeit an: „Ihr seid ein strammes, gesundes Mädel, würde ich sagen.“ Brienne nimmt die Beleidigung zur Kenntnis, lässt sie aber über sich ergehen; später nennt Shadrich sie „Weib“ und sie denkt sich: „Weib war immerhin eine Spur besser als Mädel.“ (ZK 4 = FC 4) Im Mittelenglischen ist wench ganz eindeutig der Begriff für eine Frau der Unterschichten;11 in Chaucers „Merchant’s Tale“ ereifert sich May, als ihr blinder alter Mann sie bestechen will, damit sie ihm treu bleibt: „Ich bin eine Edelfrau und keine Dirne [wench].“ Für Brienne kommt die Stunde der Rache für Renly (in der Serie), als sie nach der Schlacht von Winterfell Stannis Auge in Auge gegenübersteht, eine Stunde, die vielleicht das Ende der Schuldgefühle bringt, die sie empfindet, weil sie als Renlys Beschützerin versagt hat.12
Abb. 8: Bradamante. Frühneuzeitlicher Holzschnitt zu Ariosts Orlando Furioso
In der zweiten Hälfte dieses Kapitels wenden wir uns nun mehreren ausgedehnteren Sozialstrukturen zu, die Bestandteile der Kulturen der beiden Hauptkontinente sind. Wir beginnen mit der fast überall auf der Welt anerkannten Pflicht zur Gastlichkeit, dann betrachten wir das Recht und sein Verhältnis zu Rache und Gerechtigkeit. Es folgen der Krieg und seine Regeln, dazu die Beziehung zwischen einem Mann und seinen Waffen. Und schließlich nehmen wir uns jene ultimativen Waffen vor, die als das Massenvernichtungsmittel des Game-of-Thrones-Universums gelten können: die Drachen, die Daenerys ausgebrütet und aufgezogen hat und die sie wie eine Mutter liebt.