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ОглавлениеProlog
13. Oktober 2006, 19:10 Uhr, Elista, russische Teilrepublik Kalmückien: Ein Aufschrei zerschneidet die Grabesstille im überfüllten Spielsaal. Topalow hat soeben in der entscheidenden vierten Tiebreak-Partie im 44. Zug einen schweren Fehler gemacht und seinen Turm eingestellt. Kramniks Haltung wird kerzengerade. Miguel Illescas kneift mich ins Bein und flüstert: »Wir haben es, das verliert!« Kramnik zieht seinen Turm im 45. Zug nach b7, Schach! Topalow stiert einen Moment auf das Schachbrett, schüttelt den Kopf und gibt auf. Kramniks Faust schnellt zum Zeichen des Triumphes nach oben, genau wie er es schon nach seinen epischen WM-Siegen gegen Garri Kasparow und Péter Lékó gemacht hat. Meine Wahnsinnsanspannung macht sich Luft, und das sonst so zurückhaltende Schachpublikum verwandelt das Auditorium des kalmückischen Regierungshauses in ein Tollhaus: Hurra-Schreie, Trampeln und stakkatoartiges Klatschen folgen minutenlang.
Wir umarmen uns im Kramnik-Team. Es hält mich nicht mehr auf meinem Platz. Wladimir steht immer noch etwas verloren am Spieltisch und versucht seinen Kugelschreiber in der Jackeninnentasche zu verklemmen. Ich stürme die Bühne, gebe dem inneren Druck erneut mit mehreren Jubelschreien nach und kann es mir nicht verkneifen, die Faust Richtung Team Topalow zu ballen.
Dieser Kampf um die Schachweltmeisterschaft beendete die Teilung der Schachwelt und war zugleich der dramatischste aller Zeiten. Abgesehen von dem Duell zwischen Boris Spasski und Bobby Fischer entfachte keine WM im Schach ein so gewaltiges Medienecho. Gesorgt hatte dafür nicht nur deren spannender Verlauf, sondern auch »Toiletgate« – ein lancierter Skandal. Mehr als zehn Jahre sind seither vergangen.
In diesem Buch geht es in erster Linie um den Menschen und Schachspieler Wladimir Kramnik. Analog den 64 Feldern auf dem Schachbrett stehen die Erzählungen in 64 Abschnitten im Zusammenhang mit meinen persönlichen Erlebnissen und weiteren Vorgängen innerhalb der Schachwelt, zuweilen auch im Kontext mit dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Geschehen. Kramniks Jahre als Weltmeister zwischen 2000 und 2007 gelten als die politisch schwierigste, ja konfliktreichste Zeit der Schachgeschichte überhaupt. Ich habe währenddessen an seiner Seite gestanden und konnte vielleicht ein wenig dazu beitragen, dass er sich trotz widrigster Bedingungen sieben Jahre auf dem Schachthron hielt.
Schachweltmeister sind sagenumwoben und versprühen in der öffentlichen Wahrnehmung eine mythische Aura. Im Sport gilt der Titel traditionell als einer der bedeutendsten überhaupt. So wie Boxweltmeister im Schwergewicht als größte Kämpfer, Weltmeister über 100 Meter in der Leichtathletik als schnellste Menschen hohen Respekt genießen, gilt der Schachweltmeister als eines der klügsten, intelligentesten Wesen unseres Planeten: in den meisten Fällen durchaus zu Recht! In seiner langen und bewegten Geschichte brachte das königliche Spiel bisher 16 klassische Schachweltmeister hervor. Zu ihrer Zeit waren sie von allen Schachliebhabern anerkannt. Ihr Spielstil beeinflusste die jeweiligen Generationen.
Über Wladimir Kramnik ist seit dem Beginn seiner großartigen Karriere viel geschrieben worden. Ich kann jedoch ganz authentisch aus nächster Nähe über diesen außergewöhnlichen Mann und die wichtigsten Ereignisse während seiner großen Schachkarriere berichten. Niemand sonst war über einen so langen Zeitraum so nahe an den großen Wettkämpfen des 14. Schachweltmeisters dran. Unsere Freundschaft begann bereits in den 1990er Jahren und hält bis heute an. In den Jahren von 2002 bis 2009 war ich sein professioneller Berater.
Während bestimmter Phasen seiner Laufbahn haben gewisse Kreise immer mal wieder versucht, Kramnik als langweiligen, egoistischen Pragmatiker darzustellen. Zu diesen Menschen gehörte zeitweise auch Garri Kasparow, sein Vorgänger auf dem Schachthron. Wer jedoch Kramnik ein solches Image anzuhängen versuchte, wusste entweder überhaupt nicht, von wem er da redet, oder er wollte dieses Bild nur deshalb produzieren, um eigene Interessen zu bedienen.
Kramnik, ein positionell aktiver und sehr kreativer Spieler, hat einige der schönsten Partien der Schachgeschichte gespielt. Und so, wie er Schach spielt, ist er auch im wirklichen Leben: manchmal chaotisch, manchmal emotional, manchmal genial, aber immer authentisch. Kaum jemand hat die Entwicklung und Geschichte dieses herrlichen Spiels so wesentlich bereichert wie Wladimir. Mit dem 14. Schachweltmeister werden wir auf eine Zeitreise von über 40 Jahren gehen, viele emotionale Momente erleben und dabei auch der dunklen Seite der Schachwelt begegnen.
1992 gewann Garri Kasparow das Superturnier der Dortmunder Schachtage, das heutige Sparkassen Chess Meeting. Eine Etage tiefer, in der sogenannten Schwemme der Westfalenhallen, belegte der erst 17-jährige Wladimir Kramnik beim Dortmunder Open den geteilten ersten Platz. Er platzierte sich in großem Stil vor weiteren 541 Teilnehmern, unter ihnen mehr als 100 Titelträger. Mit diesem Erfolg richtete sich erstmals der Fokus der internationalen Schachmedien auf den jungen Russen. Garri Kasparow sagte damals: »Der talentierteste aller Spieler hier ist Wladimir Kramnik. Alle anderen machen Züge, Kramnik jedoch spielt Schach!«
Den Namen Kramnik hatte ich zwar schon ein Jahr zuvor, während eines Gesprächs mit dem Ex-Weltmeister Michail Botwinnik, beiläufig registriert, aber erst in diesem Moment wurde ich so richtig auf ihn aufmerksam. Wladimir und ich lernten einander im Verlauf der 1990er Jahre immer besser kennen. Nach dem Dortmunder Turnier im Jahr 1992 folgten für Kramnik Einladungen zu allen damaligen Spitzenevents. Er setzte sich in den Top Ten der Weltrangliste fest, die er bis November 2014 nicht mehr verlassen sollte. Schon 1993 wurde er wieder zum Chess-Meeting nach Dortmund eingeladen, das er 1995 erstmals gewann. In der Folge wiederholte er diesen Erfolg in seinem »Dortmunder Wohnzimmer« noch neunmal. Seine zehn Turniersiege bei einem derartig hochklassigen internationalen Wettbewerb stellen einen ganz besonderen Rekord in der Sportgeschichte dar.
Die nachfolgende Erzählung soll den Menschen Wladimir Kramnik vorstellen und legt dabei gleichzeitig Priorität auf die Geschehnisse während seiner Zeit als Schachweltmeister. Es ist die erste Biografie, die nach dem Gewinn seines WM-Titels gegen Garri Kasparow veröffentlicht wird. Dazu hat Wladimir ganz wesentlich beigetragen. Die Arbeit erleichterten mir Notizen, die ich mir während seiner großen Wettkämpfe gemacht hatte. Mit einigen Jahren Abstand neigt jeder Mensch zu gewissen Verklärungen. Deshalb habe ich mich bemüht, Kramniks und meine Sichtweisen nahe am jeweiligen Geschehen einfließen zu lassen. Dazu dienten mir ein Dutzend Aktenordner, Aufzeichnungen in meinen Terminkalendern sowie Interviews und Stellungnahmen, die Kramnik zum entsprechenden Zeitpunkt gegeben hatte.
Wladimir Kramnik kommentiert zum Ende eines jeden Kapitels im Rahmen eines Rückblicks die wichtigsten Partien an den Schlüsselstellen seiner Karriere selbst. Damit wird seine aktuelle Sichtweise auf die Geschichte ebenfalls gewürdigt. Bei den schachlichen Kommentaren handelt es sich nicht um die in der Turnierszene gängige, tiefgründige Analyse möglicher Varianten. In diesem Buch geht es vielmehr darum, der Gefühlswelt des 14. Weltmeisters während der Höhepunkte seiner einzigartigen Karriere gerecht zu werden.
Am Ende des Buches befindet sich ein ausführlicher Chronikteil. Hier werden unter anderem sämtliche WM-Partien Kramniks, die er in den Jahren 2000 bis 2008 spielte, aufgeführt. Zu allen bisherigen klassischen Weltmeistern der Schachgeschichte gibt es zudem Informationen, die wesentlich auf den fachlichen Einschätzungen Wladimirs basieren.
Wladimir Kramnik und mir wäre es eine große Genugtuung, wenn sich der ein oder andere Leser durch dieses Buch dem herrlichsten aller Spiele zuwenden würde. Bei der weiteren Lektüre sowie dem geduldigen Studium vieler wunderbarer Partien des 14. Weltmeisters der Schachgeschichte wünsche ich viel Freude.
Carsten Hensel, Dortmund, Januar 2018