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Von Schachgenies und schönen Künsten
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Für jeden Menschen, der sich wirklich eingehend mit dem Schachspiel beschäftigt, stellen sich irgendwann die Fragen: Was ist das Besondere am Schach? Warum ist dieses Spiel eigentlich so außergewöhnlich attraktiv und zeitlos? Und warum lässt es mich nicht mehr los?
Für den einen ist es Sport, und er sieht den Sieg im Wettkampf als seine größte Erfüllung. Ein anderer legt Priorität auf die analytische, ja wissenschaftliche Seite des Spiels. Der nächste liebt die Schönheit und die zuweilen unergründliche Tiefe, die in Partien auf höchstem Niveau liegen kann. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Schachliebhabern geht psychologisch an die Sache heran. Sie untersuchen die Partieführung der großen Meister auf deren Charaktereigenschaften und ziehen ihre Schlüsse. Nicht wenige Spieler sehen im Schachspiel einen Krieg zweier sich gegenüberstehender Armeen und fühlen sich wie Feldherren während ihrer Partien. Wieder andere definieren das strategische Brettspiel als kreative Ausdrucksform eines Individuums, also Kunst. Und dann gibt es die große Gruppe der Sammler, die sich für Schachliteratur, Schachfiguren oder Briefmarken mit den entsprechenden Motiven interessieren.
Genau in dieser Vielfalt liegt ein Erfolgsschlüssel dieses Spiels, das wir in der Schachwelt so sehr lieben. Für diejenigen, die noch nicht oder nur wenig mit Schach in Berührung gekommen sind, zitiere ich Stefan Zweig. Der Österreicher hat vor seinem Tod 1942 die Schachnovelle geschrieben. Es wurde sein letztes und gleichzeitig berühmtestes Werk. Hierin findet sich auf die Frage nach der Attraktivität des Spiels die folgende – und wie ich finde – treffendste aller Antworten:
»Ich hatte in meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen Typus zu personifizieren, um so unvorstellbarer schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert. Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des ›königlichen Spiels‹, dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. Aber macht man sich nicht bereits einer beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein Spiel nennt? Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Kunst, schwebend zwischen diesen Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und Erde, eine einmalige Bindung aller Gegensatzpaare; uralt und doch ewig neu, mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in geometrisch starrem Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen, ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz und nichtsdestominder erwiesenermaßen dauerhafter in seinem Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen Völkern und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher Gott es auf die Erde gebracht, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu schärfen, die Seele zu spannen. Wo ist bei ihm Anfang und wo das Ende? Jedes Kind kann seine ersten Regeln erlernen, jeder Stümper sich in ihm versuchen, und doch vermag es innerhalb dieses unveränderbar engen Quadrats eine besondere Spezies von Meistern zu erzeugen, unvergleichbar allen anderen, Menschen mit einer einzig dem Schach zu bestimmten Begabung, spezifische Genies, in denen Vision, Geduld und Technik in einer ebenso genau bestimmten Verteilung wirksam sind wie im Mathematiker, im Dichter, im Musiker, und nur in anderer Schichtung und Bindung.«
Wladimir Borissowitsch Kramnik ist ein solches Schachgenie, ausgestattet mit begnadetem Potenzial und Talent. Er ist oft unterschätzt worden, selbst in seiner Zeit als Weltmeister. Ganz bewusst und vornehmlich von Leuten, die ihn wegen seiner Stärke fürchteten und schaden wollten. Diejenigen Großmeister aber, die sein Spiel und seine Fähigkeiten objektiv beurteilen, zählen ihn zu den innovativsten und spielstärksten Schachmeistern aller Zeiten.
Dabei stehen für den bescheidenen Russen seine unzweifelhaft großen sportlichen Erfolge nicht immer im Vordergrund. Der Fokus bei der Beurteilung seines eigenen Spiels liegt vielmehr in der Tiefe und der Schönheit des Prozesses selbst. Kaum jemand vor ihm hat so viele fantastische Partien gespielt, die zu den schönsten und tiefgründigsten aller Zeiten zählen. Kramniks Triebfeder, Schach zu spielen, ist die Kunst, die Kreativität, die aus dem Spiel entsteht. Typen mit einem solchen Zugang zum Spiel sind in der Regel wenig erfolgreich. Sie neigen etwa zur Kreation von Schachkompositionen, sind aber im Wettkampfschach kaum konkurrenzfähig.
Natürlich ist Wladimir Kramnik trotz allem in allererster Linie ein professioneller Schachspieler. In seinen großen Duellen musste er, trotz seines wenig ergebnisorientierten Naturells, oftmals bedingungslos auf Sieg spielen. Wenn es sein musste, war er ein gewaltiger Kämpfer. Prinzipiell ist Wladimirs Motivation jedoch eine ganz andere, denn für ihn ist Schach nicht in erster Linie Sport. Nicht umsonst hat sich sein Image als Bohemien und Künstler in einer breiten Öffentlichkeit etabliert.
Diesem Wesen entsprechend, verfügt er nicht über den höchsten Level an Energie in einem Wettkampf. Zumindest, wenn man ihn mit Weltmeistern wie Bobby Fischer oder Garri Kasparow vergleichen möchte. Wladimir ist auch nicht der Mensch, der sich unbedingt vermarkten oder vor einem großen Publikum exponieren muss. Im Gegenteil: Der Mann ist ziemlich prinzipiell in dem, was er tut, und dies soll doch bitte schön der Sache dienen. Diese Sache wiederum ist für ihn das Schachspiel, in dem er sich auf der endlosen Suche nach Wahrheit und Schönheit befindet.
Kramnik, für den Integrität und Treue die wichtigsten Eigenschaften sind, verfügt über eine gehörige Portion Emotionen. Etwas, das man dem freundlichen, auf den ersten Blick introvertiert wirkenden Russen überhaupt nicht zutraut. Für ihn standen nur in wenigen Ausnahmefällen die Ergebnisse, seine Siege und der damit verbundene materielle Gewinn im Vordergrund. Im Kern ging es ihm immer mehr um eine sehr persönliche Angelegenheit: in das Spiel einzutauchen, um dann und wann dessen unendliche Tiefe zu spüren.
Gerade weil Kramnik gar nicht so sehr auf Resultat spielte, können seine großen sportlichen Erfolge, mit drei erfolgreichen Weltmeisterschaftskämpfen als Highlights, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hinsichtlich seiner rein schachspezifischen Fähigkeiten braucht er ohnehin den Vergleich mit keinem anderen Weltmeister oder Spitzenspieler der Schachgeschichte zu scheuen.
Viele Topgroßmeister, die mit Wladimir Kramnik trainierten, waren beeindruckt und einig, dass keiner von ihnen so viel aus einer Stellung »rausholen kann« wie Kramnik. Peter Swidler, ein russischer Top-Ten-Großmeister, der im Kramnik-Team bei der WM 2004 gegen Lékó sekundierte, drückte es so aus: »Was er alles in einer Stellung auf dem Brett sieht, ist unglaublich. Manchmal schon zu viel. Das kann im Wettkampf in bestimmten Situationen sogar hinderlich sein.«
Aus dieser einzigartigen Fähigkeit, dem besonders ausgeprägten Gespür für die Nuancen einer Schachstellung, schuf Kramnik – neben seinen triumphalen Erfolgen im Wettkampf – einen erheblichen Beitrag im Rahmen der schachtheoretischen Erweiterung vieler Eröffnungssysteme. Während seiner gesamten Karriere war er so etwas wie ein Trendsetter. Die versammelte Szene der Profispieler benutzt seine frischen Ideen in vielen Eröffnungssystemen, zum Beispiel in der Berliner Verteidigung, im Katalanen, den Sweschnikow-Systemen oder auch in der Russischen Verteidigung.
Dieser »Diebstahl« mag dem Laien unfair erscheinen, aber so geht es den kreativen Spielern seit jeher, und sie grämen sich nicht. Ihre Beiträge zur Weiterentwicklung des Spiels bleiben im historischen Sinne bestehen. Bei der Entwicklung der Schachtheorie war kein führender Spieler jemals produktiver und innovativer als Wladimir Kramnik.
Auf die Frage, ob er ein Genie sei, antwortete Kramnik dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Jahr 2004 eher bescheiden: »Ich bin ziemlich talentiert. Manchmal denke ich, ich hätte eine Stellung verstanden, doch zwei Jahre später erkenne ich, dass ich gar nichts verstanden habe. Das ist das Geheimnisvolle am Schach. Wirklich faszinierend. Man hat ein kleines Brett mit 64 Feldern, doch ist es manchmal so tief, dass nicht einmal zehn Kramniks wissen können, welcher Zug der beste ist. Man fühlt sich dann einfach nur verloren. Man spürt eine derartige Tiefe, es gibt einfach keinen Grund, den man erreichen kann.«
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Auf der ewigen Suche nach der Wahrheit im Schach ist sich Wladimir Kramnik seines vorprogrammierten Scheiterns durchaus bewusst. Er kann nur versuchen einzutauchen, um dem »Grund« etwas näherzukommen. Frei nach Konfuzius wird er diesen Weg zeit seines Lebens gehen. Er ist seine Passion, sein Ziel, gibt ihm Antrieb und Befriedigung zugleich.
Wladimir drückt es so aus: »Wenn ich beginne, die unglaubliche Tiefe eines Schachspiels zu verstehen, stelle ich fest, dass bestimmte Regeln verschwimmen. Ich spüre auf einmal, dass ich hier ein bisschen mehr Raum schaffen muss und dort angreifen. Doch weshalb das so ist, weiß ich nicht genau. Nach Lehrbüchern zu spielen – das reicht nur für einen gewissen Grad. Vielleicht bis zum Meister, nicht aber zum Großmeister. Auf diesem Niveau muss man das Spiel erfühlen. Es kommt zu einem.«
Für Kramnik ist Schach eine äußerst komplexe Angelegenheit. Alles spielt eine Rolle. Und dazu gehören auch Emotionen. Wenn alles um ihn herum stimmt, wenn es ihm gut geht, ist er in kreativer Stimmung. Wenn ihn etwas stört oder er schlechte Laune hat, ist es für ihn schwer, schöpferisch zu sein: eine durchaus empfindsame Seite, die sich als Angriffsfläche für seine Gegner entpuppen sollte.
Im Rahmen seiner Profikarriere verstand er es zunächst sehr lange, seine Gefühle »zu verschleiern«. Nichts war der Realität jedoch so fern wie sein jahrelanges Image als der »Iceman« oder der »Fels«. Einige seiner Konkurrenten hatten dann auch irgendwann diese hochsensible Seite an Kramnik entdeckt. Zumindest bei WM-Kämpfen, da, wo die Luft in vielfacher Hinsicht sehr dünn wird, hat man versucht, ihn genau an dieser Stelle aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und wenn es seinen Gegnern gelang, ihn aus seiner seelischen Komfortzone zu holen, geschah das mit einiger Wirkung, wie seine sportliche Biografie zeigen wird.
Doch lassen wir Wladimir zunächst selbst zu Wort kommen. Wie er Schach sieht, was für ihn Kreativität, Schönheit und Tiefe bedeutet, machte er in einem Gespräch mit Ugo Dossi, dem renommierten deutschen Maler und Objektkünstler, sehr deutlich. Wir zeichneten dieses Gespräch auf. Während der Unterhaltung begründete Kramnik sehr überzeugend, warum Schach für ihn in erster Linie Kunst ist. Jeder große Spieler habe seinen eigenen Stil ebenso wie jeder Maler. Er sei überzeugt, dass Schach den Charakter des Spielers reflektiere. Wenn etwas wie Schach, Musik oder Malerei das Wesen eines Künstlers definiere, definiere es gleichzeitig den Spielstil der Person. Kramnik: »Nehmen wir Kasparow als ein Beispiel. Er ist wie ein Tsunami, der immer weiter ansteigt und danach strebt, seinen Gegner zu ertränken. Mein Weg ist ein anderer und der Weg Anands oder Karpows wiederum nicht vergleichbar. Eine ungeduldige Person wird wahrscheinlich einen Angriff starten, der nicht bis ins kleinste Detail durchdacht ist. Ab einem bestimmten Niveau kann man wirklich die Persönlichkeit eines Spielers erkennen. In der Kunst sehe ich das ähnlich.«
Wenn Wladimir über die Schönheit des Spiels zu sprechen beginnt, leuchten seine Augen. Natürlich sei, so Kramnik, Schönheit subjektiv. Sie könne zum Beispiel in einem sehr technischen, mathematischen Spiel gefunden werden. Das sei die Schönheit der Klarheit. Schönheit könne man gleichermaßen in der Präzision sehen. Dazu seien weder Feuerwerk noch großartige Fantasie nötig. Und dann wären da die Spiele, die technisch nicht perfekt seien, aber die in ihnen liegende Einbildungskraft sei voller Schönheit. Kramnik: »Ich glaube, dass jeder Schachspieler Schönheit empfindet, wenn er gegen alle Regeln und Erwartungen agiert und die Situation meistert.«
Beispiele für Kramniks These gibt es reihenweise, als ein hervorragendes sei hier seine Blindpartie gegen Topalow in Monaco 2003 erwähnt. Als ich ihn von der Partie abholte, war er ergriffen und murmelte immer wieder: »Solch eine Schönheit, diese unglaubliche Schönheit.« Dem indischen Superstar Viswanathan Anand ging es nicht anders. Beeindruckt gratulierte er aufrichtig: »Wladimir, da ist dir ein wahres Meisterwerk gelungen.«
In diesem Spiel entwickelte sich eine Serie von Zügen, die außergewöhnlich, erstaunlich und unorthodox waren. Zum Beispiel wanderte im Mittelspiel der König des Weltmeisters über das gesamte Brett. Etwas, das sehr selten passiert. Aber in dieser Situation funktionierte das Manöver perfekt, und der König drang tief in die gegnerische Verteidigung ein. Aus der Sichtweise eines Militärs war es so, als ob der General in der ersten Reihe mit dem blanken Bajonett auf den Feind losmarschiert. Kramnik opferte, Topalow gewann Material, und die Drohung von diesem Angriff war noch nicht akut zu sehen. Dennoch entfaltete die Attacke in nur zwei Zügen ihre volle Kraft. Kramnik: »Es gab keinen Weg für ihn, das zu verhindern. Er hatte das Material, den Raum und die Zeit, aber er konnte sich schon nicht mehr verteidigen. Es war eine unglaubliche Spielsituation, unerwartet und voller Schönheit.«
Wenn es um Schönheit geht, ist man beim Schach auch von seinem Gegner, dessen Spielstärke, Präzision und Kreativität abhängig. Manchmal, so Kramnik, nehme eine Partie einen unerwarteten Verlauf und Schönheit beginne zu entstehen. Schach könne man deshalb auch in einem bestimmten Maß mit der Kunstform des Tanzes vergleichen. Gegen jemanden zu spielen, der viel schwächer ist als man selbst, sei extrem unbefriedigend. Eigene Stärke könne sich nur in der Präsenz eines starken Gegners entwickeln.
Aus dieser Aussage geht auch ein großer Respekt für die Konkurrenz und deren Leistungen hervor. Diese Anerkennung ist im Übrigen ein markanter Charakterzug des 14. Schachweltmeisters. Er mag im krassen Widerspruch zur Denkweise der Mehrheit anderer Elite-Großmeister stehen, deren vornehmliches Ziel es ist, zu gewinnen. Aber Wladimir glaubt, dass sie alle, bewusst oder unbewusst, in Wirklichkeit Schönheit auf dem Brett kreieren möchten. »Ich respektiere jeden Topspieler. Jeder von ihnen ist wie ein Universum. Seine gesamte Persönlichkeit, sein Charisma und die vielen Jahre konzentrierter Vorbereitung fließen ein in sein Spiel. Sein Blick auf die Welt, die Art, wie er Schach sieht, all das kommt zusammen in seinem Schachstil. Mein Stil ist mein Stil, aber daneben können Millionen andere existieren, die zum gleichen Resultat führen.«
Kramnik geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er das Publikum miteinbezieht: »Es ist schwer in Worte zu fassen. Jede einzelne Partie ist umgeben von einer bestimmten Aura: Je wichtiger die Partie ist, umso höher ist die Spannung, und desto stärker ist diese Aura. Ich erinnere mich an meinen WM-Kampf gegen Garri Kasparow. In der entscheidenden Phase überwog eine enorme Spannung. In Russland sagen wir: Du kannst die Luft mit einem Messer schneiden. Da war kein Geräusch, kein lautes Atmen, kein Husten. Die gleiche Erfahrung machte ich in der 14. Partie gegen Lékó oder im Tiebreak gegen Topalow. Normalerweise bin ich so eingetaucht in diese Partien, dass ich gar nichts mehr mitbekomme. Aber in den Momenten, in denen ich ein wenig entspanne, habe ich diese Stille physisch gespürt. Wir waren in einem großen Spielsaal, und ich fühlte diese enorme Spannung überall, auch und ganz besonders im Publikum. Sie war greifbar. So etwas geschieht immer dann, wenn die Leute ganz tief berührt sind. Ich kann im Nachhinein nie genau sagen, wann diese Aura am stärksten während einer Partie präsent war, aber meine Leute beschrieben mir in diesen Fällen das gleiche Phänomen: Du hast eine unglaubliche Spannung in diesem oder jenem Moment produziert. Genau diese Momente sind für mich eine starke Motivation, alles zu geben. Das gelingt mir nicht immer. Aber wenn, dann erschaffe ich wahre Schönheit!«
Schach ist für Kramnik also definitiv kein Krieg. Während der Partie beschäftigt ihn die Schaffung schöner und intensiver Situationen innerhalb der Mikrostruktur des Spiels. Die Vorstellung, dass sich auf dem Brett zwei Armeen gegenüberstehen, würde ihn wahrscheinlich während einer Partie eher stören. Das Drama der einzelnen Figuren ist ihm vor und nach den Partien durchaus bewusst, niemals aber während des Spiels selbst.
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Wladimirs Stil ist sehr mit der Freude am Spiel verknüpft. Er möchte schön spielen. Schönheit erschließt sich dabei für ihn eher in der Tiefe des Prozesses Schach und weniger in einem extraordinären Geschehen: »Als Kind wäre ich gern Maler geworden, und später habe ich diesen Wunsch in mein Spiel integriert. Ich möchte kreativ sein. Auf diese Weise kann ich tiefer als gewöhnlich in die Feinheiten einer Stellung eindringen.«
Das Publikum ist für Kramnik ein weiterer wichtiger Faktor. Wenn Hunderte Menschen in den Spielsaal strömen und Millionen Schachspieler seine Partien im Internet verfolgen, ist das eine große Quelle der Befriedigung für ihn. Natürlich kann nicht jeder Schachliebhaber ganz tief in eine Partie mit all ihren Nuancen eindringen. Wenn es um Tiefe und Verständnis geht, hilft auch ein analysierendes Schachprogramm oftmals nur wenig. Kramnik findet dies jedoch nicht weiter tragisch: »Je mehr Menschen das Konzert eines Musikers besuchen, desto intensiver wird die Vorstellung auf jeden Einzelnen wirken. Wenn ich in einem Konzert bin, dann weiß ich, dass ich nur eine gewisse Tiefe beim Hören der Musik erreichen kann. Aber zu fühlen, dass die Perfektion noch um einiges tiefer liegt, als mein subjektives Erleben mir erlaubt zu realisieren, hat mich immer schon fasziniert.«
Wladimir Kramniks Lieblingsfarbe ist Blau, und wenn es ans Essen geht, liebt er das Dessert ganz besonders. Er mag doppelte Espressos, hin und wieder ein gutes Glas Rotwein und nach besonders großen Anstrengungen auch mal ein Gläschen schottischen Single-Malt-Whisky. Zu viel Alkohol soll es nicht mehr sein, seitdem im Jahr 2005 eine rheumatische Erkrankung diagnostiziert wurde, die chronisch ist und eine gewisse Enthaltsamkeit erfordert.
Kramnik ist Literaturliebhaber. Zu seinen Lieblingswerken zählen Siddharta von Hermann Hesse, dessen Schaffen er in den vergangenen Jahren für sich entdeckt hat, Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow, Farm der Tiere von George Orwell und Generation P von Wiktor Pelewin. Er sieht sich gern Filme von Stanley Kubrick und Miloš Forman an, obwohl er im Allgemeinen lieber gute Bücher liest, als Filme zu schauen. Einfach weil es nach seiner Meinung mehr gute Bücher als Filme gibt. Als Schauspieler favorisiert er Robert De Niro, als Schauspielerin Inna Tschurikowa.
Musikalisch ist er universell interessiert, wendet sich jedoch mehr und mehr der klassischen Musik zu. Sein Lieblingskomponist ist Johann Sebastian Bach. Wladimir ist sehr gut befreundet mit einigen Virtuosen, unter anderem Vadim Repin, über den Yehudi Menuhin einst sagte: »Er ist einfach der beste und perfekteste Violinist, den ich jemals hören durfte.« Im Bereich der Malerei hat er eine Affinität für den Impressionismus und liebt die Gemälde des italienischen Malers Amedeo Clemente Modigliani.
Karpow’s Best Games war das Schachbuch, das den größten Einfluss auf ihn als Kind hatte. Aus einem einfachen Grund: In der ehemaligen Sowjetunion war es ziemlich lange Zeit das einzige Buch, welches ihm zur Verfügung stand. Als seine Lieblingsspieler benennt er in chronologischer Folge: Emanuel Lasker, Alexander Aljechin, Bobby Fischer und Garri Kasparow.
Als wichtigste Charaktereigenschaft eines Menschen sieht Kramnik seine Integrität. Wladimir Kramnik ist verheiratet mit Marie-Laure Kramnik, gebürtige Germon. Die ehemalige Journalistin der großen Pariser Tageszeitung Le Figaro lernte er im Rahmen eines Interviews im Jahr 2003 kennen. Marie-Laure und Wladimir heirateten 2007 in der russisch-orthodoxen Kirche zu Paris und sind stolze Eltern zweier Kinder: Daria und Vadim. Die Familie lebt im schweizerischen Genf.
KRAMNIK, WLADIMIR – TOPALOW, WESSELIN
Monaco 16.3.2003, Blindschach, Bedenkzeit 25 Minuten + 10 Sekunden pro Zug
1. e4 c5 2. Sf3 e6 3. d4 cxd4 4. Sxd4 Sc6 5. Sc3 d6 6. Le3 Sf6 7. f4 a6 8. Df3 Dc7 9. 0-0-0 Ld7 10. Sb3 Tc8 11. Kb1 b5 12. Ld3 Sb4 13. g4 Lc6 14. g5 Sd7 15. Df2 g6 16. Thf1 Lg7 17. f5 Se5 18. Lb6 Dd7 19. Le2 Db7 20. Sa5 Db8 21. f6 Lf8 22. a3 Sxc2 23. Kxc2 Lxe4+ 24. Kb3 La8 25. La7 Dc7 26. Db6 Dxb6 27. Lxb6 h6 28. Sxb5! Kd7 29. Ld4 Ld5+ 30. Ka4 axb5+ 31. Lxb5+ Lc6 32. Lxe5! Lxb5+ 33. Kxb5 Tc5+ 34. Kb6 Txe5 35. Tc1 Txa5 36. Tc7+! Kd8 37. Tfc1 Tc5 38. T1xc5 dxc5 39. Kc6!! Ld6 40. Kxd6 e5 41. Ta7 Kc8 42. Ta8+ Kb7 43. Txh8 1:0
Wladimir Kramnik:
»Diese Partie liebe ich sehr. Der Leser sollte wissen, dass wir sie blind und im Schnellschach gespielt haben. Jeder Spieler hatte nur 25 Minuten und zehn Sekunden Zeitgutschrift pro Zug für die komplette Partie. Das macht es natürlich viel schwieriger, Varianten zu kalkulieren.
Topalow spielte zu jener Zeit gegen e4 nur Sizilianisch und war damit sehr erfolgreich. Ich hatte zwar Initiative aus der Eröffnung, aber es ist in diesen Stellungstypen einfach, falsche Entscheidungen zu treffen, nicht nur in einer Blindpartie, sondern sogar im klassischen Schach. Ein erster wichtiger Moment war Topalows Springeropfer 22. … Sxc2. Nach 23. Kxc2 und 23. … Lxe4+ war mein König ein wenig verwundbar. Objektiv hätte Weiß besser stehen müssen, aber tatsächlich ist die Stellung nicht so einfach.
Schwarz hatte einen sehr starken Springer auf e5, der das Zentrum kontrollierte. Er wollte seine Türme auf der h-Linie aktivieren. Es gab keinen direkten Weg für Weiß, und Schwarz hatte potenziell gefährliches Gegenspiel. Ich tauschte die Damen, und danach spielte er h6, um seine Türme zu aktivieren. Wäre ihm das gelungen, wäre die Stellung sehr unklar geworden. Deshalb nahm ich auf b5, eine Entscheidung, die ich während der Partie – soweit in der kurzen Zeit und blind möglich – ernsthaft berechnet hatte. Ich gab damit Material zurück, übernahm dafür jedoch die Initiative. Danach spielten wir interessante und starke Züge: Das Spiel wurde von beiden Seiten wirklich hochklassig geführt.
Topalow begann mit dem sehr starken 28. … Kd7, wonach die Partie unglaublich bissig wurde. Nach 29. … Lxd5+ musste ich mit meinem König nach a4 flüchten, die beste Verteidigung. Topalow spielte mit 31… Lc6 einen natürlichen Zug, hätte jedoch besser 31. … Sc6 gezogen. Okay, Weiß würde immer noch einen Vorteil behalten, aber Schwarz hätte wesentlich bessere Chancen gehabt, die Partie zu halten. Und nun begann ich mit meinem König in sein Lager einzudringen: ein ganz erstaunliches Motiv. Ich konnte nicht alles berechnen, aber ich spürte, dass es funktionieren würde. Wir befanden uns immer noch im Mittelspiel, und in dieser Phase einer Partie passiert so etwas sehr selten.
Mein König drang auf seine siebte und achte Reihe ein und unterstützte so den Angriff. 35. Tc1 war dabei eine bedeutende Ressource. Alles arbeitete für Weiß, einfach aus einer einzigen Bewegung und im Vorteil eines Tempos. Im 36. Zug war es sehr wichtig, nicht abzutauschen, sondern Tc7+ zu spielen Das musste ich schon im Voraus kalkulieren, was ich tat. Nach 37. Tfc1 gab es zwei schöne Motive: Nach 37. … Te8 habe ich Kb7, was ich auch sehr mag. Der König hätte den Turm in die Falle gelockt, eine wirklich sehr befremdliche und außergewöhnliche Sache. Er spielte jedoch 37. … Tc5 und dachte vermutlich, er könnte die Figur halten.
Aber nachdem 38. Txc5 dxc5 gespielt wurde, kam jetzt der Moment, als ich wirklich diese Schönheit fühlte, alles sah. Mein Herz begann zu pochen, schneller zu schlagen. Es war so schön, so außergewöhnlich, dass ich es erst gar nicht glauben konnte. Ich hatte nur noch wenig Zeit auf der Uhr, aber es funktionierte wegen des sehr akkuraten Zuges 39. Kc6, mit dem ich Matt in zwei Zügen drohte. Es war ein Wahnsinn, er hatte eine Figur mehr, mein König war exponiert, aber er konnte gegen diese Drohung nichts machen.
Es ist immer schön, eine Partie zu gewinnen, in dieser Partie war das Gefühl jedoch einfach wunderbar, auch weil ihr ein studienhaftes Motiv zu Grunde liegt. Als ich die Partie später am Computer überprüfte, war ich überrascht, auf welch hohem Niveau wir doch gespielt hatten. Beim Schnell- und Blindschach passiert es leicht, dass jemand blufft. Wir hatten nichts übersehen und auch keine groben Fehler gemacht. Und trotzdem ist so etwas dabei rausgekommen. Daran sieht man, wie schön Schach sein kann. Von irgendeinem Moment an verlief alles logisch. Wenn ich nicht die Ressource Tc1 gehabt hätte, wäre das Pendel vermutlich zu seinen Gunsten ausgeschlagen. Aber dieser unscheinbare Zug hat tatsächlich die ganze Geschichte gedreht, und alles, was ich vorher gemacht hatte, wurde dadurch richtig und gut. Am Ende hatte ich das Gefühl, eine Sinfonie kreiert zu haben. Wenn es nicht dieses Ende gegeben hätte, wäre das ganze Bild unvollständig geblieben oder die Sinfonie wie ein Kartenhaus eingestürzt. Es ist das Gefühl der Vollendung eines Meisterwerkes, und ich war sehr glücklich.«