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»Child In Time« Deep Purple (1970)

Vom Stolz einer ganzen Stadt

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1975, im Geburtsjahr von Wladimir Kramnik, sollte ein ganz besonderes Ereignis in Manila stattfinden. Die Filipinos öffneten die Schatulle weit, um Robert James Fischer zu bewegen, seinen WM-Titel zu verteidigen. Drei Jahre zuvor hatte er ihn in Reykjavík – in einem legendären Kampf gegen Boris Spasski – gewonnen und war damit der elfte Weltmeister der Schachgeschichte geworden. Fünf Millionen Dollar hatte das Marcos-Regime für diesen Wettkampf garantiert. Diese für Schach unglaubliche Börse wurde bis heute nicht übertroffen. Der exzentrische Amerikaner erschien dennoch nicht, auch nicht, als die meisten seiner Forderungen vom Weltverband akzeptiert wurden. Die FIDE erklärte daraufhin seinen Herausforderer Anatoli Karpow kampflos am grünen Tisch zum Weltmeister. Die Entscheidung wurde am 3. April 1975 zum Bedauern der vielen Millionen Schachliebhaber bekannt gegeben.

Die Enttäuschung der Leute war verständlich. Dem WM-Kampf Fischer gegen Karpow war besonders in den Grenzen der damaligen Sowjetunion entgegengefiebert worden. Mitten im Kalten Krieg war man voller Zuversicht gewesen, dass Karpow die erlittene Schmach würde tilgen können. Ob es ihm jedoch anders ergangen wäre als Boris Spasski, muss Gegenstand ewiger Spekulationen bleiben. Wladimir Kramnik sieht es so: »Mir scheint, dass Fischer die besseren Chancen gehabt hätte. Allerdings war er ein einsamer Wolf ohne ein funktionierendes Team. Ihm in der Eröffnung Probleme zu bereiten, wäre Karpows einzige Chance gewesen.«

Ein knappes halbes Jahr später erlebten die Philippinen dennoch einen unvergessenen Moment der Sportgeschichte. Ferdinand Marcos und sein Regime wollten unbedingt in das Licht der Weltöffentlichkeit rücken. Bei den Bemühungen um die Schach-WM waren sie an Bobby Fischer gescheitert, nun aber hatten sie den Zuschlag für den Kampf um die Boxkrone im Schwergewicht bekommen. Am 1. Oktober 1975 standen sich Muhammad Ali und Joe Frazier beim »Thrilla in Manila« gegenüber. Dieser dritte Kampf der beiden Kontrahenten gilt bis heute als der härteste und wohl auch beste Boxkampf aller Zeiten. So hart, dass Alis Arzt Ferdie Pacheco beide Kämpfer in der stickigen Halle in Lebensgefahr sah.

Ansonsten waren große internationale Sportereignisse 1975 Mangelware. Jahre, in denen weder Olympische Spiele noch Fußballweltmeisterschaften veranstaltet werden, gehen höchst selten in die Sportgeschichte ein. Auch in der Weltpolitik ging es ziemlich ruhig zu. Auf beiden Seiten hatte man sich längst mit den Verhältnissen des Kalten Krieges arrangiert. Die Ostverträge, der 1975 begonnene KSZE-Prozess und auch das offizielle Ende des Vietnamkrieges sorgten in der Folge für allererste Zeichen der Entspannung.

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Bobby Fischers große Schachkarriere war also zu der Zeit, als Wladimir Kramnik das Licht der Welt erblickte, praktisch beendet. Geboren am 25. Juni 1975, entstammt er einer Künstlerfamilie aus dem südrussischen Tuapse, einem verträumten Städtchen am Schwarzen Meer. Sein Vater Boris Petrowitsch, einst Kunstprofessor an der renommierten ukrainischen Universität Lwiw (Lemberg), arbeitete dort als Maler und Bildhauer, seine Mutter Irina Fedorowna als Musiklehrerin. Bruder Jewgeni ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann in der Region Krasnodar.

Der vierköpfigen Familie ging es für sowjetische Verhältnisse gut. Der Vater verdiente ordentlich, und als bildender Künstler war er in der damaligen Sowjetunion hoch angesehen. Die Kramniks bekamen sogar eine eigene Wohnung zugeteilt. Das war zu dieser Zeit ein außerordentliches Privileg, auch wenn die Zweizimmerwohnung nur 30 Quadratmeter groß war. Ein Zimmer teilten sich Mutter und Vater, das andere Jewgeni und Wladimir. Es gab noch eine kleine Toilette, eine winzige Küche und einen Balkon.

Wladimir arrangierte sich mit den Verhältnissen bestens. Schon als Junge war er dabei ziemlich kreativ. Oft nistete er sich auf dem kleinen Balkon ein und hatte dort seine Ruhe. Irgendwie hatte es sein Vater geschafft, eine winzige Ecke abzutrennen und vor Wind und Wetter zu schützen. Oder er studierte im Atelier seines Vaters, inmitten einer ganzen Serie von Lenin-Kopfskulpturen, die ihm ganz nebenbei auch hervorragende Dienste als Nussknacker lieferten.

Menschen wie Kramnik, die im Sternzeichen Krebs geboren sind, wird hinsichtlich ihres Wesens Sensibilität sowie die Fähigkeit zu heller Freude, tiefer Liebe und großem Leid bescheinigt. Krebs-Männer seien treu, loyal und viel zäher, als man meinen möchte. Andererseits aber auch viel sanfter, als der erste Eindruck glauben mache. Falls sich der Krebs-Mann missverstanden und verletzt fühle, könne er sehr empfindlich reagieren. Wenn er sich dann in seinen Panzer verkrieche, sei es sehr schwer, ihn aus seiner Verschlossenheit zu holen. Diese Verallgemeinerungen im Rahmen von Horoskopen sind verständlicherweise nicht jedermanns Sache. Es ist jedoch erstaunlich, wie zutreffend im Fall Kramniks diese Beschreibungen sind.

Als Wladimir vier Jahre alt war, machten ihn seine Eltern mit den Schachregeln vertraut. Danach ließen sie ihn mit dem Schachbrett und den Figuren ganz bewusst allein. Irgendetwas an diesem Spiel zog ihn magisch an, und auch ohne weitere Anleitung ließ er nicht mehr locker. Sein Interesse war ein für allemal geweckt, und Kramnik lernte schnell, wie es bei Kindern in diesem Alter nicht ungewöhnlich ist. Was im Elternhaus aber auffiel, war seine Freude und Ausdauer beim Spiel und auch schon ein natürliches Gefühl für das Wirken der Kräfte auf dem Brett. Als Fünfjähriger wurde er Mitglied der Schachsektion im örtlichen Pionierpalast.

Am Beispiel Wladimirs zeigt sich die große Stärke der ehemaligen UdSSR im Bereich der Talentförderung. Kinder, die Freude und gute Anlagen in einer Disziplin zeigten, fanden schon in jungen Jahren Strukturen mit Betreuern und Trainern vor, die sich für ihre weitere Ausbildung engagierten.

Selbstverständlich war das gewaltige Schachtalent des Wladimir Kramnik früh erkennbar. Die weiteren Entwicklungsschritte folgten in ungeheuerem Tempo. Als Siebenjähriger zählte er bereits zu den Spielern der sogenannten ersten Kategorie, und mit acht Jahren gewann der dunkelhaarige Junge die Erwachsenenmeisterschaft von Tuapse. Das war 1984. Dabei holte er sagenhafte neun Punkte aus neun Partien. Nie mehr danach gelang ihm eine 100-prozentige Ausbeute in einem Turnier. Deshalb sagt Kramnik noch heute mit einem Schmunzeln, dass diese Leistung das beste Resultat seiner Schachkarriere gewesen sei.

Schach war Nationalsport in der ehemaligen Sowjetunion, und in nahezu jedem Haushalt wurde es gespielt. In einer Stadt mit rund 60.000 Einwohnern im zarten Alter von nur acht Jahren die Stadtmeisterschaft, noch dazu in dieser Weise, vor allen anderen Größen zu gewinnen, macht auch heute noch sprachlos. Die Nachricht ging wie eine Schockwelle durch das Städtchen. Fortan war das Wunderkind Wladimir Kramnik eine lokale Berühmtheit und die Bewohner Tuapses mächtig stolz auf ihren genialen Sohn.

Der hoch aufgeschossene Junge – im Erwachsenenalter sollten es stolze 1,95 Meter werden – war trotz allem zu dieser Zeit nur wenig in der Schachtheorie bewandert. In ein paar gängigen Systemen kannte er sich lediglich hinsichtlich der ersten fünf bis acht Züge aus. Dennoch erlaubte ihm sein bereits erkennbares, außergewöhnliches Positionsgefühl eine gute Entwicklung aus der Eröffnung heraus. In den kleinen Händen Wladimirs begannen seine Figuren kraftvoll zusammenzuarbeiten.

Hin und wieder waren in seinen Partieanlagen schon klare Pläne ersichtlich. Diese herausragenden Fähigkeiten in kindlichem Alter wurden natürlich von einigen Experten der Region erkannt, nicht erst seit seinem ersten Erfolg gegen einen Großmeister. Mit zehn Jahren besiegte er im Rahmen einer Simultanveranstaltung den konsternierten Alexander Panchenko, eine bekannte Schachgröße der Region.

Dem Staunen folgte weitere Unterstützung. Mit den Meisterspielern Orest Awerkin und Alexei Ossatschuk wurden Wladimir erstmals zwei Trainer von Rang zur Verfügung gestellt. Mit elf Jahren galt Kramnik als Meisterkandidat und war schon einer der führenden Spieler der Region Krasnodar, einem Gebiet von immerhin mehr als fünf Millionen Menschen.

Im Jahr 1986 schlug er als Zehnjähriger mit Vadim Zaitsew erstmals einen Meisterspieler in einer seriösen Turnierpartie. Für so junge Spieler war dies im Sowjetschach ein höchst seltenes Ereignis. Danach waren für Wladimir Partieerfolge gegen hochkarätige Gegner keine Seltenheit mehr.

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Allen Legenden und Trainern zum Trotz, die wichtigste Person für die Entwicklung seines Talentes war bis zum zwölften Lebensjahr sein Vater. Doch es kam der Punkt, an dem die familiäre und regionale Förderung ihre Grenzen fand. Dass Wladimir dennoch ohne jegliche Verzögerungen und Einbrüche die nächsten Schritte machen konnte, war einem Zufall und einer einzigen Person zu verdanken. Kramniks Vater arbeitete an einer Auftragsarbeit, einer Wandmalerei, im örtlichen Postgebäude und kam so mit dem Chef der Behörde, Zahar Avetisian, ins Gespräch. Sie unterhielten sich lange über Wladimir.

Zahar Avetisian verfügte als Postchef über sämtliche Telefonnummern des Landes. Ohne dass Vater Kramnik etwas davon wusste, rief er Michail Botwinnik in Moskau an. Der Ex-Weltmeister war eine Institution und unterhielt die berühmte Botwinnik-Schachschule, eine Eliteförderung für die allerbesten Talente in der Sowjetunion. Natürlich erreichten Botwinnik und seine Mitarbeiter Tag für Tag unzählige Anfragen dieser Art, aber wirklich nur die Allerbesten der Besten bekamen eine Chance. Doch muss Avetisian, selbst ein passionierter Schachliebhaber, wohl sehr überzeugend gewesen sein. Sie einigten sich darauf, dass er Botwinnik einige Partien Kramniks schicken sollte.

Dies geschah, Botwinnik sichtete das Material und erkannte in Partieanlage und Spielführung des kleinen Kramnik sofort dessen einzigartiges Potenzial. So war es kein Wunder, dass nur wenige Wochen nach dem alles entscheidenden Anruf des Postchefs die Familie eine Einladung nach Moskau erreichte. Ein sechswöchiges Probetraining schloss sich dort an. Wolodja oder Wlad – wie ihn seine Freunde liebevoll nennen – bestand auch diesen Test und war gerade einmal zwölf Jahre, als er 1987 in die Botwinnik-Schachschule zu Moskau aufgenommen wurde.

Zweifellos waren diese Ereignisse im Jahr 1987 von entscheidender Bedeutung für den Verlauf der weiteren Karriere. Wenn er jedoch heute daran und an seine eigenen Kinder denkt, hat Wladimir gemischte Gefühle: »Es ist schön, so früh Bestätigung zu bekommen, und das motiviert ungemein. Aber eine normale Kindheit hatte ich nicht. Alles drehte sich um Schach. Für andere Dinge, einfach nur spielen, wie es für Kinder und Jugendliche normal ist, hatte ich keine Zeit. Jeden Tag studierte oder trainierte ich mehrere Stunden. Wenn kein Training anstand, reiste ich von Turnier zu Turnier.«

Michail Botwinnik traf ich Anfang 1992 im italienischen Reggio Emilia beim Frühstück. Er interessierte sich dafür, dass wir die Dortmunder Schachtage zu einem Weltturnier entwickeln wollten. Wir unterhielten uns ein wenig über seine Moskauer Schachschule. Botwinnik, der bis weit in die 1980er Jahre seine Schüler noch selbst unterrichtete, wurde bei diesem Thema redselig. Als wir auf seine Schützlinge zu sprechen kamen, bezeichnete er Kramnik als das größte Talent. Es war das erste Mal, dass ich diesen Namen hörte. Jürgen Grastat, ehemaliger Dortmunder Turnierdirektor, sorgte in der Folge dafür, dass Kramnik zum A-Open der Dortmunder Schachtage 1992 eingeladen wurde. Es war eines der bestbesetzten offenen Turniere aller Zeiten, welches Kramnik zur großen Überraschung auch gleich mit einem geteilten ersten Platz gewann.

Botwinnik hatte zu dieser Zeit schon erhebliche Probleme hinsichtlich seiner Sehkraft und seines Gehörs. Er schien mir ein sehr bescheidener Mensch, der gleichzeitig wissbegierig war und uns in dem halbstündigen Gespräch viele Fragen stellte. Ich traf ihn nie wieder, Michail Botwinnik starb am 5. Mai 1995 in Moskau.

Übrigens feierten wir nach dem Turnier in Reggio Emilia mit dem damals 23-jährigen indischen Super-Großmeister und Weltmeisterschaftskandidaten Viswanathan Anand dessen Gesamtsieg. Anand war zu dieser Zeit noch unverheiratet und an der Seite von Albert Toby, der ihn in vielen Angelegenheiten unterstützte. Zu dieser Zeit ging es im Profischach noch ziemlich familiär und persönlich zu.

Jürgen Grastat und ich besuchten anschließend noch eine Diskothek im Zentrum von Reggio Emilia. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und die Tanzfläche von Bodyguards geräumt. Es erschien Grace Jones in einem pelzartigen Outfit. Die Sängerin und Schauspielerin war damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. So führte sich die Popikone auch auf. Sie hielt zwei oder drei Solotänzchen ab, und als sie nicht mehr genügend Aufmerksamkeit erregte, zog sie beleidigt wieder ab. Die italienische Jugend durfte weitertanzen.

Wladimir begann schon während des Jahres 1987 sein Ausnahmetalent und die Sicht Botwinniks weiter zu bestätigen. Mit nur zwölf Jahren gewann er die U16-Meisterschaft der UdSSR im aserbaidschanischen Baku durch einen Sieg in der allerletzten Partie gegen Sergei Schilow. Er befand sich in einer »Must-Win-Situation« und löste die Aufgabe bravourös. Dem blitzsauberen Schwarzsieg ging ein beeindruckendes Damenopfer voraus. Schon als Kind zeigte sich eine einzigartige Fähigkeit. Kramnik ist in der Lage, in den wirklich entscheidenden, allerletzten Momenten eines Wettbewerbs seine Kräfte zu bündeln, um wie auf Bestellung zuzuschlagen. Diese Stärke spielte er auch in seiner späteren Karriere in wirklich wichtigen Situationen wiederholt aus, und sie ermöglichte ihm gar zwei Titelverteidigungen im Rahmen seiner WMKämpfe.

1989 führte ihn eine seiner ersten Auslandsreisen nach Aguadilla (Puerto Rico). Dort belegte er bei der U14-WM den zweiten Platz hinter dem Bulgaren Wesselin Topalow. Mit nur 15 Jahren gewann er 1990 die russische Meisterschaft in Kuibyschew. Es war das Jahr, in dem der aktuelle Schachweltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen das Licht der Welt erblickte. 1991 holte sich Wladimir den geteilten ersten Platz beim Turnier junger sowjetischer Meister in Cherson. Im gleichen Jahr gewann er die Junioren-Weltmeisterschaft im brasilianischen Guarapuava mit neun Punkten aus elf Partien. Bei sieben Siegen und vier Remis blieb er dabei ungeschlagen.

Die ersten 16 Jahre in Kramniks Leben waren schachlich natürlich geprägt von den großen WM-Kämpfen zwischen Karpow und Kasparow, die sich zwischen 1984 und 1990 fünf große Duelle lieferten.

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1991 war Kramnik erst 16 Jahre alt, und schon zu diesem für einen Schachprofi extrem frühen Zeitpunkt stand er kurz vor seinem internationalen Durchbruch. Es war das Jahr, in dem ich den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow bei der CEBIT in Hannover, seinen Vorgänger Anatoli Karpow und die drei Polgár-Schwestern an der Seite ihres rührigen Vaters erstmals traf.

Im gleichen Jahr erlebte ich mein erstes wirklich großes Schachereignis. In Brüssel wurden die Kandidatenwettkämpfe im Radisson SAS vom SWIFT-Manager Bessel Kok organisiert. Vor Ort sahen wir die unsterbliche Partie des aus Russland stammenden Weltklassespielers Artur Jussupow gegen Wassili Iwantschuk (Ukraine). Es war die Zeit, in der ich Dr. Helmut Pfleger, Großmeister und bekannter TVModerator, und viele andere Größen der Schachszene traf.

Während wir in Brüssel mit der Organisation einer Pressekonferenz zu tun hatten, fand gleichzeitig an Kramniks Wohnsitz in Moskau ein Putsch gegen Michail Gorbatschow statt. Im August 1991 zeigten Panzer Präsenz auf dem Roten Platz, und das Weiße Haus wurde beschossen. Der Putsch einiger machtvoller Funktionäre der Kommunistischen Partei scheiterte nach wenigen Tagen, aber er läutete das endgültige Ende der Sowjetunion ein. Am 25. Dezember 1991 trat Gorbatschow zurück, und das Ende der UdSSR wurde beschlossen. Die Rechtsnachfolge trat die Russische Föderation an, die von Boris Jelzin angeführt wurde.

Um ein Gefühl für die Situation Anfang der 1990er Jahre in Russland zu vermitteln, ist die Geschichte des schon erwähnten Großmeisters Artur Jussupow ein zwar extremes, aber durchaus treffendes Beispiel. Der Eiserne Vorhang war gefallen. Wir im Westen waren voller Euphorie, den Kalten Krieg überwunden zu haben. Die Zeche aber zahlten die Menschen im Osten, ganz besonders in Russland. Den Verfall des Gewaltmonopols des russischen Staates konnte man besonders in der Hauptstadt tagtäglich erleben. Folgerichtig galt dort nur noch das Recht des Stärkeren. Ein staatlicher Schutz vor kriminellen Machenschaften war praktisch nicht mehr vorhanden.

Jeder war auf sich allein gestellt und musste zusehen, wie er klarkam. In dieser Zeit reiste ich mehrfach nach Moskau. Ohne die Hilfe der Einheimischen war dies ein hochgradig gefährliches Unterfangen. Um meine Sicherheit bemühte sich gewissenhaft Alexander Bach, ehemaliger Direktor des russischen Schachverbandes, denn für Menschen aus dem Westen, mit US-Dollar oder Deutscher Mark in der Tasche, war die Situation schlicht und einfach lebensgefährlich. Zweimal sind während meiner Aufenthalte Geschäftsleute vor den Hotels Belgrad und Kosmos durch Überfälle ums Leben gekommen.

In jener Zeit klingelte es an der Wohnungstür von Artur Jussupow. Er war gerade von einem Münchner Turnier mit seinem Preisgeld zurückgekehrt. Als er öffnete, standen junge Männer davor und zeigten Polizeiausweise. Dann zogen sie Messer und Pistole. An Artur vorbei stürmten sie in die Wohnung. Ein Bauchschuss traf ihn, er wurde gefesselt. Sein Preisgeld, von dem er 50 Prozent an das Sportkomitee abzuliefern hatte, lag noch auf dem Küchentisch. Sie nahmen es und dazu mehrere elektronische Geräte. Artur war lebensgefährlich verletzt und wurde einfach liegen gelassen. Die Täter wurden nie ermittelt. Zum Glück überlebte dieser große Spieler und Mensch. Nach seiner Genesung emigrierte er nach Deutschland, wo er sich sicher fühlen konnte. Er war nicht der Einzige, der auswanderte. Allein in der deutschen Schachbundesliga spielten in der Saison 1991/92 mehr als 20 Großmeister aus der ehemaligen Sowjetunion.

LICEW, ALEXANDER – KRAMNIK, WLADIMIR

Tuapse 1985, Bedenkzeit: klassisch

1. e4 c5 2. Sf3 e6 3. d4 cxd4 4. Sxd4 Sc6 5. Le2 Sf6 6. Sc3 d6 7. Le3 Le7 8. 0-0 0-0 9. Dd2 a6 10. f4 Dc7 11. a4 Td8 12. Kh1 Sa5 13. g4 Sc4 14. Dc1 Sxe3 15. Dxe3 Dc5 16. g5 Se8 17. Dd2 Db4 18. Sb3 d5 19. e5 d4 20. Se4 Dxd2 21. Sbxd2 Ld7 22. Ld3 Lc6 23. Kg1 Sc7 24. Sb3 b6 25. Tf3 Tac8 26. Th3 Sd5 27. Th4 Sb4 28. Sbd2 Sxd3 29. cxd3 Ld5 30. Tb1 Tc2 31. b3 Lb4 32. Sc4 Lxe4 33. dxe4 d3 34. Kf1 Td4 35. Th3 d2 36. Td1 Txe4 37. Se3 Tc3 38. Ke2 Lc5 0:1

Wladimir Kramnik:

»Als ich diese Partie spielte, war ich neun Jahre alt. Sie wurde von meinem Gegner etwas naiv angelegt, aber man sollte natürlich berücksichtigen, dass wir noch Kinder waren. Ich finde, dass ich für dieses Alter schon ganz gut gespielt habe: eine logische Partieführung mit Kontrolle des Zentrums. Weiß hat natürlich nicht perfekt agiert, aber mein Spiel war im positionellen Sinne schon ziemlich akkurat.

Das hier ist eine erste Präsentation meines Schachstils. Er ist klassisch. Der Stil eines Spielers ändert sich nie wirklich. Tatsächlich ist es so, dass du mehr oder weniger dein ganzes Leben so spielst, wie du es mit zehn Jahren tust. Die Partien, die ich in diesem Kapitel zeige, präsentieren schon meine ganz spezifische Marke: einen aktiven, positionellen Stil. Ich spiele klassisch und doch ziemlich aktiv. Ich verteidige weniger, attackiere aber mit einem soliden positionellen Fundament.«

ODEEV, HANDSZAR – KRAMNIK, WLADIMIR

U18-Meisterschaft UdSSR, Ukraine 1988, Bedenkzeit: klassisch

1. e4 c5 2. Sf3 e6 3. b3 Sc6 4. Lb5 Sf6 5. e5 Sd5 6. 0-0 Le7 7. c4 Sc7 8. Lxc6 bxc6 9. d4 cxd4 10. Dxd4 c5 11. Dg4 0-0 12. Sc3 f6 13. Lf4 Lb7 14. Dg3 Se8 15. Se1 fxe5 16. Lxe5 d6 17. Lf4 Lf6 18. Tc1 Lh4 19. Dh3 Txf4 20. g3 Td4 21. Dxe6+ Kh8 22. Sc2 Td3 23. Se1 Td4 24. Sc2 Td2 25. gxh4 Dxh4 26. De3 Sf6 27. Dg3 Dxg3+ 28. hxg3 Se4 29. Sb1 Te2 30. Tfe1 Sxg3 31. Sc3 Txe1+ 32. Txe1 Sf5 33. Se3 Sd4 34. Kf1 Te8 35. Sb5 Sxb5 36. cxb5 Lf3 37. Sc4 Lg2+ 38. Kxg2 Txe1 39. Sxd6 Ta1 40. a4 Ta3 41. Sc8 Txb3 42. Sxa7 c4 43. Kf1 c3 44. Ke2 h5 0:1

Wladimir Kramnik:

»Das war mein erster Auftritt im Rahmen eines Turniers auf nationaler Ebene und somit das erste große Jugendturnier in meinem Leben. Es war die sowjetische U18-Meisterschaft und damit das stärkste Jugendturnier der Sowjetunion und zu jener Zeit gleichzeitig das beste der Welt. Alle aufstrebenden Stars waren am Start: Gata Kamsky, Alexei Schirow oder Peter Swidler, um nur einige zu nennen. Insgesamt nahmen 60 Spieler teil, und sie waren im Durchschnitt vier bis fünf Jahre älter als ich. Denn ich war erst zwölf und konnte am Ende immerhin einen hervorragenden fünften Platz belegen.

Es war mein erster großer Erfolg. Danach wusste in Russland jeder, dass es da einen talentierten Spieler aus der tiefsten russischen Provinz gab. Mein 16-jähriger Gegner Handszar Odeev war selbst einer der besten Junioren zu dieser Zeit. Die Partie ist ebenfalls ein gutes Beispiel für meinen Stil: aktiv, positionell und für das Alter ziemlich präzise gespielt. Ich hatte das Läuferpaar und konnte ihn überspielen. Im Endspiel zeigte ich schon eine ganz ordentliche Technik.«

KRAMNIK, WLADIMIR – GERMANAVICHUS, SERGEI

U18-Meisterschaft UdSSR, Pinsk/Weißrussland 1989, Bedenkzeit: klassisch

1. e4 c5 2. Sf3 d6 3. d4 cxd4 4. Sxd4 Sf6 5. Sc3 a6 6. f4 e5 7. Sf3 Sbd7 8. a4 Le7 9. Ld3 0-0 10. 0-0 exf4 11. Kh1 Sc5 12. Lxf4 Ld7 13. De2 Te8 14. a5 Tc8 15. Le3 Lf8 16. Ld4 Lg4 17. De3 Lh5 18. Lxf6 Dxf6 19. Sd5 Dd8 20. b4 Sd7 21. c4 Lg6 22. Tae1 Le7 23. Da7 Tb8 24. Lc2 Sf6 25. La4 Tf8 26. Dd4 Sxd5 27. Dxd5 Lf6 28. e5 dxe5 29. Sxe5 Lxe5 30. Txe5 h6 31. Ld7 Dc7 32. c5 Kh8 33. Te7 Tbd8 34. Dd6 Dxd6 35. cxd6 f5 36. Td1 f4 37. Lg4 Lf5 38. Lf3 Tf6 39. d7 Kh7 40. Lxb7 h5 41. b5 axb5 42. a6 Tb6 43. Te8 Txd7 44. Txd7 Lxd7 45. Le4+ g6 46. Te7+ Kh6 47. a7 Lc6 48. Te6 1:0

Wladimir Kramnik:

»Die Partie spielte ich ebenfalls während der sowjetischen U18-Meisterschaft, nur ein Jahr später. Ich würde sie auch heute nicht viel anders spielen und wäre glücklich damit: im gleichen positionell aktiven Stil. Man kann erkennen, dass sich dieser innerhalb eines Jahres wiederum erheblich verbessert hat, und in dieser Partie stand am Ende ein schön herausgespielter Sieg.«

VAN WELY, LOEK – KRAMNIK, WLADIMIR

U21-Europameisterschaft, Arnheim/Niederlande 29.12.1990, Bedenkzeit: klassisch

1. d4 e6 2. c4 f5 3. g3 Sf6 4. Lg2 c6 5. Sf3 d5 6. 0-0 Ld6 7. b3 De7 8. Lb2 b6 9. Se5 Lb7 10. Sd2 0-0 11. Sdf3 Sbd7 12. Dc2 Tac8 13. cxd5 cxd5 14. Dd3 Se4 15. Sxd7 Dxd7 16. Se5 De7 17. f3 Sf6 18. Tac1 Sd7 19. Txc8 Txc8 20. Sxd7 Dxd7 21. e4 dxe4 22. fxe4 Lxe4 23. Lxe4 fxe4 24. Dxe4 Le7 25. Te1 Lf6 26. Te2 Dd5 27. Dxd5 exd5 28. Kf2 Kf7 29. Ke3 h5 30. h3 b5 31. Kd3 b4 32. Te1 Tc6 33. a3 bxa3 34. Lxa3 Ta6 35. Lb2 Kg6 36. Lc3 Ta3 37. Ta1 Txa1 38. Lxa1 Kf5 39. Ke3 g5 40. Kf3 g4+ 41. hxg4+ hxg4+ 42. Ke3 Le7 43. Lc3 Ld6 44. Le1 Ke6 45. Kd3 Kd7 46. Ke2 Kc6 47. Kd3 Kb5 48. Kc2 a5 49. Kd3 a4 50. bxa4+ Kxa4 51. Lf2 Kb3 52. Le1 Kb2 53. Lf2 Kc1 54. Le3+ Kd1 55. Lf2 La3 56. Ke3 Lc1+ 57. Kd3 Ld2 58. Le3 Le1 59. Lf4 Lf2 60. Le5 Ke1 61. Kc3 Ke2 62. Kb4 Kf3 63. Kc5 Ke4 0:1

Wladimir Kramnik:

»Das war für mich eine sehr bedeutende Partie bei der U21-Europameisterschaft. Ich war erst 15 Jahre alt und belegte am Ende den geteilten dritten Platz. Für die Begegnung mit Loek bekam ich den Preis für die schönste Partie des Turniers. Dabei handelte es sich um meinen ersten internationalen Pokal, auf den ich sehr stolz war und der auch heute noch in meinem Trophäenschrank steht. Viel wichtiger war jedoch, dass mich danach Anatoli Bychowski, der Cheftrainer der sowjetischen Jugendmannschaft, unterstützte. Die Partie gegen van Wely war ein entscheidender Auslöser für ihn. Bychowski erzählte mir Jahre später, dass er durch dieses Spiel verstanden habe, dass ich ein wirklich großer Schachspieler werden könne.

Er vermittelte mir danach einige Einladungen zu russischen Turnieren, die ich sonst wohl nicht bekommen hätte und die mich in meiner weiteren Entwicklung sehr voranbrachten. Das Beeindruckende an dieser Partie gegen van Wely war, dass ich den drei Jahre älteren Niederländer in einer ausgeglichenen Stellung überspielen konnte. Nach dem 25. Zug bot Loek Remis an. Ich lehnte ab, weil Schwarz über einen besseren Läufer verfügte, spielte über beide Flanken und konnte winzige Vorteile nach und nach ausbauen. Mit 15 Jahren hatte sich meine Endspieltechnik schon ganz erheblich verfeinert. In diesem Stil habe ich später viele wichtige Partien meiner Karriere gewonnen.«

Wladimir Kramnik

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