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Оглавление»Time Is On My Side« The Rolling Stones (1964)
Vom chaotischen Genie
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In der Schachwelt tat sich im Jahr 1992 eine Menge. Garri Kasparow gründete die Professional Chess Association (PCA). Es war sein erster Schritt, um sich vom Weltverband FIDE endgültig zu lösen. Am 27. Juni 1992 starb Michail Tal, achter Schachweltmeister der Geschichte, im Alter von nur 55 Jahren.
1992 war auch das Jahr, in dem Bobby Fischer – 20 Jahre nach seinem legendären Sieg in Reykjavík – noch einmal antrat. Seine allerletzten öffentlichen Partien spielte er für ein Preisgeld von drei Millionen USDollar gegen Boris Spasski in Sveti Stefan (Montenegro) und Belgrad. Es war ein ziemlich bedeutungsloser Show-Wettkampf, den Fischer mit 17,5:12,5 locker gewann. Bobby schien das Geld des jugoslawischen Privatbankiers Jezdimir Vasiljević bitter nötig gehabt zu haben. Das Match brachte ihm nämlich im Nachhinein noch jede Menge Ärger ein, da er damit gegen das UNO-Embargo gegen Rest-Jugoslawien verstoßen hatte, das mit Serbien und Montenegro beide Veranstaltungsorte umfasste.
Fischer drohten daraufhin in den USA Haft und eine hohe Geldstrafe, so dass er den Wohnort häufig wechselte. Wann immer den USA Fischers Wohnort bekannt wurde, versuchten die US-Behörden, seiner habhaft zu werden. Jedoch erfolglos. Nach Aufenthalten unter anderem auf den Philippinen, in Deutschland, Ungarn und Japan fand Bobby sein letztes Domizil auf Island. In Reykjavík, dort, wo er einst seinen größten Kampf ausgefochten hatte, verstarb er am 17. Januar 2008 – ohne seine Heimat jemals wiedergesehen zu haben.
Die Schachwelt begann mich immer mehr in ihren Bann zu ziehen. Ich hatte im Profisport bereits Erfahrungen mit Fußballern, Boxern, Handballern und Tischtennisspielern gemacht. Aber Schach, das war noch einmal ganz etwas anderes. Die Spitzengroßmeister verfügten in der Regel über außergewöhnliche Fähigkeiten und starke Persönlichkeiten. Sie genossen einen ungeheuren Respekt, selbst bei den Medien. Alles war viel intensiver, nachhaltiger. Und: Sie waren echte Globetrotter. Mit ihrem Spiel zogen sie rund um die Welt, nicht wie ein Profifußballer, der vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr im Rahmen der Europapokalwettbewerbe ein anderes Land sah. Nein, Schach war viel mehr und das nicht nur wegen seiner Großmeister.
Rückblickend glaube ich, dass die 1980er und die 1990er Jahre das goldene Zeitalter des Schachspiels darstellten. Die Eröffnungsvorbereitung mittels Computerunterstützung war noch nicht so weit fortgeschritten, und der Mensch war der Maschine im Prinzip noch überlegen. Viele Spieler reisten noch mit Schachbüchern und ihren eigenen Aufzeichnungen zu den Turnieren. Die gesamte Szene inklusive der konkurrierenden Großmeister traf sich in den Hotels der Spielorte morgens zum Frühstück. Aus aller Herren Länder kamen sie, und es wurde über Schach, Sport oder Politik gefachsimpelt. Nach den Partien setzte man sich oft und gerne auf ein Glas Wein oder Bier zusammen. Es war noch eine »romantische« oder sagen wir besser gemütliche Zeit. Freundschaften entstanden, und die Gesellschaften eines Artur Jussupow, Jan Timman, Klaus Bischoff, Eric Lobron oder Iwan Sokolow bleiben unvergessen.
Die Spielbedingungen und die Gagen hatten sich in dieser Periode des Profischachs erheblich verbessert – Bobby Fischer sei Dank, denn er hatte mit seinen Forderungen Maßstäbe gesetzt und die Veranstalter gezwungen, Bedingungen zu verändern und besonders die Interessen der Spieler viel mehr zu respektieren. Fischer wurde oft als verrückt bezeichnet. Im professionellen Sinne war er das keineswegs, auch für Wladimir Kramnik nicht. Die Topgroßmeister profitieren bis in die Gegenwart von seinen Initiativen. Fischers Nachfolger Anatoli Karpow und Garri Kasparow griffen den Ball auf, und ihre WM-Kämpfe taten ein Übriges zur Popularisierung. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre hätte man – ähnlich wie im Tennis (ATP) oder Golf (PGA) – den Grundstein für eine blühende Zukunft des Profischachs legen können. Dass diese gewaltige Chance verpasst wurde, lag einzig und allein am Weltverband.
Natürlich war der damalige Weltmeister Garri Kasparow ein schwieriger Partner. Schon 1985 zeigte er mit der Gründung der Großmeistervereinigung GMA erste Tendenzen zur Ablösung vom Weltverband, die er dann 1993 endgültig in die Tat umsetzte. Kasparow hatte jedoch gute Gründe, denn die FIDE verstand schon damals wenig bis gar nichts von der Vermarktung des Weltmeisterschaftszyklus und weiterer Topevents. Daran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert, auch nicht hinsichtlich der zuweilen amateurhaften Präsentation und Organisation dieser Veranstaltungen.
Durch den Einzug der Computer in die Schachwelt veränderte sich die Atmosphäre Zug um Zug zum Negativen. Die Tendenz, sich großer Schachdatenbanken auf der jeweils aktuellsten Hardware zu bedienen, wurde zu Beginn der 1990er Jahre von Garri Kasparow mit Unterstützung der Firma ChessBase stark vorangetrieben. Kasparow war der Erste, der das Potenzial der neuen Entwicklung frühzeitig erkannte und die Rechner nutzte wie kein anderer. Seine Eröffnungsvorbereitung verschaffte ihm damit jahrelang einen Vorsprung gegenüber seiner Konkurrenz. Was er damals begann, ist heutzutage so selbstverständlich wie die Schachregeln selbst.
Der moderne Großmeister nutzt jede freie Minute für seine Eröffnungsvorbereitung mit dem Rechner. Gespräche und die Partieanalysen post mortem gibt es kaum noch. Die Schachsoftware ist mittlerweile selbst auf einem einfachen Notebook dem Weltmeister überlegen. In der Folge sind die Spielsäle meist nur spärlich besucht, weil auch das Publikum überwiegend lieber zu Hause vor dem Rechner sitzt, um die Partien im eigenen Wohnzimmer zu verfolgen. Sogar gestandene Schachjournalisten raffen sich immer weniger auf, vom Ort des Geschehens zu berichten.
Das alles ist nicht sonderlich attraktiv für kommerzielle Sponsoren. Es ist allerhöchste Zeit, dass es in einigen Bereichen ein drastisches Umdenken beim Weltverband und auch den freien Veranstaltern gibt. Zeitversetzte Internetübertragungen sowie hohe Qualitätsstandards hinsichtlich der Organisation und der Präsentation von Topereignissen sollten zwingend eingeführt werden. In den allermeisten Fällen erfüllen sie die Ansprüche an eine zeitgemäße Vermarktung nämlich nicht.
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Aber zurück zu Wladimir Kramnik: Als er 1992 seinen unaufhaltsamen Aufstieg in die Weltspitze mit Turniersiegen in Gausdal/Norwegen, beim Dortmund-Open und in Chalkidiki/Griechenland begann, war die Schachwelt noch in Ordnung. Für die Schacholympiade in Manila hatte ihn Garri Kasparow empfohlen. Auch Michail Botwinnik und Juri Rasuwajew zählten zu Kramniks Befürwortern. Seine Nominierung wurde innerhalb des russischen Schachverbands dennoch heiß diskutiert und löste teilweise heftige Kritik aus.
In Russland gab es damals 40 Großmeister, und Kramnik war dieser Titel noch nicht einmal verliehen worden. Er hätte noch mehrere Jahre bei den Juniorenturnieren dieser Welt spielen können, und nun brachte er die komplette Hierarchie durcheinander. Erschwerend kam hinzu, dass durch den Zusammenbruch der Sowjetunion den Russen mit der Ukraine, Armenien oder Lettland neue, starke Gegner bei Olympiaden und Team-WMs erwachsen waren. Ein Abonnement auf Goldmedaillen gab es fortan nicht mehr.
Kramnik durfte dennoch spielen und rechtfertigte das Vertrauen in einer Weise, dass selbst seine größten Kritiker Abbitte leisten mussten. Mit acht Siegen und einem Remis trug er an Brett vier wesentlich zum Mannschaftsgold der Russen bei. Am 25. Juni 1992, seinem 17. Geburtstag, wurde ihm das olympische Einzelgold für die beste Performance am vierten Brett verliehen. Sein Aufstieg in die erweiterte Weltspitze war so rasant, dass der FIDE keine Zeit blieb, ihm die Titel des Internationalen Meisters und des Großmeisters nacheinander zu verleihen. In Manila bekam er dann beide Titel gleichzeitig: ein Novum bis zum heutigen Tag.
In diesen Monaten des Jahres 1992 wurde der Schachwelt auch außerhalb Russlands das immense Talent Kramniks sehr präsent. Er war unverbraucht, enorm kreativ und bereits ausgestattet mit überragender Technik. Er gehörte de facto schon zu dieser Zeit zu den besten zehn Schachspielern der Welt. Offiziell tauchte er in den Top Ten der FIDEWeltrangliste dann erstmals am 1. Januar 1993 auf, und zwar gleich an Position sechs. Bis November 2014, als er nach einem kleinen Tief kurzzeitig auf Platz elf abrutschte, sollte er in den folgenden 22 Jahren den erlauchten Kreis der zehn Spitzenspieler nicht mehr verlassen.
Was Wladimir noch fehlte, war eigentlich nur die direkte Auseinandersetzung mit den absoluten Spitzenspielern. Bei Topturnieren und Schachweltmeisterschaften dauerhaft zu bestehen, sich dann weiterzuentwickeln, um irgendwann das volle Potenzial auszuschöpfen: Das war Kramniks Berufung, wenn auch die volle Entfaltung seiner Möglichkeiten noch einige Jahre auf sich warten lassen sollte.
Schon Ende 1992 intensivierten sich seine Kontakte zu Deutschland. Neben der fortan regelmäßigen Teilnahme an den Dortmunder Schachtagen verpflichtete ihn der Schachbundesligist Empor Berlin. Dort stieg er schnell zur Nummer eins auf und blieb im ersten Jahr bei acht Bundesligawettkämpfen ungeschlagen.
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1993 war auch das Jahr, in dem er erste Matcherfahrungen sammelte. In Cannes gewann er mit 4,5:1,5 leicht ein Duell gegen den französischen Spitzenspieler Joël Lautier. Mit dem gleichen Ergebnis besiegte er den Spanier Miguel Illescas. Mit Auxerre wurde er französischer Meister. In den Superturnieren von Dortmund und Belgrad belegte er jeweils ungeschlagen den zweiten Platz. Das Turnier in Madrid gewann er geteilt mit Wesselin Topalow und Viswanathan Anand. Nichts schien ihn mehr aufhalten zu können. In diesem Jahr besuchte ich die Turniere in Linares, Madrid, Tilburg und Groningen. Immer besser lernte ich die Szene und auch Wladimir Kramnik persönlich kennen.
Zwischenzeitlich hatte sich der Weltmeister Garri Kasparow endgültig mit der FIDE überworfen und die Spaltung herbeigeführt. Er besiegte in London den Engländer Nigel Short mit 12,5:7,5. Der Weltverband FIDE hatte ihm zwar den Titel entzogen, aber jedermann respektierte den Russen weiterhin als den wahren Schachweltmeister. Unter der aus Anlass ihres WM-Kampfes gegründeten »Professional Chess Association« – kurz PCA – veranstalteten Kasparow und Short mit Unterstützung des Titelsponsors Intel zunächst erfolgreich ihren eigenen Weltmeisterschaftszyklus.
1994 gelang Kramnik der erste Sieg in einer Turnierpartie gegen Garri Kasparow in Linares. Es war ein erster Meilenstein in Richtung London 2000, dem WM-Kampf der beiden russischen Spitzenspieler. In der Szene begann man bereits zu diskutieren: Würde sein außergewöhnliches Potenzial ihn bis zum WM-Titel führen? Die erste Partie gegen den Weltmeister zu gewinnen, noch dazu in einem so wichtigen Turnier, verlieh Kramnik ungeheures Selbstvertrauen. Fortan ließ er sich von Kasparow, im Gegensatz zu allen anderen Spitzenspielern, nicht mehr beeindrucken. Er sollte in der Zukunft zu Kasparows Nemesis werden. Einst würde er ihm den Titel abnehmen und bei Beendigung der Kasparow’schen Karriere gegen ihn eine positive Bilanz im seriösen, klassischen Schach vorweisen.
Beim Intel Grand Prix der PCA 1994 in Moskau, Paris, New York und London spielte Kramnik alles in Grund und Boden. Er gewann in New York und gleichzeitig auch die Gesamtwertung dieses hoch dotierten Wettbewerbs im Schnellschach, bevor die PCA ein Jahr später in die Brüche ging.
Der Besuch der Schacholympiade 1994 in Moskau im Hotel Kosmos bleibt unvergessen, aber nicht nur in positiver Hinsicht. Dass Russland mit einem weiteren Klasseergebnis Kramniks (acht Punkte aus elf Partien) erneut Olympiasieger wurde, sei am Rande bemerkt. Die Anarchie in Moskau war unter der Präsidentschaft Jelzins immer noch allgegenwärtig. Überfälle vor dem Hotel Kosmos auf dem Weg zur Metro waren beinahe an der Tagesordnung. Vom Hotelzimmer waren in der Nacht ständig Schüsse zu hören. Für die Sicherheit konnte der Kreml offensichtlich nicht garantieren, dafür musste man schon selbst sorgen.
Anatoli Karpow und Garri Kasparow waren zu dieser Zeit sehr in die Schachpolitik involviert. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an die legendäre Einladung Anatoli Karpows. Man war einfach froh, ein wenig Abwechslung vom hermetisch abgeriegelten Hotel Kosmos zu bekommen. Bei minus 30 Grad warteten wir auf einen Bus, der etwa 50 Leute in eine kleine Moskauer Diskothek am Rande der City brachte. Die Diskothek war von etwa 30 Sicherheitsleuten komplett mit halbautomatischen Waffen gesichert. Auf dem Dach des Gebäudes befand sich zusätzlich eine Einheit, die im Ernstfall ein Maschinengewehr bedienen würde. Ein wenig mulmig war uns allen, aber wir wurden dafür entschädigt. Karpow – der damals erfolglos versuchte, den Franzosen Bachar Kouatly als FIDE-Präsidenten durchzudrücken – ließ sich nicht lumpen. Für unsere kleine Gesellschaft gab es kiloweise Kaviar, den feinsten Champagner und akrobatische Vorführungen des Moskauer Staatszirkus.
Wie Moskau damals »tickte«, lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Der normale Eintrittspreis für das Bolschoi-Theater betrug rund 100 Rubel, was einem Gegenwert von drei, vier US-Dollar entsprach. Kaufen konnte man Karten auf normalem Weg jedoch nicht, denn die Vorstellungen waren offiziell immer ausverkauft. Irgendwann habe ich einfach auf dem Schwarzmarkt die verlangten 120 Dollar gegeben. Als ich dann in dieses weltberühmte Theater kam – es wurde wie üblich Schwanensee zur Musik von Tschaikowski aufgeführt –, sah ich den krassen Gegensatz eines ausverkauften Hauses mit seinen fast 2.000 Plätzen. Höchstens 300 Zuschauer waren tatsächlich anwesend. Ich habe hinterher erfahren, dass gewisse Organisationen die kompletten Kartenkontingente für die gesamte Saison aufkauften, um diese dann schwarz an die Meistbietenden zu vermarkten. Wenn niemand bezahlte, blieb die Vorstellung eben leer. Der Durchschnittsrusse hatte selbstredend zu dieser Zeit überhaupt keine Möglichkeit mehr, sein Bolschoi zu besuchen.
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Beide Schach-Organisationen – PCA wie FIDE – begannen 1994 mit einem neuen WM-Zyklus. Kramnik stieg als Weltranglistendritter mit einem Sieg bei den von der FIDE organisierten Kandidatenwettkämpfen ein. Im holländischen Wijk aan Zee gewann er mühelos gegen den für Israel antretenden Großmeister Leonid Judassin mit 4,5:1,5. Bis dahin lief alles wie geschmiert, dann folgten zwei Niederlagen, die den 19-Jährigen wie Hammerschläge trafen.
Zunächst verlor er im Viertelfinale der PCA-WM mit 1,5:4,5 gegen seinen Landsmann Gata Kamsky und gleich danach bei der konkurrierenden FIDE mit 3,5:4,5 gegen Boris Gelfand, der damals noch für Weißrussland startete. Wladimir galt in beiden Wettkämpfen als klarer Favorit. Naturgemäß fehlte dem jungen Kramnik noch einiges an Erfahrung in diesen Wettkämpfen, aber es gab auch noch andere Gründe für das Scheitern. Einer war sein Lebenswandel, denn dieser war zu jener Zeit alles andere als professionell.
Mitte der 1990er Jahre lernte Wladimir den deutschen Metallhändler Josef Resch kennen. Resch, der in der ehemaligen Sowjetunion groß geworden war und nach einem Studium der Betriebswirtschaft in Deutschland wieder in Moskau lebte, sprach natürlich fließend Russisch. Er kannte die Mentalität der Leute und gewann das Vertrauen Kramniks. Wladimir besaß einerseits mit seinen 20 Jahren die intellektuelle Reife und Bildung eines erwachsenen Mannes, andererseits fehlte ihm noch einiges an Erfahrung im Umgang mit dem kapitalistischen System des Westens. Außerdem galt es, an einigen Schwächen zu arbeiten, die ihn noch daran hinderten, schachlich sein ganzes Potenzial abzurufen.
Resch beschreibt die Probleme so: »Wolodja hatte immer Hunger, sich aber schlecht ernährt, ganz oft aus der Dose. Er hatte damals in Moskau eine Dreieinhalbzimmerwohnung, und ständig lebten dort irgendwelche Leute und übernachteten.« Er sei erst früh morgens ins Bett gegangen und frühestens um 14 Uhr aufgestanden. »Aber das ist nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste war, dass er sich überhaupt nicht um seine körperliche Verfassung gekümmert und einen chaotischen Lebenswandel geführt hat«, erinnert sich Resch.
Kramnik hat Josef Resch einiges zu verdanken. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, denen Wladimir begegnete, hatte Resch kein finanzielles Interesse, war offen und ehrlich zu ihm. Resch kritisierte die ungesunde Lebensweise und erklärte ihm auch, dass er sich selbst um sein Vermögen kümmern müsse, weil er sonst nie eines besitzen würde. Er sagte ihm ganz direkt: »Bei diesem Lebenswandel wirst du niemals Weltmeister.« Kramnik verstand natürlich, blieb aber zunächst stur. Es sollte noch Jahre dauern, bis er sein Leben tatsächlich ändern würde.
Dafür brauchte er die große Herausforderung, die er 2000 mit Kasparow bekommen sollte. Ein weiteres Problem verstärkte sich mehr und mehr: Er bekam in Russland keine Ruhe mehr. Dort war er schon ein Star und wurde von vielen Menschen umgeben – auch von denjenigen, die einzig und allein auf ihren schnellen Vorteil aus waren. Populäre Menschen wie Kramnik, denen es nicht leicht fällt, klar nein zu sagen, können sich ihnen kaum entziehen. Eine Fokussierung auf die weitere Karriere ist dann kaum noch möglich, und oft genug ist dies der Anfang vom Ende.
Noch aber sah Kramnik keine Probleme. 1993 sagte er über sich selbst: »Ich bin nicht sehr ehrgeizig, das liegt in meiner Natur.« Für seine Verhältnisse arbeitete er durchaus hart, aber eben nicht konzentriert genug. Er war ein starker Analytiker, schon damals brachte er mit wissenschaftlicher Akribie die Schachtheorie voran. Wladimir glaubte an korrektes Schach, an die Schönheit des Spiels. Sein Leben war zu dieser Zeit genauso, wie er es sich vorgestellt hatte: Er lebte wie ein Bohemien, sein junger Körper machte das alles noch mit, und er fühlte sich rundherum wohl.
Doch langsam, aber sicher fand eine Transformation statt, wobei er immer wieder von seinem Mentor Resch ermuntert wurde. Als Reaktion auf seine Matchniederlagen 1994 gegen Kamsky und Gelfand explodierte Kramnik im Jahr 1995: Wladimir triumphierte erstmals in Dortmund, danach in Horgen (Schweiz) und in Belgrad. Seine Leistung für Empor Berlin in der Bundesliga war unglaublich beeindruckend. Am ersten Brett legte er sieben Siege bei drei Remis hin. Die deutsche Schachöffentlichkeit war von dem jungen Russen begeistert.
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Doch es war nicht alles Gold, was glänzte. Wladimir Kramnik vertraute Mitte der 1990er Jahre hin und wieder den falschen Leuten. Um den Großteil seines bis dato erspielten Vermögens von knapp 400.000 Mark wurde er betrogen. Im Beisein eines bekannten Berliner Schachjournalisten hatte er ein Bankkonto in Berlin eröffnet. Vollmacht dafür bekam laut Kramnik ein Betreuer des Berliner Schachbundesligisten Empor. Kramnik hatte mehrfach im Ausland befreundeten Schachspielern aus Deutschland Schecks und Bargeld mit der Bitte übergeben, diese an den Bevollmächtigten weiterzuleiten, der die Einzahlungen auf sein Konto vornehmen sollte. Lange glaubte Wladimir, dass sein Vermögen sicher auf diesem Bankkonto liege, jedoch sah er davon nie wieder einen Pfennig.
Wladimir Kramnik sieht sich von dem Berliner betrogen und äußert sich wie folgt: »Er hatte Vollmacht für mein Bankkonto und hob hohe Beträge ohne meine Zustimmung ab. Was immer er vorgibt, mit dem Vermögen gemacht zu haben: Ich hätte ihm niemals die Erlaubnis dafür gegeben!« Der von Kramnik hier Beschuldigte hatte Glück: Kramnik zeigte ihn nicht an. Sein damaliges Phlegma, Unsicherheit im Umgang mit dem deutschen Rechtssystem und auch eine gewisse Peinlichkeit in dieser Angelegenheit spielten eine Rolle.
Einige Kenner der Berliner Szene behaupten noch heute, dass Kramniks Geld an die Spree-Capital GmbH weitergeleitet wurde, um es zu investieren. Auf dem Blog des deutschen Großmeisters Jörg Hickl wird dazu berichtet. Einige Schachspieler hätten der Spree-Capital ihr sauer Erspartes anvertraut. Deren Geschäftsführer habe sich nach der Wende mit dieser Firma selbstständig gemacht und sei bald in den Verdacht dubioser Machenschaften geraten: der Veruntreuung der Gelder seiner Anleger. Als Spree-Capital wie ein Kartenhaus zusammenfiel, wurde deren Geschäftsführer zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Betrug schien in der deutschen Schachszene aber nicht nur im Berlin der 1990er Jahre gang und gäbe gewesen zu sein. In seiner Ausgabe vom 3. November 1995 deckte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel auf, dass der Germanist und Kunsthändler Heinrich Jellissen seinen Investoren eine jährliche Rendite von mindestens zwölf Prozent versprochen hatte. Jellissen habe die Aura eines Mannes von Welt verströmt. Mehr als ein Dutzend Spieler und Funktionäre der deutschen Schachelite, unter ihnen Robert Hübner, Dr. Helmut Pfleger, Stefan Kindermann, Raj Tischbierek, Artur Jussupow, Horst Metzing oder Ralf Lau, vertrauten ihm ihr Erspartes an – in einigen Fällen alles, was sie hatten. Drei Millionen habe Jellissen, der Ende 1994 plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb, allein von Schachspielern akquiriert. Von dem Geld sei am Ende nichts mehr da gewesen. Der Spiegel drückte es so aus: »Mit bis zu 680.000 Mark pro Person bezahlten die scharfen Analytiker ihre Schnäppchen-Mentalität.«
Schach boomte dennoch zu dieser Zeit. Ich besuchte die Turniere in Nowgorod, Riga und den Niederlanden. Vor allem die Niederländer waren im Schachfieber. Sie veranstalteten mit Wijk aan Zee, Amsterdam, Tilburg und Groningen die meisten Topevents weltweit. Das begeisterungsfähigste Publikum erlebte ich jedoch im Belgrader Sava Centar. 8.000 bis 10.000 Zuschauer an einem Turniertag waren dort keine Seltenheit.
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Unberührt von den Rückschlägen in den Kandidatenmatches brachte die fantastische Turnierbilanz des Jahres 1995 Kramnik am 1. Januar 1996 auf den ersten Platz der Weltrangliste. Im Alter von nur 20 Jahren stellte er damit einen neuen Rekord auf: Noch nie war einem so jungen Spieler dieser Coup gelungen. Der Rekord hielt 14 Jahre und wurde erst vom amtierenden Weltmeister Magnus Carlsen im Januar 2010 gebrochen. Ein großes Ziel war erreicht, das andere sollte noch fünf Jahre auf sich warten lassen.
Nach dem Dortmunder Turniersieg 1995 traf Kramnik eine unerwartete Entscheidung: Er stimmte einem Engagement im Team des amtierenden Weltmeisters Garri Kasparow anlässlich dessen WMKampf gegen Viswanathan Anand zu. Und das, obwohl er zu dieser Zeit bereits auf dem Weg zur Nummer eins war und längst als härtester Konkurrent Kasparows galt.
Dieser Entschluss kam mir zunächst ziemlich suspekt vor, denn finanzielle Motive waren für Wladimir noch nie ausschlaggebend. Im Freundeskreis diskutierten wir über seine möglichen Beweggründe: Kann er wieder nicht nein sagen? Ist er Kasparow zu Dank verpflichtet? Warum dem Weltmeister helfen, wo er doch selbst Ansprüche auf den Schachthron haben sollte? Weshalb hat der Mann nicht größere Ziele? In der obersten Etage des World Trade Centers schlug Kasparow mit Unterstützung Kramniks den chancenlosen Inder deutlich mit 10,5:7,5. Vier Siegen Kasparows stand nur eine Niederlage gegenüber.
Irgendwann verstand ich Kramnik in dieser Angelegenheit besser. Einfach, weil ich ihm später über viele Jahre hinweg Tag für Tag zur Seite stand und sein Wesen einzuschätzen lernte. An seine eigenen Chancen auf den Weltmeistertitel dachte er nämlich im Gegensatz zu seinem Umfeld kaum. Er war einfach nur neugierig darauf, so einen Wettkampf und auch Kasparow auf diesem Niveau einmal hautnah erleben zu können.
In fünf Jahren würden ihm die in New York gemachten Erfahrungen wichtige Hinweise geben, obwohl das gar nicht seine Absicht war. Er lernte, wie außerordentlich hart und professionell Kasparow und sein Team mit Computerunterstützung arbeiteten. Er erlebte, wie rigoros Kasparow mit seinem Gegner umging: Garris emotionale Ausbrüche während der Partien; Kasparow, der Schauspieler, der bereit ist, alles für den Sieg zu geben. So wollte Kramnik ganz und gar nicht sein. Aber bis zu einem gewissen Grad machten ihn Kasparows Aktionen immun gegen das Gehabe des 13. Weltmeisters, auch außerhalb des Schachbrettes. Natürlich konnte er nicht wissen, ob und wann er gegen ihn tatsächlich um die Weltmeisterschaft spielen würde. Als Kramnik dann aber gegen Kasparow fünf Jahre später nach der Krone griff, waren die in New York gemachten Erfahrungen für ihn Gold wert.
Wladimir liebte das Leben, die Kunst, hatte viele Interessen und neigte nach großen Erfolgen dazu, die Zügel schleifen zu lassen, sich ein wenig zu belohnen. Nachdem er die Weltrangliste anführte, war es daher kein Wunder, dass der steile Aufstieg schon 1996 wieder ins Stocken geriet. Er siegte zwar noch in Dos Hermanas – wo er mit Schwarz eine Wahnsinnspartie gegen Kasparow gewann – und in Dortmund, aber die anderen Ergebnisse des Jahres waren für seine Verhältnisse eher unterdurchschnittlich. Einmal mehr wurde sehr deutlich, dass das mittlerweile 21-jährige Genie noch nicht reif genug war, einen ernsthaften und nachhaltigen Angriff auf den Weltmeistertitel zu unternehmen.
Sein damaliger Trainer, Sergei Dolmatow, 1978 selbst Jugend-Weltmeister, übte für seine Verhältnisse scharfe Kritik und beschrieb Wladimirs Probleme damals wie folgt: »Kramnik hat ein enormes Potenzial, was sich noch nicht entfaltet hat. Er tut immer noch eine Menge Dinge, die ihm viel Energie nehmen und ihm gleichzeitig nicht erlauben, sich voll auf ein Turnier zu konzentrieren. Sein Hauptproblem sind seine ungenügenden Ambitionen. Es ist Zeit, dass Kramnik noch mehr gewinnen will und dieses Ziel auch laut äußert.«
1996 fand die Schacholympiade in Jerewan (Armenien) statt. Kramnik spielte für Russland an Brett zwei. Das russische Team holte mit einem starken Kasparow an der Spitze Gold. Wladimir war sehr schlecht in Form und verbuchte neun Remis, sein schlechtestes Ergebnis bei einer Schacholympiade überhaupt.
Dort traf ich das einzige Mal Miguel Najdorf, zusammen mit einem guten Freund, dem ukrainischen Großmeister Adrian Michaltschischin. Wir unterhielten uns angeregt mit der betagten Schachberühmtheit, Najdorf war damals schon 85 Jahre alt. Nach ihm ist eines der bekanntesten und beliebtesten Eröffnungssysteme benannt: die Najdorf-Variante.
Wir saßen vor einem Café, und nach einigen Minuten gesellte sich der ukrainische Topspieler Wassili Iwantschuk hinzu. Weil »Tschucki« immer mal irgendeine Variante im Kopf hat, ist er im alltäglichen Leben manchmal nicht ganz so präsent. Jedenfalls aß er einen Salat und präsentierte Najdorf ein paar Ideen in dessen ureigener Variante. Dabei merkte er gar nicht, wie Salatblättchen nach Salatblättchen auf der Hose des kleinen Argentiniers polnischer Herkunft landete. Najdorf überging den Fauxpas großzügig, konnte aber nach dem Gespräch die Hosen wechseln.
Selten habe ich auf meinen Reisen so ärmliche Verhältnisse erlebt wie 1996 in der Peripherie der armenischen Hauptstadt. Auf dem Weg zum Treffen mit mehreren Malern sah ich die Folgen des Erdbebens von 1988 in der ohnehin so gebeutelten Region. In den Fenstern gab es immer noch keinen Ersatz für zertrümmerte Glasscheiben, stattdessen hingen dort Tücher. In den Hausfluren fehlte oftmals jede zweite Holzstufe, da sie während bitterer Kälte verfeuert wurden. Strom und Wasser gab es nur zu gewissen Zeiten. Ich habe mir von armenischen Freunden berichten lassen, dass sich die Verhältnisse mittlerweile auch außerhalb Jerewans sehr positiv verändert haben.
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Trotz bescheidener Performance bei der Schacholympiade bekam Kramnik 1997 erneut ein großes Lob von Kasparow. Er sei sein stärkster Widersacher, wenn man Talent als Maßstab anlege. Die Ansprüche an den jungen Russen stiegen nun Jahr für Jahr, parallel zu seinen Erfolgen. Auf die Frage im spanischen Linares, woran es liege, dass er nicht den letzten Schritt machen könne, antwortete er: »Manchmal spiele ich sicher, manchmal aktiv und offen. Wenn ich verstehen würde, welchen Schritt ich noch zu machen hätte, könnte ich daran arbeiten und trainieren. Dann würde ich ein Turnier wie Linares auch einmal gewinnen. Ich glaube, dass ich aufgrund meines Spiels den ersten Platz schon verdient gehabt hätte, und bin jetzt einfach nur enttäuscht.«
Aus solchen Aussagen geht klar hervor, dass Kramnik die Dinge damals noch aus rein schachlicher Sicht beurteilte. Er klang ambitioniert, war aber offenbar noch nicht so weit, seine Gewohnheiten konsequent in den Dienst des Erfolges zu stellen. Seine körperliche Verfassung war für einen 22-Jährigen desolat und seine Einstellung zum Turnierschach einfach nicht professionell genug. »Ich habe ihm zwischen 1995 und 1997 immer wieder gesagt, dass er so niemals Weltmeister werden würde«, erinnert sich Josef Resch. Kramniks Antwort sei stets die gleiche geblieben: »Das ist nicht mein Ziel!«
Nach meinem Dafürhalten und so wie ich Wladimir aus dieser Zeit in Erinnerung habe, war er wirklich nicht sehr an diesem Titel interessiert. Mal abgesehen von mangelnden Ambitionen spürte Kramnik außerdem wohl, dass der Weltmeistertitel nicht nur Ruhm, Ehre und Geld bedeutete, sondern auch Verantwortung und harte Arbeit. Laut Resch, der sich sehr über diese Einstellung ärgerte, änderten sich die Dinge dennoch in kleinen Schritten: »Er fing langsam an, diese Schmarotzer aus seiner Wohnung zu quartieren. Auch fragte er mich um Rat, wie er seine finanziellen Dinge regeln soll.«
Aber selbst mit gebremstem Schaum war Kramnik ein Riese: Von 1997 bis 1999 war er immer auf Platz zwei oder drei der Weltrangliste zu finden. 1997 gewann er Dos Hermanas, Tilburg und das sehr stark besetzte 25. Dortmunder Jubiläumsturnier. Es war sein dritter Erfolg hintereinander in Dortmund. Für 99 Prozent der Großmeister war er bereits ein unüberwindliches Hindernis. Auf die Frage, warum er gerade in Dortmund so erfolgreich sei, antwortete Kramnik: »In Dortmund sind wir Teilnehmer in einer ruhigen Atmosphäre, alles ist ziemlich entspannt. Ich fühle mich einfach wohl, und das hilft mir.«
1998 siegte er das erste und einzige Mal in Wijk aan Zee. Das holländische Spitzenturnier lag Wladimir nie so recht. Wir haben oft darüber geredet, warum das so war, und sind zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Irgendwie passte es in Wijk nur selten so richtig zusammen, bis auf 1998. In Dortmund dagegen heimste Wladimir den Turniersieg zum vierten Mal in Folge ein. Dieser Rekord lässt sich nur noch mit Kasparows Siegesserie in Linares von 1999 bis 2002 vergleichen. Kramnik gewann das hochdotierte Blind- und Schnellschachturnier in Monaco, was ihm bis 2007 noch weitere vier Male gelingen sollte. Im Januar 1998 war er wieder die Nummer zwei in der Welt.
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Erneut folgte – wie schon vier Jahre zuvor in seinen Duellen gegen Kamsky und Gelfand – ein schwerer Rückschlag. Wladimir spielte ein außerordentlich wichtiges Match gegen Alexei Schirow, den gebürtigen Letten unter spanischer Flagge. Es war ein Ausscheidungskampf um die Weltmeisterschaft, und wieder war Wladimir der Favorit. Der Sieger sollte gegen Garri Kasparow um den Titel antreten. Kramnik verlor den bis dato wichtigsten Wettkampf seiner Karriere im spanischen Cazorla sang und klanglos mit 3,5:5,5.
Einige Rückschlüsse zur Begründung mag man aus den Schilderungen dieses Kapitels und Kramniks persönlicher Entwicklung in den 1990er Jahren ziehen. Ich habe eine relativ einfache Erklärung: Wenn du auf dem allerhöchsten Niveau – da, wo Nuancen entscheiden – nicht erfolgreich bist, gibt es nur zwei mögliche Gründe. Entweder dein Gegner war einfach besser, oder es mangelt dir an der Bereitschaft, alles für den Sieg zu tun. Ich bin überzeugt, dass Kramnik 1998 in seinem tiefsten Innern weder mental noch physisch auf das höchste Ziel fokussiert war.
1999 belegte Wladimir den zweiten Platz in Wijk aan Zee. Auch in Dos Hermanas und in Dortmund, wo er sich dem 19-jährigen Peter Lékó beugen musste, reichte es nur zu Platz zwei. So ganz schien Kramnik die Niederlage gegen Schirow noch nicht verdaut zu haben. Bei dem Roulette in Las Vegas um die sogenannte WM der FIDE schied er im Viertelfinale gegen den Engländer Michael Adams aus.
Es gab 1999 kaum richtige Erfolgserlebnisse, wenn man die Titelverteidigung im Schnell- und Blindschach in Monaco ausnimmt. In einem Blitzschachwettkampf gegen Kasparow in Moskau sorgte Kramnik immerhin mit einem leistungsgerechten 12:12 zum Ausklang des Jahrtausends für einen versöhnlichen Abschluss. Kramnik war nun 24 Jahre alt. Am 1. Januar 2000 wurde er auf Platz drei der Weltrangliste geführt.
Die Schachwelt stagnierte. Die Spaltung zwischen der FIDE und Kasparow schien unüberbrückbar, obwohl der Weltmeister seit mehr als vier Jahren seinen Titel nicht mehr verteidigt hatte. Die Kronprinzen Anand und Kramnik schienen keine große Gefahr für Kasparow zu sein. Anand konnte gegen Kasparow nichts ausrichten, Kramnik wollte auf irgendeine Art nicht. Alles hatte sich nach dem Motto »leben und leben lassen« eingerichtet.
Wie auch Josef Resch habe ich bei verschiedenen Anlässen immer wieder versucht, mit Wladimir darüber zu diskutieren, dass einige Änderungen nötig seien. Josef und ich waren uns einig: »Wenn du so weitermachst, wirst du es eines Tages bedauern. Spätestens dann, wenn du Kinder in diese Welt gesetzt hast und dich fragen musst, warum du dein einzigartiges Potenzial nicht wirklich ausgeschöpft hast.« Kramnik verstand zwar, dass wir es gut mit ihm meinten. Aber in Wirklichkeit interessierte ihn das nicht besonders.
Irgendwann jedoch zum Ende der 1990er Jahre spürte er, dass ihm dieser Lebenswandel auf Dauer gesundheitlich schaden würde. Noch war er nicht zu großen Veränderungen bereit, aber er begann darüber nachzudenken. Und es lag etwas Großes in der Luft. Es gibt ein altes deutsches Sprichwort: »Gelegenheit macht Diebe.« Viel Weisheit steckt darin. Die Gelegenheit kam unerwartet, aber sie kam. In nur einem Jahr würde sich die Schachwelt komplett verändert haben und Wladimir ebenso.
In Russland ging das Jahrtausend am 31. Dezember 1999 mit der Ernennung von Wladimir Putin zum Präsidenten zu Ende. Der von Demenz geplagte und schwer alkoholkranke Boris Jelzin war zurückgetreten. Die Verhältnisse in Russland waren stabiler geworden, und die Ost-West-Entspannung machte große Fortschritte.
KASPAROW, GARRI – KRAMNIK, WLADIMIR
Dos Hermanas/Spanien 27.5.1996, Bedenkzeit: klassisch
1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sc3 Sf6 4. Sf3 e6 5. e3 Sbd7 6. Ld3 dxc4 7. Lxc4 b5 8. Ld3 Lb7 9. 0-0 a6 10. e4 c5 11. d5 c4 12. Lc2 Dc7 13. Sd4 Sc5 14. b4 cxb3 15. axb3 b4 16. Sa4 Scxe4 17. Lxe4N Sxe4 18. dxe6 Ld6 19. exf7+ Dxf7 20. f3 Dh5 21. g3 21…0-0! 22. fxe4 Dh3 23. Sf3? Lxg3 24. Sc5? Txf3! 25. Txf3 25…Dxh2+ 26. Kf1 Lc6! 27. Lg5 Lb5+ 28. Sd3 Te8!–+ 29. Ta2 Dh1+ 30. Ke2 Txe4+ 31. Kd2 Dg2+ 32. Kc1 Dxa2 33. Txg3 Da1+ 34. Kc2 Dc3+ 35. Kb1 Td4 0:1
Wladimir Kramnik:
»Diese Partie und auch das Turnier sind in mehrfacher Hinsicht denkwürdig. Garri und ich spielten viele Male gegeneinander. Diese Partie war die einzige mit klassischer Bedenkzeit, die einer von uns mit Schwarz gewinnen konnte. Das Turnier war hochkarätig besetzt und eines der stärksten seiner Zeit. Fast alle Topspieler waren am Start. Als Erster der Weltrangliste galt ich als Mitfavorit, fand aber zunächst gar nicht zu meinem Spiel.
Es ging über neun Runden, ich begann mit fünf Remis und stand sogar in der einen oder anderen Situation kritisch. Dann gewann ich nacheinander drei Partien gegen Anand mit Weiß sowie gegen Kasparow und Iwantschuk jeweils mit Schwarz. Gegen die besten Spieler der Welt drei Partien hintereinander zu gewinnen, davon sogar zwei mit Schwarz, ist in der Schachgeschichte ein äußerst seltenes Ereignis und war der Grund, dass ich am Ende doch noch den ersten Platz im Turnier erreichte.
Gegen Kasparow wählte ich eine scharfe Meran-Variante. Zu jener Zeit spielte ich häufig Meran und das mit guten Resultaten. Wie üblich zog Garri mit 17. Lxe4 eine interessante Neuerung aus dem Ärmel. Nach 17. … Sxe4 und 18. dxe6 musste ich lange nachdenken. Die Stellung ist sehr kompliziert, und es gibt viele Möglichkeiten. Für mich sah alles gefährlich aus, und so entschied ich mich für einen Gegenangriff. Das war für Kasparow unangenehm. Er ist ein Spieler, der es gewohnt ist, die Initiative zu haben. Ich hatte schon länger beobachtet, dass er nicht immer besonnen reagierte, wenn er mal unerwartet unter Angriff kam. Weil er jedoch eine so fantastische Eröffnungsvorbereitung besaß, passierte ihm dies sehr selten.
Nach meinem Opfer stand Weiß objektiv sicher besser, aber wie gesagt, ich zwang ihn zur Verteidigung in einer komplizierten Stellung, und das lag ihm nicht. Im 23. Zug griff er dann mit Sf3 fehl. Er hatte eine Vielzahl von Optionen, besser wäre sicher 23. De2 gewesen, mit der Idee, nach 23. … Lxg5 24. Sf5 folgen zu lassen. Weiß hätte klar besser gestanden, aber in einer praktischen Partie mit begrenzter Zeitnot war das schwierig zu finden. Seine Idee war natürlich, 24. Sc5 zu spielen, was auch geschah. Das alles hätte für ihn super funktioniert, wenn ich nicht den wunderschönen Zug 26. … Lc6!! gehabt hätte. Den hatte er entweder gar nicht gesehen oder aber unterschätzt.
Irgendwie ist das auch verständlich, denn in solchen Stellungsmustern sucht Weiß nach Schachgeboten. Durch 26. … Lc6 bin ich zwar einen ganzen Turm hinten, aber er kann den Angriff schon nicht mehr stoppen. 28. … Te8 war ein weiterer ruhiger, aber kraftvoller, sehr schöner Zug von mir. Ich komme mit der letzten Figur in den Angriff, und nun ist es trotz des Minusturms für Weiß nicht mehr zu verteidigen. Gefreut hätte ich mich sehr, wenn Garri 31. Le3 anstatt 31. Kd2 gespielt hätte. Dies hätte zu einer Mattkonstruktion geführt, die ich noch nie in einer praktischen Partie gesehen habe: 31. Le3 Dg2+ 32. Tf2 Dxf2 matt.
Dennoch wurde diese Partie als die schönste des Jahres 1996 ausgezeichnet, und ich bin immer noch stolz darauf. Ich hatte es geschafft, den Weltmeister mit Schwarz vom Brett zu fegen. Er wollte zwar nicht vor all den Journalisten im Pressezentrum analysieren, lud mich jedoch auf sein Zimmer ein. Wir studierten die Partie noch eine Stunde, und Garri war gar nicht so sehr enttäuscht. Ich konnte ihn verstehen, denn auch ich ärgere mich viel mehr, wenn ich schlecht spiele. Nicht jedoch, wenn mein Gegner brillant agiert und dabei eine wunderbare Partie entstanden ist.«