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II. DIE ANKUNFT – MITTWOCH (AM TAG ZUVOR)

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Die Spätnachmittagssonne erreichte den Wiesengrund schon lange nicht mehr. Sie wurde von den umstehenden Bergen abgeschirmt, so dass sich eine leichte Dämmerung im Tal ausbreitete, obwohl es noch mehr als vier Stunden bis zum Sonnenuntergang waren. Zwei müde, verschwitzte Wanderer erreichten den Teich, sahen sich um und grinsten.

„Cool“, sagte sie. „Hier bleiben wir mindestens zwei Tage.“ Mit dieser Bemerkung wischte sie wie beiläufig das Lächeln von seinem Gesicht.

Sie ließ bestimmt ihren Rucksack fallen, kramte ein Handtuch hervor und begann sich auszuziehen, dabei bewusst seine finstere Mine ignorierend. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und er musste sich danach richten. Schließlich hatte sie sich bei der Planung ihres Urlaubs nach ihm gerichtet, da konnte er ihr mit ein bis zwei Tagen schon entgegenkommen.

„Ich muss erst einmal baden.“

„Karen! Zwei Tage! Wir wollen doch noch nach Dresden!“

Er gönnte sich nur einen kurzen Blick auf die schlanke, nackte Frau, ließ dann missmutig seinen Rucksack ins Gras gleiten, holte jedoch kein Handtuch hervor, sondern begann, wie jeden Abend das Zelt unter seinem Rucksack abzuschnallen und einen Platz dafür zu suchen. Wahrscheinlich würde er sie nicht umstimmen können, dazu war Karen viel zu willensstark, aber ein Versuch konnte nicht schaden.

Karen planschte bereits im Wasser. Wegen der Kälte des Gewässers hatte sie laut gejauchzt, als der junge Mann seine Bedenken geäußert hatte. „Was hast du gesagt, Mihai?“

„Wir hatten doch bereits zwei Ruhetage in den letzten beiden Wochen. Und das hier ist nur das Erzgebirge. Was willst du denn im nächsten Jahr machen, wenn wir ins Wettersteingebirge fahren? Meinst du wirklich, das Höllental oder die Zugspitze sind so erholsam wie diese Wiese hier?“

„Oh Mann! Fang doch nicht wieder damit an.“ Karen kam schnaufend und prustend aus dem Wasser. „Buh – das ist kalt.“ Sie nahm ihr Handtuch und begann sich abzurubbeln.

Mihai blickte erneut kurz hin und wandte sich wieder dem Zelt zu. Toll, wieder ein Tag Pause! Das passte ihm gar nicht.

Seit zwei Wochen wanderten sie jetzt schon durch den Thüringer Wald und das Erzgebirge, ab und an unterstützt von einer kleinen Bustour oder einer kurzen Eisenbahnfahrt. Dresden und die Sächsische Schweiz standen noch auf seinem Plan für die letzten sieben Tage und schon wieder einen freien Tag wollte er sich nicht gönnen. Aber wie sollte er seine Freundin von diesem Platz weg bekommen? Schatten, sicherlich auch Sonne tagsüber, Felsenwand, Bäume, Wiese und dieser wunderbare Teich – in dem er dann auch dringend baden musste – luden geradezu zum Verweilen ein. Aber die Zeit!

Das war genau die Situation, in der er zur Entspannung einen Joint gebraucht hätte. Aber nein! Seit zwei Jahren war er darüber hinweg. So dachte er. Er ahnte nicht, dass seine Sucht sie beide in wenigen Tagen in eine schier ausweglose Situation bringen sollte.

„Nun schau nicht so grimmig drein.“ Karen kam von hinten zu ihrem Freund, wrang sich ihre Flut ungebändigter, mahagoniroter Locken aus und drehte sie zu einem dicken Zopf zusammen. Anschmiegsam kuschelte sie sich an seinen Rücken und umschlang ihn mit dem Handtuch. „Dresden läuft uns nicht weg und die Sächsische Schweiz auch nicht.“ Sie hatte seinen blonden Zopf zur Seite geschoben und küsste seinen Nacken.

Mihai hieb verbissen mit seiner Axt auf einen Hering ein.

„Hallo, großer Meister. Der Zelthaken kann nichts dafür. Aber schau doch mal. Ich bin sicher, dass wir hier in den nächsten 48 Stunden keine Menschenseele treffen werden. Der Pfad war total zugewuchert, kaum zu erkennen. Und sieh dich mal um.“ Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände, so dass er notgedrungen mit dem Einhämmern auf den Hering aufhören musste.

„Sieh mich mal an.“ Sie sprach augenblicklich ruhiger, sanfter. „Ich bin doch deine Frau jetzt, seit sechzehn Tagen. Gönn mir das Plätzchen hier. Nächstes Jahr in den Alpen, da ziehen wir richtig durch, versprochen. Auch wenn ich solche Urlaube nicht mag, aber ich habe es dir zugesichert. Doch in etwas mehr als einer Woche bin ich wieder bei meinen behinderten Kindern und du bei deinen Zweitklässlern.“

Sie zog ihm das verschwitzte T-Shirt aus der Hose, fuhr mit ihren Lippen sacht über seinen Mund, der schon nicht mehr so verkniffen war wie noch wenige Sekunden zuvor, stupste mit ihrer Nase leicht gegen seine Wangen. Zugleich ließ sie ihre Hände sanft unter sein T-Shirt wandern und spürte seine Gänsehaut.

„Und bis dahin, mein lieber Mihai, möchte ich meinen Urlaub, unsere Hochzeitstour, genießen …“ Der Rest versank in einem langen Kuss.

Etwa eine Stunde später stand das Zelt. Mihai war bereits frisch gebadet und abgetrocknet und zog sich an. Im Bauch hatte er ein wohlig-ruhiges Gefühl, wie immer wenn er mit Karen geschlafen hatte. Karen hatte einen alten Baumstumpf zu einem provisorischen Tisch umfunktioniert und bereitete das Abendbrot zu.

„Hering!“, sagte er, wog die Campingaxt in der Hand und blickte sich um.

„Was sagst du?“

„Hering! Es war ein Hering, kein Zelthaken!“

Karen grinste. „Ja, Herr Lehrer.“ Sie wusste genau, dass er das nicht leiden konnte, aber sie war nicht in der Stimmung, auf jedes kleine Wehwehchen von Mihai einzugehen, dazu war es einfach zu schön hier. „Sammle doch bitte noch ein wenig Holz, ich hätte gern ein kleines Feuer heute Abend.“

Mihai überlegte. Vielleicht konnte er von den Bohlen am Höhleneingang ein paar trockene Scheite abschlagen?

Karen sagte, dass sie noch eine Beutelsuppe kochen wolle, und fragte, ob er Tomaten- oder Nudelsuppe wünsche.

Tomatensuppe wäre okay, antwortete er, schwang die Axt in der Hand und ging zum Eingang der Höhle hinüber. Ob das eine alte Mine ist?

Und plötzlich fühlte er den Ruf!

Während sie das Abendbrot vorbereitete, sah Karen ab und an zu Mihai herüber. Er schlug mit der kleinen Axt auf einen der unteren, waagerechten Balken ein. Splitter sprangen ab, dann machte er sich an der Seite der Bohle zu schaffen. Es knirschte, Mihai zog das Ende des Balkens herunter und legte es auf die Erde. Die andere Seite blieb in der Verankerung des Höhleneinganges.

„So viel Holz wollte ich doch gar nicht.“

Staunend bemerkte sie, dass er auf ihren scherzhaften Zuruf nicht reagierte. Er spähte in das Dunkel des jetzt nicht mehr abgesperrten Schachtes und holte sich mit wenigen schnellen Schritten eine Taschenlampe aus seinem Rucksack, den er geöffnet und halb ausgeleert vor dem Zelt liegen ließ.

„Mihai? Was machst du da?“ Wenn der denkt, ich räume das alles wieder ein …

Während Karen die allmählich auf dem Gaskocher zum Kochen kommende Tomatensuppe rührte, beobachtete sie ihren Mann, der nun vor dem Loch in der Bohlenwand kniete und mit der Lampe in den Schacht leuchtete.

„Kriech da bloß nicht rein!“

Als hätte er nur auf diese Warnung gewartet, steckte er zuerst den Kopf und den Arm mit der Taschenlampe in den Spalt, zwängte den gesamten Oberkörper nach und war kurz darauf völlig verschwunden.

Karen hatte aufgehört im Topf zu rühren und die Vorgänge am Stolleneingang mit offenem Mund und bangem Erstaunen verfolgt. Spinnt der?

Sie ließ die Suppe Suppe sein, sprang auf und rannte zur Mine. Als sie hineinspähte, konnte sie im Halbdunkel nicht viel mehr sehen als den Widerschein der sich entfernenden Taschenlampe an der unebenen Decke. Anscheinend nahm ihr ein Geröllhaufen hinter dem Eingang die Sicht.

„Mihai, bist du bescheuert? Komm zurück!“

Nur die leiser werdenden Schritte auf dem mit Geröll übersäten Boden der Höhle waren zu hören.

„Mihai?“

„Hai-hai“, antwortete die Mine.

Karen rannte aufgeregt zu ihrem Rucksack, wühlte darin herum und warf ebenfalls achtlos Wäsche und Ausrüstung auf die Wiese, bis sie ihre Taschenlampe fand. Keuchend stolperte sie zum Eingang zurück und zwängte sich durch den engen Spalt. Dabei zerschrammte sie sich den rechten Ellenbogen.

„Noch dicker darf mein Hintern nicht werden“, knurrte sie, obwohl keine Gefahr bestand, mit dem erwähnten Körperteil stecken zu bleiben. Sie wusste um ihre gute Figur, fand aber, dass ihr Po viel zu gewaltig für ihren schlanken Körper sei. Obwohl Mihai – und seine „Vorgänger“ – ihr immer wieder das Gegenteil beteuert hatten.

„Mihai?!“

Keine Antwort.

Was macht der Blödmann hier drinnen?

Schon nach ein paar Schritten musste sie ihre Taschenlampe einschalten. Der schmale waagerechte Lichtspalt von außen wurde durch einen fast zwei Meter hohen Geröllhaufen verschluckt, der sich wohl aus einem Bruch an der rechten Wand ergossen hatte. Beim Klettern über die schlüpfrigen Steine rutschte sie mehrmals weg und schlug dabei erneut auf den rechten Ellenbogen.

„Verdammter Mist! Was mache ich hier eigentlich?“, fluchte sie – und dann lauter: „Scheiße, Mihai, was soll das? Komm zurück!“

Unruhig huschte der gelbe Fleck ihrer Taschenlampe über die unebenen Wände der Höhle. Von der Decke tröpfelndes Wasser durchnässte sie. Kalt und ungemütlich war es. Zitternd leuchtete Karen in die Mine, nachdem sie den Geröllhaufen überwunden hatte. Schwarze Schemen krochen scheinbar von den Wänden und griffen nach ihren Füßen.

Der kann was erleben! Was fällt dem bloß ein?

Langsam ging sie vorwärts, trotzdem hob sich ihr Brustkorb heftig und schnell. Aufgeregt schwenkte sie die Taschenlampe umher. Ihre Fantasie gaukelte ihr Spalten im Boden vor, von der Decke herabhängende Felszacken, riesige Spinnen mit behaarten Beinen und glitschige Molche an den Wänden. All diese Gestalten entpuppten sich jedoch als Schatten, hervorgerufen durch Unebenheiten im Gestein.

Die Höhle selber gab sich jetzt eindeutig als alte Mine zu erkennen. Große, schwere Stützbalken, die locker hundert oder mehr Jahre alt waren, hielten den Berg über ihr fest.

Wenige Meter hinter dem Geröllhaufen gabelte sich der Gang. Wo lang jetzt? Links konnte sie, als sie ihre Taschenlampe gelöscht hatte, den schwachen Abglanz von etwas Hellem wahrnehmen.

„Mihai, du Idiot. Na warte, wenn ich dich erwische. Du schläfst heute Nacht draußen!“

Fahrig hetzte der Strahl ihrer Taschenlampe über die Wände der alten Mine. Hier muss schon seit mehreren hundert Jahren kein Mensch mehr gearbeitet haben. Warum hat man sie dann nicht völlig zugeschüttet? Wahrscheinlich mangelt es mal wieder am Geld, frei nach dem Motto: Es ist doch bisher nichts passiert. Warum sollen wir dann etwas tun? Wütend erinnerte sie sich an die Diskussion in ihrem Heimatort, als Anwohner an einer stark befahrenen Straße eine Ampel für die Schulkinder gefordert hatten. Die Verantwortlichen hatten mit genau demselben Argument abgelehnt.

Karen schnaufte. „Noch nichts passiert!“ Vor einem halben Jahr war dann an jener Stelle ein zehnjähriges Mädchen überfahren worden.

Der Boden war mit Pfützen und Steinen übersät, die mit schmierigen Flechten bewachsen waren. Rechts und links zweigten Seitengänge ab. Bei einigen konnte Karen deutlich Geröll erkennen, welches die Gänge auf ewig versperrte. War sie sich unsicher, welchen Stollen sie wählen sollte, schaltete sie ihre Taschenlampe ab und wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Geräusche der Mine schienen in der Finsternis lauter zu werden, tröpfelndes Wasser, rieselnder Staub, knirschender Fels und natürlich Mihais Schritte irgendwo weit vor ihr. Echos machten es unmöglich, die Entfernung oder die Richtung zu bestimmen, sie verließ sich lieber auf ihre Augen. Es dauerte immer nur wenige Atemzüge, bis sie den Widerschein von Mihais Taschenlampe sah. Wieder sicherer geworden, folgte sie ihm.

Zwei, drei Mal vollzog sie diese Prozedur, bis sie das Licht seiner Lampe nicht mehr erkennen konnte, selbst als sie länger wartete. Panik stieg in Karen auf und griff mit langen Krallen nach ihrem Magen, Panik, die sie bis dahin tapfer unterdrückt hatte. Sehr verunsichert lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die unebene, feuchte Wand aus kaltem Stein. Sie wartete auf etwas, von dem sie befürchtete, dass es nicht geschehen würde.

Warum tut er das? Mihai war nicht der Typ, der grundlos in irgendwelche alten, baufälligen Bergwerke einbrach, um sich darin verschütten zu lassen.

Sie stand mit ausgeschalteter Taschenlampe in der völligen Finsternis, lauschte auf seine Schritte, die nicht mehr zu hören waren und suchte sein Licht, das nicht mehr zu sehen war.

„Mihai?“ Nicht länger laut und wütend, sondern angstvoll klang der Ruf nach ihrem Freund.

Mann! Er ist mein Mann!

Sie verlor das Zeitgefühl. Stand sie schon zehn Minuten hier oder erst eine? Was sollte sie tun, wenn sie Mihai nicht fand? War er irgendwo in dieser Höhle in einen tiefen Spalt gestürzt? In der Dunkelheit konnte man Spalten im Boden leicht übersehen, da die Höhle nur unzureichend durch ihre mittelmäßigen Taschenlampen aufgehellt wurde. Oder lag er vergiftet von irgendeinem ominösen Bergwerksgas in der Ecke, keuchte und hoffte auf sie, dass sie ihn wieder einmal aus seinen Schwierigkeiten herausholte?

Und draußen brennt mir die Suppe an.

Sie hatte es bestimmt schon eine ganze Weile gesehen, bevor ihr überhaupt bewusst wurde, dass sie etwas sah. Einige Meter vor ihr schien ein schwaches, bläuliches Licht direkt aus der rechten Wand zu kommen. Sich mit der einen Hand am Fels entlang tastend, schritt sie, ohne ihre Lampe wieder anzuschalten, langsam und vorsichtig auf das Licht zu. Es kam nicht aus der Wand, sondern aus einer nur spaltbreiten, aber scheinbar sehr tiefen Öffnung im Fels.

„Mihai? Bist du da drin?“ Sie hatte nicht wirklich mit Antwort gerechnet, umso mehr erschrak sie, als sie seine Stimme hörte.

„Karen“, schallte es dumpf und echoverzerrt aus dem Spalt, etwas seltsam im Tonfall, aber eindeutig Mihai.

Er war also dort. Karen zwängte sich durch den Fels, murmelte noch etwas von „wirklich-nicht-zunehmen-dürfen“ und wollte schon mit einem Riesendonnerwetter über Mihai herziehen, als sie erstarrte.

Der Raum, den sie betreten hatte, maß etwa zehn Meter im Durchmesser, war bedeutend höher als der Rest der Mine und nicht durch Stützbalken befestigt. Seltsamerweise fiel ihr zuerst auf, dass der Fußboden völlig eben und trocken war, keine glitschigen Pfützen, kein von der Decke gefallenes Geröll, nichts. Dann sah sie endlich Mihai – und dann sah sie auch, wo er stand. Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herz …

Das undefinierbare bläuliche Licht in diesem Raum schien keine Quelle zu haben, es herrschte im ganzen Raum vor, ohne Schattenwurf. So beklemmend allein diese Tatsache war, so beunruhigend war allerdings das eindeutige Zentrum dieses Raumes, die dem Eingang gegenüberliegende Felswand. Sie erstreckte sich über die gesamte Höhe und Breite der Höhle und Karen hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Wand der eigentliche Zweck dieses Raumes, ja vielleicht sogar des gesamten Bergwerkes war. Auf den ersten Blick konnte sie keine Unebenheiten an ihr erkennen. Allerdings schien sie von einer leichten, hauchfeinen Schicht aufwallenden Nebels bedeckt zu sein.

Und dann begriff Karen endlich, was sie die ganze Zeit schon gesehen hatte, aber nicht wahrnehmen wollte. Mihai stand direkt vor dieser Nebel-Stein-Wand – und sein linker Arm steckte bis zum Ellenbogen im Felsen. Karen keuchte erschrocken auf und die Hand, die sich um ihr Herz gelegt hatte, griff erbarmungslos zu.

„Mihai!“

Er drehte sich um und sah sie mit seltsam verklärtem Blick an. Wie in Trance sagte er: „Sie hat mich gerufen, Karen.“

Dann drehte er sich wieder zum Fels, machte einen Schritt nach vorn und war im Gestein verschwunden.

„MIHAI!“ Karens panischer Schrei gellte so laut echowerfend durch die Mine, dass ein paar Kohlmeisen, die sich am Höhleneingang zu schaffen gemacht hatten, erschrocken aufflogen und in den Wald flüchteten.

„Mihai! Nein! Scheiße!“

Sie rannte zu der Felswand und stoppte knapp einen Schritt davor, ohne den Stein zu berühren. Nervös wippte sie auf den Zehenspitzen, pulte mit dem linken Daumennagel unter dem des rechten Zeigefingers und kaute auf ihrer Unterlippe.

Verdammt, was soll das? Es kann doch niemand in einem Felsen verschwinden! Ihr Herz pochte bis zum Hals, die Knie waren wie Butter und im Magen schien sie einen ganzen Wespenschwarm zu haben. Bin ich in einem schlechten Film?

Was zum Teufel passierte hier? Mihai hatte einen Schritt gemacht und war in einem Felsen verschwunden. Und das war ganz eindeutig ein Felsen hier vor ihrer Nase. Karen konnte genau die steinerne Struktur der Nebel-Stein-Wand erkennen. Sie machte einen unruhigen Schritt nach hinten, nur um im gleichen Moment wieder nach vorn zu gehen. Aber nur einen Schritt, bloß nicht diesen Mihai-verschluckenden Felsen berühren.

Entgeistert blickte sie den Stein an, in dem ihr Freund verschwunden war. Wieso „gerufen“? Und wieso „sie“?

„Sie hat mich gerufen!“, hatte er gesagt. Aufgeregt und fahrig lief sie in der Höhle auf und ab. Es hieß der Fels, oder der Stein, aber nicht die! Wie kam Mihai also auf sie? Was hatte er gemeint?

Leicht wallte der Nebel vor der Wand. Sollte sie damit gemeint sein? Die Wand?

Wie kam dieser Nebel hierher und wieso hielt er sich so hartnäckig an der senkrechten Fläche? Karen schnupperte sehr vorsichtig mit der Nase dicht am Stein, ängstlich bemüht, nur nicht den Fels zu berühren. Nein, zu riechen war hier wirklich nichts. Sie fühlte auch keinen aufkommenden Kopfschmerz oder beginnenden Schwindel, der auf giftiges Gas hingedeutet hätte.

Warum konnte Mihai plötzlich durch Felsen gehen? Und warum sollte er das tun? Er war ein ganz normaler Unterstufenlehrer, bisher jedenfalls. Mit dem üblichen Stress auf der Arbeit und einer ganz gewöhnlichen Kindheit. Sein Vater war vor dreißig Jahren aus Rumänien gekommen und hatte eine deutsche Frau, seine Mutter, geheiratet. Von ihr hatte er sein blondes Haar geerbt, wenn sein ganzes restliches Gesicht auch eindeutig auf seine südländische Herkunft wies. Seine Eltern hatten viele Jahre lang in Bukarest gelebt, waren dann nach Berlin gezogen und führten eine ruhige, glückliche Ehe. Mihai hatte noch zwei Schwestern. Grundschule, Gymnasium, Zivi, Studium, Job – alles hatte bei ihm gut geklappt, alles normal. Deswegen wurde niemand „gerufen“, ging keiner durch einen Felsen!

Immer heftiger ging ihr Atem. Sie wusste, was sie tun musste, sie wusste es genau. Und sie hatte riesengroße Angst davor. Dass sie es nicht wollte, war in diesem Moment völlig nebensächlich. Mihai war weg, da durch, was immer das auch bedeuten mochte. Und sie würde ihn nicht alleine lassen, das hatte sie bisher noch nie getan. Karen blieb mitten vor der Wand stehen.

„Okay, du … Ding!“, stieß sie hervor. „Ich weiß nicht, was du bist. Aber ich lasse mir meinen Mihai nicht wegnehmen, nicht von einer Frau, nicht von einem Mann, nicht von irgendwelchen beschissenen Drogen und schon gar nicht von einer steinernen Wand!“ Sie sprach, als würde sie hinter jedes Wort ein Ausrufezeichen setzen.

Mihai hatte einmal gesagt, dass sie die bewundernswerte Gabe besäße, Ausrufezeichen sogar ohne Worte sprechen zu können. Natürlich hatte er es ironisch gemeint. Aber jetzt, in diesem Moment, hatte Karen nicht nur Angst. Vorhin hatte sie den Eindruck gehabt, dass Mihai nicht aus eigenem Willen handelte. Er hatte geredet wie damals, als er sich die von der Loveparade mitgebrachten Pillen „eingeworfen“ hatte, wie er sagte. Langsam, überdeutlich, wie im Rausch. Und das machte sie wütend, richtig wütend.

Sie holte tief Luft – oh Mann, hatte sie eine Scheißangst – machte einen Schritt und verschwand im Fels.

Das Erste, was sie fühlte, war eine nie gekannte Leichtigkeit und ein angenehmes, fast schon erotisches Kribbeln im ganzen Körper. Sie schämte sich erst ein wenig für dieses Gefühl. Aber Quatsch eigentlich, vor wem sollte sie sich denn hier im Felsen schämen?

Hier im Felsen? Da machte sie einen zweiten Schritt.

Jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, unwahrscheinlich schnell von innen her auseinandergerissen zu werden. So ungefähr musste es sich anfühlen, wenn man eine Handgranate im Bauch hatte und diese explodierte, nur wahrscheinlich schmerzhafter und nicht so …? Wohlig! Ja, wohlig war das richtige Wort.

Nein, nicht Handgranate, ihr Körper wurde nicht zerfetzt, ihr Körper wurde größer, länger, dicker.

Dicker?! Karen machte einen dritten Schritt.

Schneller, als sie beim vorigen Schritt auseinander gedriftet war, schrumpfte sie jetzt wieder. Wenn das Tempo bliebe, dann würde sie ganz schnell das Kinn in Höhe ihrer Waden haben. Und obwohl ihr Kopf immer kleiner wurde, war er doch gefüllt mit einer nicht unangenehmen Kaskade aus bunten Blitzen, nie gesehenen Farben und unbekannten Tönen. Komischerweise fühlte sie trotzdem noch den festen Boden unter ihren Füßen und sie wusste, dass sie jederzeit umkehren und zurückgehen konnte. Aber sie wollte nicht. Karen wollte zu Mihai.

Also machte sie einen vierten Schritt.

Endlose Dunkelheit war um sie herum und füllte sie aus, genau wie absolute Stille. Größer hätte der Gegensatz zur vorherigen Licht- und Tonsymphonie nicht sein können. Jetzt, das merkte sie, war eine Umkehr unmöglich.

Und so machte sie den fünften und letzten Schritt.

Die Chroniken der Reisenden. Staub-Kristall

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