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IV. DAS DORF

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Gegen Mittag des dritten Tages ihres „Marsches“ mit den Echsen standen Karen und Mihai auf einer weit ausladenden Anhöhe und blickten auf eine langgezogene Landzunge herunter. Wenige hundert Meter vor ihnen vereinigten sich die beiden großen Flüsse zu einem mindestens achthundert Meter breiten Strom. Eingefasst von den zwei Flussläufen verteilten sich etwa siebzig größere und kleinere Hütten auf dem in das Wasser ragenden Land. Die Menschen konnten verschlungene Wege und kleinere Felder erkennen, auf denen sich viele große und kleine Reptilien bewegten. In einer flachen Bucht lagen Kanus und um das Dorf herum verteilt standen mehrere mit Echsen besetzte, hölzerne Wachtürme. Vom am nächsten stehenden Turm erscholl ein langgezogenes Jaulen, woraufhin das Treiben im Dorf allmählich erstarb und alle Echsen sich sehr langsam erst dem Turm zuwandten, der den Alarm ausgelöst hatte, und dann ihrer Anhöhe.

Die letzten beiden Tage würden die zwei Menschen nie mehr in ihrem Leben vergessen. Kaum dass sie das Hochplateau des Berges verlassen hatten, begannen die Echsen ihr Marschtempo zu erhöhen, und zwar in so gewaltigem Maße, dass Karen und Mihai innerhalb weniger Minuten richtig schnell rennen mussten. Beide hielten das Tempo nur wenige Minuten durch, bevor sie völlig erschöpft, keuchend und nassgeschwitzt mitten auf dem Weg zusammenbrachen. Ratlos schnatternd versammelten sich die Echsen um die auf der Erde liegenden Menschen. Dann schnappte sich einer der Bewacher energisch den kraftlosen Mihai, warf ihn sich wie einen Reiter auf den kräftigen Rücken und band ihn fest. Karens Bewacher tat mit ihr dasselbe. Als sich der Trupp jetzt wieder in Bewegung setzte, konnten sie das Tempo sogar noch einmal erhöhen.

Nun hatten weder Karen noch Mihai jemals Erfahrungen auf einem Pferderücken gesammelt. Sie vermuteten allerdings auch, dass ihnen das hier und jetzt wahrscheinlich nicht weiter geholfen hätte: Ohne Sattel auf einem breiten Echsenrücken, dessen harte Schuppen scheuerten und dessen knochiger Zackenkamm sich in alle möglichen und unmöglichen Bereiche des Körpers bohrte. Die Reptilien rannten mit langen, weich abgefederten Schritten, so dass die auf ihnen reitenden Menschen zumindest nicht von jedem Tritt gebeutelt und durchgeschüttelt wurden. Trotzdem war das Sitzen auf ihren „Reittieren“ eine Qual.

Von der vorbei huschenden Landschaft bekamen sie nicht viel mit, nur Wald rund um sie, der sich nicht änderte. Erstaunlich war, dass die Reptilien im Laufe des Tages keine Pause machten, so dass sowohl Karen als auch etwas später Mihai nicht nur von der Reiterei geplagt waren, sondern auch noch von einem bohrenden Hungergefühl.

Wenig später kam bei Karen noch ein weiteres Problem hinzu. „Mihai!“, rief sie ihm nach hinten zu, weil ihr Wärter auf dem engen Pfad vor seiner Echse rannte. „Mihai, ich muss mal!“

Mihai verdrehte die Augen. Typisch, immer im unpassendsten Moment: Im dicksten Stau auf der Autobahn, oder gerade an einer Raststelle vorbei gefahren, oder mitten in einer Stadt …

„Mihai! Was soll ich machen?“

Er zuckte mit den Schultern. Wie solle er die Situation schon klären können? „Aushalten!“

Karen schnaubte. Klar, dass Mihai für so etwas kein Verständnis hatte, der musste ja nie!

Sie hielt es allerhöchstens eine weitere halbe Stunde aus, dann klopfte sie ihrer Echse auf die Schulter. „Hallo, Entschuldigung …“

Das Reptil knarzte und drehte den Kopf um einhundertundachtzig Grad vollkommen zu ihr herum, ohne jedoch das rasende Tempo nennenswert zu reduzieren. Karen quiekte erschrocken, als sie ihrer Echse so unerwartet in das scheinbar leicht grinsende Gesicht schaute.

„Entschuldigung … ich, äh, ich muss mal!“

Die Echse knirschte Unverständnis zwischen ihren spitzen Zähnen hervor und blickte wieder nach vorn.

Karen stieß die Luft aus der Nase aus. Also, das gibt es ja gar nicht!

Erneut klopfte sie der Echse auf die Schulter, energischer diesmal und entschlossen, sich nicht wieder abwimmeln zu lassen, schließlich konnte sie hier nicht in die Hose machen.

„Hallo!“, sprach sie überbetont langsam und deutlich, nachdem die Echse ihr wieder das Gesicht zugedreht hatte. „Kannst! Du! Bitte! Anhalten! Ich! Muss! Mal!“ Dabei drückte sie die geöffneten Handflächen rechts und links neben sich nach unten in der vagen Hoffnung, dass die Echse dies als Zeichen des Anhaltens verstehen würde.

Ihre Echse sah wieder nach vorn und knurrte laut in Richtung Tuchträger. Ein Zischen von ihm und die Kolonne hielt. Der Tuchträger kam zu ihnen nach hinten und fauchte. Karen deutete mit verkniffenem Gesicht auf ihren Unterleib und wies dann auf das dichte Gebüsch. Verständnislos legte der Tuchträger seinen riesigen Reptilienkopf schräg und starrte sie nachdenklich an. Karen überlegte, wie sie das Problem ihrem Führer begreiflich machen könnte, als Mihai rief. Der Tuchträger wandte sich ihm zu und Mihai zeigte auf eine der Echsen, die die Pause nutzte und zwei Schritte ins Gebüsch getreten war, um sich dort ungeniert zu erleichtern. Danach wies er auf sich und Karen.

Es war erstaunlich zu sehen, wie sich das relativ unbewegliche Reptiliengesicht aufhellte, wie dann die kräftigen Brustmuskeln von rhythmischen Zuckungen geschüttelt wurden und das ihnen nun schon bekannte Echsen-Lachen erscholl. Nach einem kurzen Krächzen des Tuchträgers fielen die umstehenden Echsen ein.

Karen schoss die Schamesröte ins Gesicht. Die Fesseln wurden gelöst, stöhnend stiegen die beiden von ihren Trägern und humpelten ins Gebüsch.

Als sie wiederkamen, knurrte Karen wütend: „Einen tollen Urlaub hast du mir hier eingebrockt, als du in das Bergwerk gekrochen bist. Kein Klopapier, keine frische Unterwäsche, Echsen, die mir auf den Busen starren …“

Mihai zuckte hilflos mit den Schultern. „Aber Karen, ich …“

Karen blieb stehen, schüttelte ihre flammende Mähne und stampfte gereizt mit dem Fuß auf. „Und damit du es weißt: Die Pille liegt im Erzgebirge im Zelt. Du kannst also in den nächsten Tagen alle Ambitionen in dieser Hinsicht vergessen!“

Mihai stand immer noch hilflos mit hängenden Schultern auf dem Weg, als Karen bereits wieder zornig und stöhnend ihren Träger erkletterte und sich dort festbinden ließ. Daran hatte er in diesem Moment wirklich nicht gedacht.

Als die Echsen am Abend endlich Rast gemacht hatten, konnten sich Karen und Mihai kaum mehr auf den Beinen halten. Sie stiegen ab und ließen sich dort, wo sie standen, in das gelblich-grüne Gras fallen. Ihre Bewacher reichten ihnen etwas gebratenes, kaltes Fleisch, das sie in sich hineinstopften, ohne über dessen Herkunft länger nachzudenken. Dazu tranken sie eine würzige Flüssigkeit aus einem der Schläuche, die die Echsen über ihren Schultern trugen, lagen da, stöhnten und bemitleideten sich.

Als Karen dann nach ein paar Minuten zu Mihai sagte, dass sie ihre Hose ausziehen musste, half er ihr wortlos. Er erschrak mächtig, die gesamte Innenseite ihrer Oberschenkel war durch den Ritt auf der Echse aufgescheuert und, wo sie nicht blutete, mit Ödemen übersät.

„Scheiße, Karen, was machen wir jetzt nur?“

Er vermutete, dass er selber nicht viel besser aussah und zog auch seine Hose aus – es stimmte.

Ein Zischen unterbrach sein Selbstmitleid. Der Anatom stand vor ihnen und wies fragend auf die Wunden der beiden Menschen. Karen schüttelte den Kopf, doch Mihai nickte. Die Echse ließ sich nieder und betastete mit einer Vorsicht, die man diesen großen Klauen nicht zugetraut hätte, die Oberschenkel der Menschen. Dann knurrte sie unwillig, schüttelte ihren riesigen Schädel und begann in einem kleinen Ledersäckchen zu kramen, das an einem ihrer Schultergurte befestigt war.

„Nein-nein-nein.“ Mihai versuchte sich aufzurichten, doch der Anatom drückte ihn wie nebenbei auf das Gras zurück.

„Keine Echsenmedizin!“, wehrte sich Mihai schwach.

Karen starrte nur teilnahmslos in die Baumkronen über ihnen und sagte kein Wort. Der Anatom nahm ein kleines Drahtgestell heraus, platzierte es zwischen Mihai und Karen. Anschließend legte er ein Schälchen oben auf das Gestell, darunter stellte er eine Kerze, die er mit Hilfe eines Feuersteins entzündete. Jetzt füllte er etwas von der würzigen Flüssigkeit, die sie getrunken hatten, aus seinem Lederschlauch in das Schälchen. Er suchte in einem anderen Beutel, holte fast schon andächtig drei kleinere Ledersäckchen hervor, aus denen er mittels eines hölzernen Spatels ein wenig verschiedenfarbiges Pulver in das Schälchen gab.

Sofort breitete sich ein würzig-herber Geruch aus.

„Toll!“, brummte Mihai sarkastisch und sank ins Gras. „Reptilien-Aromatherapie gegen wunde menschliche Oberschenkel. Ich möchte wissen …“ Dann war er eingeschlafen, nur kurz nach Karen.

So hatte der erste Tag ihrer Gefangenschaft geendet.

Der zweite Tag hatte gleich am frühen Morgen mehrere Überraschungen gebracht. Sie waren schmerzfrei. Das war ihre erste Feststellung nach dem Erwachen. Nicht nur schmerzfrei, sondern geheilt! Innerhalb einer einzigen Nacht! Im Schlaf! Nicht einmal ein quälender Muskelkater war geblieben, nur ein leicht schwummriges Gefühl im Kopf, wie nach etwas zu viel rotem Wein am Vorabend. Der Anatom hatte seine geheimnisvollen Gerätschaften schon wieder abgebaut, kam aber, als er sah, dass sie wach waren, schnell zu ihnen. Vorsichtig betastete er ihre Oberschenkel und nickte, deutlich zufrieden mit sich selbst. Er knarrte ihnen etwas zu, das ‚Hab ich mir doch gedacht!‘ oder auch ‚Dem großen Echsengott sei Dank, es hat geklappt!‘ heißen konnte und verschwand wieder im Gewühl seiner Artgenossen. Karen und Mihai bemerkten, dass sich das Lager im Aufbruch befand, einer der Wärter kam und brachte etwas Fleisch und einen Schlauch mit dem würzigen Getränk der Echsen. Karen verschmähte allerdings das Trockenfleisch und wich auf die dunkelblauen, von gestern bereits bekannten Beeren aus.

Nach dem Frühstück strich Karen sich ungläubig über die Innenseiten ihrer Oberschenkel, die am Abend zuvor noch wund und blutig gewesen waren. „Unglaublich!“, flüsterte sie tonlos. „Nicht einmal eine Narbe ist geblieben. Wie haben die das hingekriegt?“

Mihai konnte wieder einmal nur mit den Schultern zucken. Es war nicht so, dass sie, je länger sie hier waren – wo immer dieses Hier auch war – auch mehr Erklärungen für die auftretenden Fragen bekamen. Im Gegenteil, die Rätsel häuften sich. Geheilt über Nacht mit Echsen-Aromatherapie – er sah den Werbeslogan förmlich vor sich.

Als sie nach dem Frühstück zu ihren Trägern kamen, wartete die zweite Überraschung auf die beiden Menschen.

„Oh! Es scheint, dass wir doch nicht so böse Gefangene sind.“ Mihai begutachtete die beiden Reptilien, die sie gestern getragen hatten. Die zwei Echsen hatten auf ihrem Rücken eine Art Sattel, gefertigt aus Seilen und dicken, großen Blättern mit der Festigkeit von Leder. Einige eingearbeitete Stöcke unterstützten die Sitzhaltung. Stolz präsentierte der Anatom seine Konstruktion, wenn sie seine Gesten richtig verstanden, während sich die beiden so bepackten Echsen unwohl reckten und die Gurte über ihren kaum vorhandenen Schultern hin und her schoben. Die Menschen saßen auf und wurden wieder angebunden. Dann ging es im selben rasenden Tempo wie schon am Tag zuvor weiter durch den dicht mit Kiefern bestandenen ungewöhnlichen Urwald.

Der heutige Ritt war bedeutend angenehmer als der gestrige. Durch die lang ausgreifenden und federnden Schritte der Echsen erinnerte er Karen jetzt mehr an ihren Ritt auf einem Kamel im letzten Jahr. Ihre Gedanken schweiften ab, während sie sanft geschaukelt wurde. Karen war mit Mihai in Tunesien gewesen und fasziniert von der Freundlichkeit der Einwohner der kleinen Stadt, in der sie untergekommen waren. Wieso nur hatte sie sich von Mihai zu dieser Wandertour überreden lassen? Solch ein Urlaub war nichts für sie. Ihr lag mehr an Pauschalreisen, bequem mit Flugzeug, Reiseleitung und Koffer. Rucksacktouren hatte sie bislang Mihai und seinen Freunden überlassen.

Aber auch an diesem Tag war keine Zeit mit Jagd oder überflüssigen Pausen vergeudet worden. Es schien, als ob die Echsen so schnell wie möglich zu ihrer Siedlung wollten. Sei es der zwei ungewöhnlichen und wohl auch beunruhigenden Gefangenen wegen, oder weil der Trupp von einer größeren Tour zurückkehrte und es sowieso eilig hatte, oder sei es auch nur aus dem Grund, dass die Echsen grundsätzlich so schnell liefen. Es war nicht herauszukriegen. Überhaupt erfüllte es die Menschen mit Unzufriedenheit, dass sich die kaum vorhandene Konversation mit ihren neuen „Freunden“ nur auf wenige Gesten beschränkte. Aber weder Mihai noch Karen waren in der Lage, die krächzenden, schnarrenden und zischenden Laute, aus denen sich die Reptiliensprache zusammensetzte, mit ihren Lippen zu formen. Selbst das einfache „Karen – Mihai – ??“ nach dem Motto „Ich Tarzan – du Jane“ funktionierte nicht.

Es musste später Nachmittag gewesen sein, als Karen eine zuerst unscheinbare Veränderung im Verhalten der Echsen aufgefallen war. Beide hatten bereits am Tag zuvor bemerkt, dass ständig zwei oder drei Echsen vom Tuchträger ausgesandt wurden, die nach einiger Zeit zum Trupp zurückkehrten, um zischend Bericht zu erstatten. „Wohl Späher“, schätzte Mihai. Nun kehrte einer der Späher deutlich aufgeregt zurück, knarrte etwas und sofort bereitete sich eine unterschwellige Spannung in der Gruppe aus. Keine der Echsen hatte einen Ton von sich gegeben, aber Karen fühlte es. Sie bemerkte es an der Art, wie ihr Träger lief, und registrierte das unruhige Umherschauen der Reptilien. Karen empfand die Anspannung wie damals, kurz nachdem sie mit Mihai zusammengezogen war, als er angefangen hatte Drogen zu nehmen und sie belog. Auch zu jener Zeit hatte sie die Anspannung körperlich gespürt, genau wie jetzt. Und kleine Beobachtungen bei den Reptilien gaben ihr Recht, hier ein kurzer Griff zu einem Messer, dort ein prüfender Blick in den fast wolkenlosen Himmel.

Mihai beteuerte später, dass er bis zum Angriff nichts bemerkt hatte, die Attacke war für ihn völlig überraschend gekommen. Karen selber vermutete ziemlich bald, dass etwas passieren würde. Die förmlich in der Luft knisternde Elektrizität der Echsen-Aufmerksamkeit wurde immer greifbarer. Ihr schien, als ob die Luft selber immer dicker wurde, so, als müssten die Reptilien gegen einen inneren Widerstand ankämpfend vorwärts laufen.

Und dann ging alles sehr schnell. Mihai sagte hinterher, der ganze Kampf könne höchstens drei bis vier Minuten gedauert haben.

Von der rechten, dicht bewachsenen Seite brachen krachend etliche etwa vier Meter lange Tentakel aus dem Gebüsch, Laub und abgebrochene Äste um sich schleudernd. Eine Sekunde lang, in der alle erstarrten, wedelten die graugrünen, schuppigen Fangarme scheinbar ziellos in der Luft. Dann peitschten sie zwischen die Echsen und fegten mehrere aus der Mitte ihrer, wegen des engen Pfades hintereinander rennenden, Truppe hinweg. Sie flogen durch die Luft wie von einem kleinen Kind weggeworfene Puppen. Eine krachte mit einem hässlichen Knacken gegen einen mächtigen Baum und blieb, seltsam verdreht, bewegungslos am Stamm liegen. Die anderen drehten sich im Flug, mit ihrem langen Schwanz steuernd, und landeten, bereits mit dem gezückten Messer in den Klauen, bewundernswert geschickt auf ihren gebogenen Beinen.

Der Rest der Truppe hatte blitzschnell die Bögen hervorgeholt, gespannt und kurze, kräftige Pfeile aufgelegt, jedoch ohne zu schießen. Sie warteten auf das eigentliche Tier. Sekundenlang bewegte sich niemand.

Karen hatte mit einer Art Krake gerechnet, auf Grund der Fangarme, die den Angriff gestartet hatten. Das Reptil, welches sich jedoch jetzt, scheinbar plump und etwas ungeschickt, zwischen brechenden Zweigen aus dem dichten Gebüsch schob, sah eher aus wie ein fast pferdegroßer Hund mit den gedrungenen Beinen eines Löwen. Im Gegensatz zu ihren rotbraunen Freunden war er graugrün geschuppt. Mit mächtigen Muskeln bepackt ragten die langen, wie blind in der Luft herumgreifenden Fangarme aus seinen Schulterblättern. Von ihm ging etwas Beklemmendes, Unbehagliches aus, schien Karen, so als ob man sich in der Gegenwart des Teufels befinden würde, wenn es denn einen gäbe. Der „Tentakelhund“, wie sie ihn im Stillen fast sofort taufte, schnaubte in beide Richtungen des Weges, als ob er sich orientieren wollte, welchen Teil des Trupps er denn nun angreifen solle. Durch sein Erscheinen auf dem Pfad hatte er die Echsen in zwei Gruppen geteilt. Während sich der Tuchträger und der Anatom mit dem größten Teil ihrer Leute auf der einen Seite befanden, standen Karen und Mihai mit ihren Trägern und zwei weiteren Reptilien auf der anderen Seite. Der Tuchträger zischte etwas und sofort ging ein Hagel von Pfeilen auf das Untier nieder. Dabei konzentrierten sich die Schützen auf das, was Mihai später als „die warzige Fresse dieses verdammten Pferdeköters“ bezeichnen sollte. Mächtige, grobe Augenwülste senkten sich über kleine, tiefliegende Reptilienaugen und schnappend schloss sich das zahnbewehrte Maul. Wirkungslos prallten alle Pfeile an den kräftigen Schuppen ab. Der Tentakelhund teilte mit seinen gewaltigen Fangarmen ein paar Schläge gegen die am nächsten stehenden Echsen aus. Diese mussten zurückspringen oder wurden ins Gebüsch geschleudert. Der Angreifer drehte sich in die Richtung der kleineren Gruppe.

Karen erinnerte sich später daran, dass sie in diesem Moment die fast absolute Lautlosigkeit des Kampfes fasziniert hatte. Wie ein außenstehender Beobachter registrierte sie das Kampfgeschehen und bemerkte die Gefahr für sich selbst erst, als es zu spät war. Bis dahin hatte sie sich auf die Reflexe und die Schnelligkeit ihres Trägers verlassen. Das Einzige, was sie hörte, waren die halblaut gekrächzten Befehle des Tuchträgers, auf dessen Weisung hin jetzt mehrere Echsen im Unterholz verschwanden, um den Angreifer zu umgehen. Zwei andere stürzten sich mit gezückten Messern von hinten auf den Tentakelhund. Sie krallten sich in einem der Fangarme fest und hieben ihre Messer mit kurzen, kräftigen Schlägen zwischen die Schuppen dieses Körperteils. Jetzt jaulte das pferdegroße Scheusal das erste Mal krächzend auf, in einer viel höheren Stimmlage, als Karen erwartet hatte. Sie fühlte sich dabei an einen an schwerer Bronchitis erkrankten Tenor erinnert, der versuchte eine italienische Arie zu singen. Als der Tentakelhund sich in Bewegung setzte, zog er die beiden in seinen Fangarm schon förmlich verbissenen Echsen wie Leichtgewichte hinter sich her. Schockiert registrierte Karen erst jetzt, dass er genau auf sie und Mihai zukam.

Die beiden Trägerechsen der Menschen wandten sich zur Flucht. Karen war nicht wohl dabei, dass das Monstrum jetzt hinter ihr war und sie es nicht sehen konnte. Die zwei riesigen, meterlangen Sprünge, die der Tentakelhund machte, konnte sie nur als dumpfe Schläge auf den Boden hören. Sie vernahm auch, wie er nebenbei die beiden anderen Echsen hinter ihnen mit Schlägen seiner Fangarme in den Wald fegte, und dann hörte sie den Tuchträger das erste Mal brüllen. Die beiden Träger der Menschen mussten die Aussichtslosigkeit ihres Fluchtversuches erkannt haben und drehten sich wieder ihrem scheinbar übermächtigen Gegner zu. Dieser knurrte jetzt fast wie ein echter Köter und schleuderte mit einem weiteren Schlag seiner Tentakel Mihais Trägerechse zusammen mit ihm in einen weit abseits stehenden rotbelaubten Busch. Karen schrie aus Angst um Mihai auf, aber schon stand das Monster direkt vor ihnen. In Erwartung eines derben Schlages seiner Fangarme duckte sie sich hinter den breiten Oberkörper ihres Trägers. Doch die Bestie änderte ihre Taktik. Einer der Fangarme schoss zischend gerade nach vorn, bohrte sich mit einem hässlichen, knackenden Geräusch in den Bauch der Echse. Karen spürte einen stechenden Schmerz, sah nach unten und entdeckte die knochige, mit Widerhaken besetzte Spitze des Tentakels, die aus dem Rücken des jetzt heftig zuckenden Reptils ausgetreten war und tief in ihrem linken Oberschenkel steckte. Der Schock und die Angst schnürten ihr die Kehle zu. Hilflos krächzte ihre Echse, ziellos griff sie mit ihren ehemals so kräftigen Klauen in die Luft und ein Schwall schwarzen Blutes ergoss sich aus ihrem Maul. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wurde Karen mit schrecklicher Gewissheit klar, dass ihr Träger starb. Der Teufelshund riss seine Opfer an sich, verbiss sich in der Kehle des Reptils und drosch mit mehreren Tentakeln auf das Reptil und Karen ein. Schlagartig wurde es dunkel um sie.

Als Mihais Trägerechse sich nach dem Sturz wütend knurrend wieder erhob und er selber, am ganzen Körper schmerzend, einen Blick auf den Kampfplatz warf, schrie er schockiert auf. Aus seiner Perspektive sah es so aus, als ob dieses scheinbar unbesiegbare Monster Karen den Kopf abbiss. Die Konzentration des wütenden Untiers auf seine beiden wehrlosen Opfer war allerdings auch sein Verhängnis. Der Tuchträger brüllte einen Befehl und der Tentakelhund verschwand fast im selben Augenblick unter einer wirbelnden Masse aus Echsenleibern, die mit Klauen, Zähnen, Speeren und Messern gegen dieses Wesen vorgingen. Aus der unübersichtlichen Masse an Reptilienkörpern ragten noch kurze Zeit sich windende und umherschlagende Fangarme heraus, deren Bewegungen jedoch schon bald zielloser wurden und erschlafften.

Irgendwann sah Mihai, wie eine Echse die blutende Karen mit der an sie gefesselten, kopflosen Leiche ihres Trägers aus dem Kampfgewühl zog. Mihai, dessen Reptil sich nicht am Kampf beteiligte, griff unter dem Arm des Trägers nach vorn, zog blitzschnell eines der im Brustgurt steckenden Messer hervor und kappte den Strick, der ihn noch immer an das Tier fesselte. Ohne von seinem überraschten Wächter aufgehalten zu werden, sprang er aus dem Sattel und rannte zu seiner schwer verwundeten, ohnmächtigen Frau.

Während die Reptilien noch in den Kampf mit ihrem sterbenden Gegner verwickelt waren, durchtrennte Mihai Karens Fessel mit dem Messer seines Wächters. Vergebens mühte er sich ab, seine Frau unter der mächtigen Leiche ihres Trägers hervorzuziehen. Dabei entdeckte er den Tentakel, dessen eines Ende dornenbesetzt in Karens Oberschenkel steckte, und dessen anderes Ende als blutiger, abgehauener Stumpf aus dem Bauch der toten Echse ragte.

Mihai würgte stöhnend. „Oh nein!“, flüsterte er. „Mein Gott, oh nein …“

Dann durchschnitt er den Tentakel vorsichtig an der Stelle, an der er aus dem Reptilienkörper austrat und in Karens Bein eindrang. Das Messer war sehr scharf und durchtrennte mühelos die Schuppen, das Fleisch und die Knochen des Fangarmes. Trotzdem zitterten seine Arme so enorm, dass er den Griff des Messers mit beiden Händen umfasst hielt. Er war froh, dass er kniete, denn er wusste genau, dass seine Beine ihn in dieser Situation nicht getragen hätten. Mihai schossen die Tränen in die Augen, als er nach dieser Operation seine zerschundene Frau mühsam ein Stück zur Seite schleifte. Ihr rechter Arm lag unnatürlich abgewinkelt auf der Wiese, als ob er nicht zu ihrem Körper gehöre, das Gesicht war blutig, die Augen zugeschwollen, das T-Shirt zerfetzt und riesige blaue Flecken bedeckten ihren Rücken.

Ratlos kniete er vor ihr, beobachtete, wie sich ihre Brust unter schwachen Atemzügen hob und senkte, wagte dabei kaum sie anzufassen und hätte sie so gern in den Arm genommen. Tränen liefen ihm über die Wangen und tropften auf ihr Gesicht.

„Karen!“, flüsterte er hilflos und hielt übervorsichtig ihre Hand, „Karen! Ich bin hier. Hörst du mich? Ich bin ja bei dir!“ Es war ein Trost, den er sich selber gab, und den er auch brauchte. Er wusste, dass Karen ihn in diesem Zustand nicht hören konnte, hoffte insgeheim aber doch darauf. Erst als er eine vorsichtige Berührung an der Schulter spürte, kam ihm die eingetretene Ruhe nach dem Chaos der letzten Minuten zu Bewusstsein. Er sah auf und erblickte die nach dem Kampf noch immer heftig keuchenden, zum Teil schwer verletzten, um ihn herum stehenden Echsen. Einige Meter hinter ihnen lag die zerfetzte Leiche ihres Angreifers mitten auf dem Weg.

Mihai schluchzte: „Wie-wieso hat dieses Vieh ausgerechnet Karen angegriffen?“

Der Tuchträger zog Mihai sacht hoch und hielt ihn an den Schultern fest, während der Anatom sich vor die unbeweglich auf der Wiese liegende junge Frau hockte. Fast schon zärtlich glitten die riesigen Klauen über ihr Gesicht und den Hals. Sie richteten ihren wahrscheinlich gebrochenen Arm gerade aus und betasteten behutsam die Brust und die Rippen. Dabei entfernten sie vorsichtig die Reste des T-Shirts, hoben Karen auch leicht an und untersuchten sanft ihren Rücken. Mit einem dünnen spitzen Messer schnitt der Anatom ihre Jeans am verletzten Oberschenkel auf und fingerte am Stumpf des Tentakels herum. Mihai schrie auf und wollte nach vorn stürzen, wurde jedoch vom Tuchträger festgehalten, als der Anatom zwei Schnitte an Karens Oberschenkel ansetzte und die Spitze des Fangarmes aus Karens Bein herausoperierte. Es war eine sehr blutige Angelegenheit und so nutzte der Anatom die Reste ihres Shirts, um die offene Wunde zu verbinden und die Blutung etwas zu stoppen. Er ließ Karen auf der kleinen Wiese liegen, auf die Mihai sie gelegt hatte. Elf Echsen legten sich dazu oder wurden von ihren Kameraden neben die anderen Verwundeten gebettet. Mihai sah, dass sich nur die am schwersten Verwundeten niederließen. Keine der Echsen war ohne Verletzung geblieben, auch er selber hatte ja bei dem Sturz mehrere schmerzhafte Abschürfungen davon getragen.

Jeweils zwischen zwei der Liegenden baute der Anatom – oder sollte er besser Medizinmann sagen? – seine kleinen, silbernen Drahtgestelle mit den Schälchen auf, füllte aus einem Lederschlauch die Mihai schon bekannte würzige Flüssigkeit hinein, entzündete darunter kleine Talgkerzen und schaufelte zum Schluss aus den drei Ledersäckchen mit einem hölzernen Spatel die verschiedenfarbigen Pulver hinzu. Bei Karen und dem neben ihr liegenden schwer verwundeten Reptil ließ er noch ein paar kleine, rote Blätter in die bereits siedende Flüssigkeit fallen. Sofort zogen aromatisch-herbe Dämpfe über die Wiese und die Verwundeten schliefen ein. Auch Mihai wurde es schwer im Kopf, doch der Tuchträger nahm seinen Arm und führte ihn ein Stück zur Seite. Mihai sah ihn an.

„Er kriegt sie doch wieder hin, oder? Der schafft das doch? Kriegt er sie wieder hin?“ Beruhigend drückte die dreifingrige Kralle Mihais rechte Schulter.

Weiter vorn auf dem Weg hatten die Echsen den Kadaver des Angreifers vom Weg gezerrt und begruben ihn. Einige Meter dahinter lagen die Leichen der vier beim Kampf getöteten Echsen. Die Reptilien hatten ihre toten Artgenossen auf Zweige gebettet und die Augen mit kleinen flachen Steinen abgedeckt. Die daneben stehenden Echsen strahlten Trauer aus, aber auch Wut über diesen Angriff und, genau wie Mihai, Ratlosigkeit. Denn, und das merkte der Mensch genau, auch sie hatten mitbekommen, dass dieser seltsame Tentakelhund Karen angegriffen hatte, nicht wahllos den Trupp, nicht Mihai. Nein, eindeutig Karen, und damit ihr Träger, waren interessant für ihn gewesen. Warum nur?

Sollten alle vier Echsen also Karens wegen gestorben sein? Aber die anderen ließen ihn das nicht spüren, im Gegenteil. Er hatte sogar das Gefühl, dass die letzte Viertelstunde ihn und Karen vielmehr zu einem Teil der Gruppe gemacht hatte. Und das, obwohl er dem ganzen Geschehen hilflos, auf seinem Reittier gefesselt, ausgeliefert gewesen war. Vielleicht ist „Reittier“ auch keine so glückliche Bezeichnung!

Stumm saßen die Echsen bis zur Dämmerung des nächsten Morgens beim flackernden Schein eines kleinen Feuers um die vier Gefallenen. Keiner verspürte Hunger oder den Drang zu schlafen. Selbst Mihai, der von ihnen höflich in den Kreis um die Toten gebeten worden war, konnte vor Sorge um seine Frau kein Auge zumachen. Regelmäßig sah er zu Karen und den anderen Verletzten herüber, die mit großen, dunkelgrünen Blättern zugedeckt auf der Wiese lagen. Er sah von weitem zu. Nähern durfte er sich nicht, das hatten sie ihm unmissverständlich klar gemacht.

Kleinen Irrlichtern gleich flackerten die Kerzen unter den Schälchen im leichten Lufthauch der Nacht. Nur der Schatten des Anatoms geisterte zwischen den Verletzten umher, füllte hier eine Schale mit Flüssigkeit und Pulver nach und erneuerte dort eine abgebrannte Kerze.

Warum schlief er eigentlich nicht ein im aromatischen Hauch seiner Wundermedizin? So viele Rätsel. Würden sie je Antworten bekommen?

Die Runde um die Toten saß, schwieg meist und ließ langsam einen der mit würziger Flüssigkeit gefüllten Lederschläuche kreisen. Das Schweigen hatte fast etwas Rituelles, es wurde nur durch ein gelegentliches Krächzen oder Zischen unterbrochen, so als würden sie sich nicht die Taten der Verstorbenen erzählen, sondern die Eckdaten ihrer Streiche nennen, wo sie wann etwas Bedeutendes getan hatten.

„11. Oktober ’81Startbahn West!“

„09. November ’89 – Bornholmer Straße!“

„11. September 2001 – New York!“

Obwohl die Flüssigkeit, die sie tranken, nicht berauschend war, schien sie doch eine gewisse Wirkung auf die Psyche auszuüben. Mihai, für den das in seinem Leben die erste direkte Begegnung mit dem Tod war, bemerkte an sich selbst, wie er ruhiger und entspannter wurde. Vielleicht war es aber auch einfach nur die Runde, in der er saß, die Ruhe des Todes, die deutlich zu spürende Freundschaft der Echsen untereinander und die Trauer um den Tod ihrer Artgenossen. Auch die Reptilien entkrampften sich merklich. Mihai war froh, dass er zwischen ihnen saß und seinen geschundenen Rücken nicht irgendwo allein gegen einen Baum drücken musste. Er hätte sowieso nicht schlafen können, solange er über Karens Zustand im Ungewissen war.

Bei Sonnenaufgang räumte der Anatom seine Geräte zusammen, sichtlich zufrieden mit sich selbst. Es fehlte nur, dass er sich kichernd die Klauen rieb. Die ersten Verletzten erhoben sich, dehnten ihre Glieder und begannen kurz darauf zu frühstücken – unverletzt, aber nicht unbekümmert, lagen doch die Toten deutlich sichtbar in ihrer Nähe.

Mihai setzte sich neben Karen und wartete auf deren Erwachen. Er betrachtete ihr im Schlaf entspanntes Gesicht. Die Schwellungen von den Schlägen der Tentakel waren verschwunden und auch die Verfärbungen waren fast vollständig zurückgegangen – bis auf ein leichtes orangefarbenes Veilchen um das linke Auge. Er wagte nicht unter den Blättern nach dem Rest ihres Körpers zu schauen, da er sie nicht wecken wollte.

„Du blickst so besorgt in die Welt“, hörte er unerwartet ihre müde Stimme. Mihai wäre vor Schreck fast umgefallen, fasste sich jedoch schnell und strich ihr zart einige verschwitzte, rote Strähnen aus der Stirn.

„Wie geht’s dir?“ Zitterte seine Stimme? Er schaffte es nicht, sie unter Kontrolle zu halten.

„Ich fühle mich, als hätte ich gestern mit meinem Schwiegervater zwei Liter Slivovitz getrunken und wäre anschließend von einem Bus überrollt worden. Zu allem Unglück haben sich etwa zwei Dutzend Zwerge entschieden, hinter meiner Stirn eine Schmiede aufzumachen, und schlagen mit zentnerschweren Hämmern auf eiserne Ambosse.“ Dann grübelte sie einen Moment. „Ich glaube, mir fällt alles wieder ein. Wo ist dieses Vieh?“

„Tot. Unsere Freunde haben es besiegt.“

Die nächste Frage kostete sie merklich Kraft. „Und der Preis?“ Ihre Stimme klang angespannt, so als hätte sie Angst vor der Antwort.

„Mit dir zwölf Schwerverwundete und vier Tote.“

Sie schluckte schwer. „Vier? Auch mein Träger?“

„Ja.“

Karen schwieg ein paar Minuten und starrte in den Himmel. Eine Träne bildete sich in ihrem rechten Augenwinkel, blieb zögernd einen Moment hängen und eilte schließlich, dem unabänderlichen Gesetz der Schwerkraft folgend, abwärts.

„Ich trau mich nicht nach meinem Bein zu sehen.“

Diesmal schluckte Mihai. „Spürst du es?“

„Es kribbelt und fühlt sich irgendwie … neu an.“

„Soll ich?“

Karen antwortete lange Zeit nicht, sah an ihm vorbei in den Himmel und zu den Baumgipfeln, wo die ersten trüben Sonnenstrahlen begannen, in die tieferen Regionen des Waldes zu wandern. „Es ist schön, die Sonne zu sehen“, sagte sie nach einer Pause. „Auch wenn die Vögel nicht singen.“

Es stimmte, Mihai war es noch gar nicht aufgefallen. Der Vogelgesang war gestern im Laufe des Tages verstummt. Lag es daran, dass sie in ein anderes Gebiet gekommen waren, änderte sich die Jahreszeit oder sollte der zunehmend graue Schleier vor der Sonne Schuld sein? Oder alles zusammen? Ein weiteres Rätsel, dessen Lösung nicht unbedingt in den nächsten Stunden anstand.

Karen holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Schaust du bitte nach meinem Bein? Ich trau’ mich wirklich nicht.“

Er nickte und legte mit zitternden Fingern die Blätter zur Seite. Wenn sie wüsste, dass er sich auch nicht traute …

Unsicher sah sie in sein Gesicht, während er ihr Bein betrachtete, dann fühlte sie seine Finger auf ihrer Haut. Es prickelte.

„Da wird wohl eine Narbe bleiben“, meinte Mihai. Sie setzte sich auf und die Blätter rutschten ihr vom Oberkörper.

„Na toll. Jedes Mal, wenn hier irgendetwas passiert, bin ich hinterher nackt!“ Sie betrachtete ihr Bein und die feine, weiße, kreuzförmige Narbe an der Innenseite ihres Oberschenkels, strich behutsam über ihre Haut – keine Schmerzen, das war gut.

„Damit werde ich leben können.“

„Und dein Arm?“

„Was?“

„Dein rechter Arm war gebrochen.“

Karen bewegte ihn, rollte mit der Schulter. „Da ist nichts. Bist du dir sicher?“

Mihai nickte. „Als ich dich da liegen sah, dachte ich, es ist aus.“

Wieder liefen ihm Tränen über das Gesicht. Karen zog ihn an sich und strich mit der Hand über seinen Rücken.

Als er sich beruhigt hatte, sah sie an sich herab. „Ich brauche dein T-Shirt … und ein Messer.“

„Mein Shirt? Ein Messer?“

Sie zeigte auf ihre Brust: „Na so kann ich nicht herumlaufen!“ – und auf ihr aufgeschlitztes Hosenbein: „Und so auch nicht!“

Wortlos knotete Mihai sein selber in Mitleidenschaft gezogenes T-Shirt auf und reichte es seiner Frau. Bei seinem Träger holte er sich anschließend das Messer, welches er sich am Tag zuvor bereits ungefragt ausgeborgt hatte. Die Echse knurrte etwas natürlich Unverständliches, als Mihai ihr seinen Wunsch begreiflich gemacht hatte und schien wissen zu wollen, wofür er das Messer denn brauche. Er zeigte auf Karen und machte dann mit einem imaginären Luftmesser eine Bewegung des Hosenbeinabschneidens. Karen, die sich inzwischen mit seinem Shirt bekleidet hatte, schnitt sich, als er zurückkam, mit dem Messer energisch die Stoffreste des linken Hosenbeines ab, und nach zwei Probeschritten auch das Rechte.

„Shorts sind bei den Temperaturen sowieso besser.“

Mihai blickte auf ihre langen, weißen Beine und danach prüfend in den Himmel. „Hol dir bloß keinen Sonnenbrand.“

Karen war als Rothaarige mit einer empfindlichen hellen Haut geplagt, wie sie selber zu ihrem eigenen Leidwesen bereits mehrfach feststellen musste. Ohne Sonnenschutzmittel kein Sommerurlaub und Sonnenbaden war völlig unmöglich.

Sie folgte seinem Blick zur Sonne, die am Himmel hing, als würde ein ferner Autoscheinwerfer versuchen eine unsichtbare Staubwolke zu durchdringen. „Ich denke nicht, bei dem trüben Licht hier.“

Dieser seltsame Schleier schien auch den Echsen Kopfzerbrechen zu bereiten. Während der letzten beiden Tage hatte die Trübung des Sonnenlichtes deutlich zugenommen. Besorgte Blicke waren nach oben gewandert, krächzend geführte Diskussionen ergebnislos geführt worden. Zeitgleich dazu waren die Vögel nach und nach verstummt. Und den Reptilien, ihren großen Freunden, schien dieses trübe Licht auch auf das Gemüt zu schlagen. Während sie auf dem Berg, bei der Gefangennahme von Karen und Mihai, noch aufrecht gestanden hatten, verwirrt zwar ob der unbekannten Lebensform Mensch, die sie da erwischt hatten, doch trotzdem Energie geladen, so sah man ihnen jetzt deutlich an, dass sie von irgend etwas niedergedrückt wurden. Es war, als läge eine schwere Last auf ihren Schultern, der Gang war nicht mehr so federnd, die Schritte kürzer, die Schultern gebeugt und der Kopf gesenkt. Das alles fast unmerklich, aber in der Summe kaum zu übersehen.

„Irgendetwas passiert hier, Mihai. Irgendetwas Schlimmes, etwas Böses. Und es scheint, als können diese riesigen, kraftvollen Echsen dem nichts entgegen setzen.“

Sie hatten beide bemerkt, dass im Laufe des Vormittages mehrere der Echsen zum Anatom kamen und knarrend auf ihn einredeten. Sie zeigten auf ihre Stirn und die Schläfen, während der Anatom nur ratlos den Kopf schütteln konnte. Unverrichteter Dinge kehrten die enttäuschten Echsen zu ihren Aufgaben zurück.

„Was soll das?“

„Ich weiß nicht …“, antwortete Mihai langsam, grübelnd. Dann plötzlich: „Die haben Kopfschmerzen, Karen. Genau! Die haben Kopfschmerzen und wollen vom Anatom Hilfe. Und er kann sie ihnen nicht geben.“

„Hat der Tentakelhund sie mit einer Krankheit angesteckt?“

„Ich habe keine Ahnung. Aber sieh mal!“, wies er wieder auf die Echsen.

Der Anatom war an den Tuchträger herangetreten und redete leise zischend mit ihm, sichtlich bemüht, die anderen Reptilien nicht am Gespräch teilhaben zu lassen. Er zeigte auf verschiedene der Echsen, die mit ihren Problemen an ihn herangetreten waren. Der Tuchträger knarrte unwillig, schüttelte den Kopf und wollte sich abwenden. Doch der Anatom hielt ihn energisch am Arm fest, knurrte und wies auf den unsauberen Himmel. Das erste Mal sahen sie jetzt bei einer Echse so etwas wie eine Schreckensreaktion. Der Tuchträger machte einen überraschten Schritt zurück, blickte nach oben, knarzte laut, duckte sich dann sofort, bemüht leiser zu sein und vor den anderen Echsen seinen Schreck zu verbergen. Dann fauchte er auf den etwas kleineren Anatom ein, doch der schüttelte seinen Kopf und wies erneut zischelnd auf den Himmel. Danach zeigte er fragend mit einer Klaue auf den mächtigen Schädel des Tuchträgers. Der schüttelte zuerst leicht verunsichert den Kopf, nach einer erneuten, drängenden Nachfrage seines Kameraden jedoch nickte er unwillig, fast schon widerstrebend.

Beide sahen auf einmal zu Karen und Mihai herüber, bekamen mit, dass sie von den Menschen beobachtet wurden und kamen zu ihnen. Mihai erhob sich von seinem Sitzplatz am Baum. Der Anatom blieb nahe vor ihnen stehen. Mit seiner rechten Klaue griff er sich an die Stirn und stöhnte, zeigte auf den neben ihm stehenden Tuchträger, stöhnte erneut und wies dann vorsichtig mit einer fragenden Geste erst auf Mihais Stirn und dann auf die von Karen.

„Nein“, sagte Mihai und schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Kopfschmerzen.“

Der Anatom drehte sich um, blickte den Tuchträger wissend an (Ich hatte Recht!) und ging. Der Tuchträger betrachtete das zu ihm aufschauende Pärchen noch einen Moment sinnend, drehte sich ebenfalls von ihnen weg und ging laut knarrend davon. Die anderen Echsen erhoben sich daraufhin – Zeit zum Aufbruch.

„Was war das jetzt?“

„Alle haben Kopfschmerzen.“ Mihai reichte Karen die Hand, die sich ächzend an dieser nach oben zog. „Alle haben Kopfschmerzen“, wiederholte er, „Nur wir nicht. Die Vögel verstummen.“ Er nahm problemlos einen der großen, vierbeinigen Schmetterlinge vom Blatt eines neben ihnen emporragenden Busches. „Sogar die Insekten werden träge. Und wir? Spürst du etwas?“ Vorsichtig setzte er den Schmetterling wieder auf das Blatt, dieser kippte jedoch um und fiel herunter. Mühsam versuchte er im Gras wieder aufzustehen.

„Nein.“ Karen schüttelte nachdenklich den Kopf. „Dafür, dass ich gestern zusammengeschlagen worden bin, einen gebrochenen Arm und einen durchstochenen Oberschenkel hatte, geht es mir recht gut.“

Sie sah sich um und plötzlich hellte sich kurzzeitig, wie unter einem klaren Gedanken ihr Gesicht auf, bevor es sich sichtbar verfinsterte. „Mihai, alles was hier lebt, legt Eier. Vögel, Insekten, Reptilien, sogar der Tentakelhund hatte ein eindeutig reptilienähnliches Aussehen. Aber Säugetiere? Von Säugetieren haben wir bisher nichts gesehen. Wir sind die einzigen.“ Und dann sah sie zum Himmel und eine bodenlose, bedeutungsvolle Unruhe ergriff von ihr Besitz, so deutlich, dass sogar Mihai davon befallen wurde.

Hier kam irgendetwas auf sie zu, von dem sie nicht wollte, dass es geschah. Grauer Angstnebel sickerte von ihrem Gehirn in sie hinein, breitete sich aus und nahm ihrem wild klopfenden Herz den Platz zum Schlagen.

Das war am Morgen des dritten Tages gewesen. Gegen Mittag hatten sie das Dorf erreicht. Der Geruch des Flusses, dem sie sich näherten, kündigte ihnen schon eine ganze Weile zuvor eine Veränderung an. Zuerst lichtete sich der bisher sehr dicht wachsende Wald allmählich und urplötzlich standen sie auf der Anhöhe, blickten hinunter zum Fluss und zu der langgezogenen, erhöht liegenden Landzunge mit den etwa siebzig schilfgedeckten Hütten aus Lehmziegeln. Der Eindruck, den sie vom Dorf bekamen, als sie hineineskortiert wurden, widersprach dem, den sie von den Bewohnern erhielten. Die runden Lehmhütten hatten große Fenster aus einer fast durchsichtigen, festen Haut. Unter den weit heruntergezogenen Dächern hingen viele Gebrauchsgegenstände wie Töpfe, Körbe, Tragegestelle, aber auch Pflanzenkübel, Sträuße getrockneter Gewächse und Wurzeln, sowie Geräte zur Bodenbearbeitung und zum Fischfang, in ihren Proportionen aber etwas anders, als die Menschen sie kannten, abgestimmt auf die großen Klauenhände der Echsen. Jedoch konnten sie auch Sachen erkennen, die wohl eindeutig als Schmuck zu identifizieren waren, wie Holzgestelle mit bunten Fäden, Federn und Steinchen, ähnlich den Traumfängern der nordamerikanischen Indianer. Diese Echsen-Traumfänger, die Karen auf Anhieb gefielen, drehten sich im leichten Wind, der vom nördlichen Fluss herüberwehte.

Die verschiedenfarbigen Wände der Behausungen waren hauptsächlich in sonnigem Orange, warmen Brauntönen und dunklem Grün gehalten. Geschmackvoll schwammen die Farben ineinander, bildeten Strudel oder Kreise, Wirbel und Wellen auf den Hauswänden. Zwischen den Hütten wuchsen einzelne der rot benadelten Kiefern. Baumstämme, deutlich als Sitzgelegenheiten gedacht, waren auf einem größeren, freien Platz in der Mitte des Dorfes angeordnet, dessen Zentrum eine momentan erloschene Feuerstelle bildete. Nicht weit ab war der Hafen, eine flache Bucht mit mehreren kanadierähnlichen Booten und einer größeren Hütte, die wohl eine Art Werft darstellte, da vor ihr eine Reihe un- und halbbearbeiteter Bäume lagen.

Aber niemand baute an einem Boot, keiner fischte, es trafen sich keine „Frauen“ beim Wasserholen zum Gespräch am überdachten Brunnen, die gepflegten Beete lagen verwaist, keine kleinen Echsen tobten durch das Unterholz. Kurz: Das normale Leben, welches in so einem Dorf hätte herrschen müssen, fand nicht statt. Und es sah auch nicht so aus, als wäre es so eben mal unterbrochen worden, um die Ankunft dieser rätselhaften, fremden Säugetiere mitzuerleben.

Der lethargische Konvoi aus großen und kleinen, alten und jungen Echsen, der sie am Rand des Dorfes erwartet hatte, als sie den Hügel herunter kamen, wurde länger, je tiefer sie in die Siedlung gelangten. Schweigend waren sie in Empfang genommen worden, schweigend wurden sie durch das ganze Dorf bis zur allerletzten Hütte geleitet. Aber es war nicht die Ruhe, die Überlegene gegenüber ihren unterworfenen Gegnern ausstrahlten, nicht das ängstliche Schweigen von Schwachen in Furcht vor dem Unbekannten, nicht die ruhige Neugierde von Interessierten. Nein, apathisches Schweigen, krankhafte Ruhe, Desinteresse, Niedergeschlagenheit. All dies und noch mehr, fühlten die Menschen, schwappte förmlich von der Masse der Echsenleiber über ihnen zusammen, nahm ihnen den Atem und drohte sie zu begraben. Man stand nur hier, weil alle hier standen. Vielleicht war das eine oder andere Wesen noch nicht so weit niedergedrückt wie die große Menge der Dörfler, aber es fiel nicht weiter auf.

Sogar der Tuchträger, der Anatom und der Rest des ganzen Trupps wurden unter der Last der Depressionen und des Kleinmutes förmlich nach unten gepresst. Ihre Schritte wurden kürzer, ihre Schultern sanken tiefer und ihre Schwänze schleiften schwerer über die Erde, je weiter sie in ihr eigenes Dorf eindrangen. Karen und Mihai waren von ihren Trägern bereits außerhalb des Dorfes abgestiegen und liefen selber. Die Echsen trugen nur die Leichen der vier Gefallenen und legten diese nieder, als sie jetzt endlich vor der letzten Hütte des Dorfes ankamen. Der Lehmbau unterschied sich in nichts von den anderen Behausungen. Trotzdem musste die Echse, die hier wohnte, etwas Besonderes sein, eine Art Häuptling oder so, denn der Tuchträger und seine Truppe senkten – nicht ergeben oder unterwürfig, aber doch zumindest höflich – den Kopf und ein leises „Sch-Sch-Sch-Sch“ erklang, fast so wie eine ehrende Begrüßung, fand Mihai.

Mühsam richtete sich die „Ober-Echse“ auf, nachdem sie würdevoll durch die niedrige Tür getreten war und sonnte sich einen Moment im Zischen der Dörfler. Schnell jedoch breitete sich Stille aus und das hoheitsvolle Reptil betrachtete den zurückgekehrten Trupp, die Toten und vor allem Karen und Mihai prüfend. Nach dem Rundblick kehrten seine glitzernden Augen wieder zum Tuchträger zurück, eine Frage wurde gezischt. Die Antwort bestand in einem längeren Monolog, unterstützt durch Gesten der beiden Klauen und deutliche Hinweise auf ihre getöteten Gefährten und die Menschen. Mehrfach wies er auch auf Karen allein, wahrscheinlich als er erklärte, dass wohl sie das Ziel des Angriffes des Tentakelhundes gewesen war. Am Ende seines Berichtes sah der Tuchträger die Ober-Echse auffordernd an. Jetzt habe ich berichtet, nun erzähle du!

Diese nickte sinnend, sah den Trupp an, blickte in die Runde und zischte dann wütend in den Himmel. Die Wirkung auf den Trupp war erschreckend. Es schien eine neue, böse Nachricht gewesen zu sein, die ihnen da mitgeteilt wurde, als würde sich eine dunkle, drohende Gewitterwolke auf sie senken. Mehrere der Echsen fielen lauthals knarrend auf die Knie und bedeckten den Kopf mit den Händen, andere jammerten fauchend. Der Tuchträger starrte fassungslos die Ober-Echse an, während der Anatom nickte, als würde er sagen: „Seht ihr, ich habe es euch gesagt, aber ihr wolltet mir ja nicht glauben.“

„Auweia!“, flüsterte Karen Mihai ins Ohr. „Hier ist etwas ganz Fürchterliches passiert.“

Dieser nickte. „Und ich denke, dass es mit dem seltsamen Himmel und der Stimmung hier zu tun haben könnte.“

Es dauerte mehrere Minuten, bis sich die klagenden Echsen beruhigten. Der Tuchträger schaute Karen und Mihai an und knurrte etwas zur Ober-Echse. Diese zischelte zurück, worauf der Tuchträger zu den Menschen kam. Er wies auf die Sonne, die den Zenit nur wenig überschritten hatte, und zog am Himmel einen Bogen bis kurz vor dem westlichen Horizont. Mit der längsten Kralle seiner rechten Hand zeichnete er mit kurzen, stilisierten Strichen das Dorf auf der Landzunge, einen der Flüsse und mitten darauf ein Kanu mit zwei Echsen in den Sand vor ihren Füßen. Danach wies er auf das Kanu, das Dorf, erneut auf den westlichen Horizont und sah das Pärchen fragend an.

Karen blickte Mihai an. „Heißt das, dass wir heute Abend Besuch bekommen?“

„Sieht ganz so aus. Zwei besondere Echsen. Ob die Ober-Echse hier doch nicht der Häuptling ist?“

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. „Ich denke, wir werden es sehen.“

Die Chroniken der Reisenden. Staub-Kristall

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