Читать книгу Die Chroniken der Reisenden. Staub-Kristall - Carsten Zehm - Страница 8
III. GEFANGEN – ERSTER TAG (DONNERSTAG?)
ОглавлениеDie Sonne ging über einer kleinen Lichtung am steilen Hang eines einsam stehenden Berges auf. Gelblich-grünes, hüfthohes Gras wogte im Morgenwind, am allmählich blauer werdenden Himmel verblassten die letzten Sterne. Bäume mit fast schwarzer Rinde und karmesinroten, 15 bis 20 Zentimeter langen, hängenden Nadeln umstanden die Lichtung in einem dichten Wald. Aus dem Unterholz tönte das vielfältige Summen einer reichen Insektenwelt und die Waldlichtung hallte wieder von den fremdartigen Gesängen der hiesigen Vögel.
Weit über Karen zog ein riesiger Vogel seine Kreise am Himmel, die gerade über den Bäumen aufsteigende Morgensonne warf ein rotes Licht auf ihn. Karen machte ein paar zögernde Schritte auf die Wiese. Staunend wie ein kleines Kind ließ sie das fremdartige, weiche Gras durch ihre Finger gleiten, atmete tief die aromatische, warme Luft ein und schien vergessen zu haben, weswegen sie hier war. Wo immer dieses Hier auch sein mochte …
Plötzlich sah sie Mihai vor einer Grotte in der an dieser Stelle steilen Wand des Berges im Gras liegen und mit einem Schreckensschrei sprang sie zu ihm, fiel auf die Knie und zog seinen Kopf auf ihren Schoß. „Mihai! Oh mein Gott, Mihai! Was ist mit dir?“
„Hm?“, schlaftrunken öffnete er die Augen. Seine Hände griffen nach ihren Haaren. Unsicher blickte er sich um, schien im ersten Moment nicht zu wissen, wo er war. Aber dann zog ein Ausdruck des Erinnerns über sein Gesicht. „Karen? Da bist du ja endlich.“
Überglücklich bedeckte sie sein Gesicht mit Küssen, die Anspannung der letzten halben Stunde löste sich in einem Bach von Tränen, die auf sein Gesicht tropften und in einem Schwall von Worten, die aus ihr hervorsprudelten: „Wie konntest du nur in diese Höhle gehen? Was hast du dir dabei gedacht? Bist du verletzt? Als ich dich in der Wand verschwinden sah, bin ich fast durchgedreht. Wo sind wir hier? Das Licht ist irgendwie komisch, findest du nicht auch? Und diese Bäume mit den riesigen Nadeln und die Farbe von dem Gras hab ich auch noch nie gesehen …“ Plötzlich stockte sie, sah ihn an und fragte dann in einem deutlich frostigen Ton: „Was heißt überhaupt: ‚Da bist du ja endlich?‘“
Mihai hatte sich aufgerappelt, rieb sich die Augen, gähnte gelassen und blickte in die Runde. „Na, ich habe Stunden auf dich gewartet. Warum hat das so lange gedauert, bis du über die Schwelle gekommen bist?“
Karen setzte sich steif auf, als hätte sie den Lieblingsbesen ihrer Schwiegermutter anstelle ihrer Wirbelsäule. „Stunden? Du machst wohl Witze? Ich bin durch dieses verdammte Bergwerk hinter dir her gekrochen, habe mir dabei meinen Ellenbogen aufgeschlagen, weil du ohne ein Wort los musstest. Ich finde dich wie im Vollrausch vor einer Steinwand stehen, mit dem Arm im Felsen, du faselst etwas von ‚gerufen‘, machst dann einen Schritt und verschwindest in einer Wand …“
„In der Schwelle.“
„Scheißegal, ob …“, sie stockte. „In der ‚Schwelle‘?“
„Diese Wand ist eine Schwelle, eine Art Tor hierher. Und sie hat mich gerufen. Ich musste einfach durch.“
„Verflucht, Mihai. Du verziehst dich ohne ein Wort und wir sind erst sechzehn Tage verheiratet. Wie soll das in zehn Jahren werden?“
„Karen, verstehst du nicht? Diese Felsenwand, die Schwelle, wollte, dass ich hierher komme!“
„Hörst du dich eigentlich selber reden? Eine Wand will, dass du durch sie hindurch gehst! Mal ehrlich, was hast du geschluckt vorher?“
„Du weißt, dass ich seit zwei Jahren nichts mehr nehme. Karen, hör mir doch mal zu …“
Karen kreischte hysterisch auf und trommelte mit ihren Fäusten auf Mihais Brust. „NEIN! Ich will zurück mit dir. Und! Zwar! Jetzt! Gleich!“
Mihai packte sie an der Schulter und zog sie sanft, aber bestimmt an sich. „Ruhig, mein Schatz. Ganz ruhig!“
Karen begann zu schluchzen, schnaubte. „Wir sind durch einen Felsen gegangen … durch einen Felsen!“ Und nach einer Weile: „Eine Schwelle? Meinst du so ein Tor wie das Stargate aus der Science-Fiction-Serie?“
„Nein. Das hier ist anders. Ich kann es nicht besser erklären. Sie hat mich gerufen, sie wollte, dass ich durchgehe. Sie hat es mir erlaubt. Ich hatte das Gefühl, dass sie das nicht jedem erlauben würde.“
„Aber mir auch.“ Karen schniefte und sah auf.
„Ja, weil ich dich brauche.“
Sie sah sich um. „Ich begreife das nicht. Wo sind wir hier? Auf einem anderen Planeten?“ Ein Schauer lief ihr bei den Worten über ihren Rücken.
„Nein. Wir sind auf jeden Fall auf der Erde. Als ich vor ein paar Stunden hier ankam …“
„Mihai“, unterbrach sie ihn. „Du bist nur wenige Minuten vor mir über die Schwelle gegangen!“
„Ich kann es mir auch nicht erklären, aber ich bin vor Stunden hier angekommen, es muss sechs oder sieben Stunden vor dir gewesen sein. Bist du sicher, dass du gleich hinter mir in den Stollen gekrochen bist?“
Karen wurde wieder wütend. „Du bist wie ein liebeskranker Teenager der Stimme dieser Wand gefolgt, um es mal so auszudrücken. Und ich bin dir sofort hinterher. Ich habe kein Nickerchen gemacht, kein Abendbrot gegessen und kein weiteres Bad genommen, obwohl ich all das im Moment recht gut vertragen könnte.“
„Schon gut, reg dich bitte nicht wieder auf.“
Sie atmete tief durch. „Okay, ich bin ganz ruhig. Lass uns zurückgehen, mir ist es unheimlich hier.“
Wieder blickte sie umher. Karen konnte ein Gefühl der Unruhe nicht unterdrücken, obwohl der sie umgebende Wald alles andere als bedrohlich wirkte. Eher im Gegenteil, die Bäume und Sträucher strahlten Ruhe und Frieden aus, etwas, was so gar nicht zu dem Gefühl passte, das mehr und mehr von Karen Besitz ergriff. Dies war wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, so dachte sie, dass sie eben eine Reise unternommen hatten, die sie nur aus dem Fernsehen kannte.
Eine Art Flug durch die dritte Dimension oder so ein ähnlicher Quatsch.
„Wir können nicht zurück“, sagte Mihai etwas zerknirscht. „Ich habe es probiert, als du nicht kamst. Der Fels ist steinhart – die Tür ist zu.“
„Vielleicht habe ich diese Wand blockiert. Möglicherweise ist sie jetzt wieder offen. Komm, wir probieren es noch einmal.“
„Karen …“
„Mihai, bitte. Mir ist es unheimlich hier. Diese Bäume, das Gras, und irgendwie ist das Licht so … so … grau. Komm schon, wir probieren es. Ich will zurück zu unserer Lichtung. Bitte!“
Karen hatte Recht. Auf den ersten Blick schien die jetzt voll aufgegangene Sonne dasselbe Licht auszustrahlen wie zu Hause. Wenn man aber genauer darauf achtete, konnte man etwas wie einen leichten Schleier vor der Sonne sehen. Eine Art graues Licht lag über der Landschaft, das aber eindeutig nicht von der Sonne zu kommen schien. Mihai war es bisher noch nicht aufgefallen.
Und Karen hatte Unrecht. Sie kamen nicht über die Schwelle zurück. Als sie eine Viertelstunde später deprimiert die geräumige Grotte verließen, in der sich eine ähnliche Nebel-Stein-Wand wie in der alten Silbermine im Erzgebirge befand, ließen beide die Köpfe hängen. Der Rückweg war versperrt.
„Was jetzt?“, flüsterte Karen. „Und wo sind wir hier?“
Mihai sah sich um, dann blieb sein Blick am fast wolkenlosen Himmel hängen. „Zumindest auf der Erde.“
Und als Karen ihn fragend ansah, zeigte er nach Westen, auf eine Stelle kurz über den Bäumen. Dort war der Mond, ihr Mond, den sie von zu Hause aus kannten, klein, blass und schmal verschwand er zwischen den Zweigen. Der Horizont war von ihrer Position auf der Lichtung aus nicht zu erkennen. Um sich einen Überblick zu verschaffen, müssten sie diesen Platz verlassen und sich zu deutlich höher gelegenen Bereichen des Berges begeben.
„Gut.“ Karen richtete sich auf. „Dann lass uns Hilfe suchen. Es muss irgendwo Menschen geben, wir sind hier nicht in einer Wüste. Und dann gibt es unter Garantie auch eine deutsche Botschaft hier, wo immer wir auch sind. Ja, und wenn wir dort sind, dann sollen sich die Wissenschaftler um dieses Ding, diese … durchlässige Nebel-Stein-Wand, kümmern.“
Tief holte sie Atem, sah sich dabei um und wies dann auf eine Stelle am Waldrand, etwas seitwärts von ihnen. „Dort vorn scheint ein Pfad zu sein. Den nehmen wir!“
Nicht dass sie eine große Auswahl gehabt hätten, der von ihr gemeinte Pfad war der einzige, der auf die Lichtung führte.
Mihai folgte ihr schulterzuckend. „Die Wissenschaftler?“, murmelte er. „Na, ob das so eine gute Idee ist?“
Zwei Stunden später rasteten sie verschwitzt, erschöpft, zerkratzt und sehr verunsichert am Ufer eines kleinen, klaren Baches. Weit überhängende Zweige beschatteten eine kleine Wiese und dankbar nutzten die Wanderer diesen natürlichen Sonnenschutz. Beide hatten in langen Zügen getrunken, sich die Gesichter und die Oberkörper gewaschen und lagen jetzt halbnackt auf dem Rücken im weichen, gelblich-grünen Gras. Verspielte Sonnenflecken, die sich durch das dichte Baumdach stahlen, tanzten auf ihren Körpern. Karen war mit der Bemerkung „Wenn ich daran denke, dass unser komplettes Abendbrot im Erzgebirge herumliegt und von irgendwelchen Vögeln gefressen wird …“ eingeschlafen.
In den letzten beiden Stunden hatten sie sich durch den dichten Wald gekämpft. Der von Karen entdeckte Pfad war wirklich nicht mehr als das, ein zugewachsener, kleiner, gewundener Pfad, der stetig bergauf führte. Anfangs hatten sie überlegt, ob bergab vielleicht günstiger wäre. Mihai meinte, dass ihre Chancen besser stünden, unten auf Straßen und Siedlungen zu treffen. Karen dagegen glaubte, dass es anstelle blinden Herumwanderns unten im Urwald sicherer sei, sich von der Bergspitze erst einmal einen Überblick zu verschaffen.
„Vielleicht können wir von dort oben schon eine Stadt oder zumindest ein Dorf oder eine Straße sehen.“
Sie einigten sich auf Karens Vorschlag – das heißt, Mihai gab nach. Vielleicht war ein Rundblick vom Gipfel ja wirklich besser. Und der Aufstieg war auch nicht allzu schwer.
Mit der steigenden Sonne stieg auch die Temperatur. Der Wind ließ nach, verebbte zu einem lauen Lüftchen, welches kaum mehr die Zweige bewegte, und unter den Bäumen breitete sich eine drückende Schwüle aus, so dass die beiden beschlossen, für einige Stunden Rast zu machen. Karen war müde, war es doch früher Abend gewesen, als sie im Erzgebirge über die Schwelle gegangen waren.
Gott sei Dank waren sie nicht irgendwo in Skandinavien angekommen, so dass sie sich wenigstens nicht auch noch Sorgen wegen der Temperatur machen mussten. Beide waren aufgrund des überhasteten Aufbruches nur mit Jeans, Shirt und Trecking-Schuhen bekleidet. Mihai tippte auf das südamerikanische Hochland, während Karen eher Asien vermutete. Keiner von beiden konnte jedoch erklären, wie dieses seltsame Tor funktionierte. Oder warum Mihai sich so intensiv gerufen gefühlt hatte, während Karen dieses Gefühl völlig fehlte.
Etwas, das sie beide neben der ungewöhnlichen Farbe des Grases und der Nadeln an den Bäumen sehr stark beunruhigte, war dieses Licht. Es schien ein seltsamer Schleier vor der Sonne zu liegen, als wenn irgendetwas die Sonnenstrahlen abschirmen würde, etwas wie eine ganz feine, nicht weiter wahrnehmbare Ascheschicht in der Luft. Die Vermutung, dass sie sich eventuell in der Nähe eines vor kurzem ausgebrochenen Vulkans befinden könnten, lag nahe. Aber weder Karen noch Mihai konnten sich erinnern, irgendetwas über einen größeren Ausbruch in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört zu haben. Nun hatte das aber auch nicht besonders viel zu sagen, da sie sich seit Tagen nur noch mit den notdürftigsten Informationen versorgten. Denn eine Prämisse setzten beide im Urlaub, egal wo sie diesen durchführten: Der ganze Müll in den Zeitungen sollte ihnen ihre Urlaubslaune nicht verderben, also wurden diese so wenig wie möglich gelesen.
Hunger war eine weitere Schwierigkeit. Nun wühlte er natürlich noch nicht schlimm in ihren Eingeweiden, bisher war ja nur das Abendbrot (hier also das Frühstück?) ausgefallen, aber etwas nagte da schon irgendwo im Inneren. Der Hunger konnte also ein Problem werden. Viel Essbares hatten sie bislang nicht gefunden. Es gab schon eine Menge Früchte hier im Wald, die Schwierigkeit war aber, dass weder Mihai noch Karen auch nur eine einzige der hier vorkommenden Pflanzen kannten. Wegen der relativ hohen Temperatur einigten sie sich, dass sie wohl irgendwo in den Tropen oder Subtropen gelandet waren. Aber sie konnten keine ihnen bekannte Pflanzenart entdecken. Der Wald wurde durch diese Kiefern mit der schwarzen Rinde und den ungewöhnlich langen, roten Nadeln beherrscht. Im kräftig entwickelten Buschwerk gab es verschiedene Nadel- und Laubgehölze. Wollten Karen und Mihai in ihrer Ernährung nicht auf kleine, harzige Kiefernzapfen umsteigen, mussten sie sich früher oder später an eine der unbekannten Beerenarten wagen.
Sie hatten eine kleine Echse beobachtet, die sie auch nicht kannten, fast ganz rot mit blauen Streifen auf dem schmalen Rücken und einem doppelten Zackenkamm vom Kopf bis zum langen, beweglichen Schwanz. An einer der größeren, blauen Beeren tat sie sich gütlich, benagte sie und ließ nur den kleinen Kern übrig. Nach einem kurzen Streit darüber, wer denn nun als erster ganz vorsichtig und ganz wenig von der Beere probieren sollte, wobei jeder dem anderen dies ersparen wollte, kürzte Karen den Disput kurzerhand ab, indem sie in eine der pfirsichgroßen Beeren hinein biss.
In der folgenden Stunde lauschte sie aufmerksam in sich hinein. Sollte dort ein Magenkrampf im Anmarsch sein? War das eben eine normale Blähung oder bereitete sich ein Durchfall vor? Kündigte sich hier Schwindel oder Übelkeit an? Nichts. Zur Rast am Bach aßen alle beide vier dieser großen, saftigen, leicht herb schmeckenden Beeren und spuckten die kleinen Kerne in das Wasser.
Kurz bevor er vor Müdigkeit einschlief, rappelte sich Mihai auf und setzte sich an einen kräftigen Baum. Sollte Karen schlafen, er hatte ja schon ein paar Stunden Schlaf gehabt. Und da sie nicht einmal ahnten, wo sie sich nun eigentlich befanden, war es besser, wenn einer von ihnen wach blieb. Wer wusste schon, was für Tiere sich hier in diesem Urwald herumtrieben?
Mihai bereute jetzt, dass er sich nie sonderlich für die Tier- und Pflanzenwelt interessiert hatte. Gut, er sah sich im Fernsehen gerne Dokumentationen über interessante Tiere an: Löwen, Elefanten, Delphine, Wale, Haie – nichts, was ihm hier wirklich weiterhelfen würde. Selbst auf seinen Bergtouren durch die Alpen war er in der Artenkenntnis nie über Latschenkiefern, Bergdohlen, Murmeltiere und Gämsen hinausgekommen. Und als Deutsch- und Mathematiklehrer in einer Grundschule waren diese Kenntnisse auch nicht gerade bitter nötig.
Trotzdem, es sah ganz so aus, als ob sie sich hier einige Tage durch diesen seltsamen Wald kämpfen mussten, bevor sie auf Menschen trafen. Also brauchten sie irgendetwas, das sie ruhigen Gewissens essen konnten. Mihai hatte, ganz gegen seine Überzeugung, sogar ein kleines Vogelnest geplündert, aber alle Eier, die sie ausschlürfen wollten, erwiesen sich als faul.
Von der Tierwelt selber hatten sie bis auf die sehr abwechslungsreiche Geräuschkulisse bisher noch nicht viel mitbekommen. Einige ihnen unbekannte, bunte Vögel, kleinere, ebenfalls unbekannte Echsen, eine Menge, bisher aber nicht stechende, Insekten, damit war die Liste bereits vollständig.
Seltsam erschien ihm sowohl die völlige Abwesenheit irgendwelcher Blutsauger als auch das Nichtvorhandensein von Ameisen. Selbst mit seinem spärlichen, zusammengekratzten, biologischen Restwissen wusste er, dass es in den Tropen von blutsaugenden Insekten und Ameisen nur so wimmeln musste. Aber hier? Nichts! Pflanzen- und Tierwelt erschienen ihm äußerst mannigfaltig. Da waren verschiedenste Gräser und Büsche, wenn auch momentan fast nur eine Baumart – gut, das gab es wohl woanders auch. Ähnlich reichhaltig kam ihm die Tierwelt vor. Größere Tiere hatten sie zwar noch nicht bemerkt, abgesehen von dem einen großen Vogel, der seit den frühen Morgenstunden den Berg umkreiste, ohne auch nur einmal mit den Schwingen zu schlagen. Aber kleine, schreiend bunte Vögel und Echsen gab es in schier unglaublicher Zahl. Der Wald hallte wider von einer außerordentlichen Vielzahl von Vogelstimmen. Und gerade hier am Bach flogen Schmetterlinge und Insekten umher, die jedes Naturforscherherz zum Überschlag gebracht hätten, vermutete Mihai. Er strich das weiche Gras zur Seite und entdeckte eine Menge kleiner, flinker Krabbelwesen auf der kräftig schwarzen Erde. Schnell schnappte er sich eines von ihnen und betrachtete das Insekt genauer. Metallisch schimmerte der grünliche Panzer unter durchsichtigen Flügeln. Mit vier Beinchen versuchte es von seiner Hand zu krabbeln, gab dann aber auf, als der Mensch seine Hand immer wieder so drehte, dass das Insekt oben blieb. Es pumpte kurz, flog dann summend ein paar Meter zur Seite und ließ sich wieder auf einem Halm nieder, den es geschickt hinab kletterte.
Mihai bog das Gras erneut zur Seite. So viele kleine Krabbler, und nicht einer hat Appetit auf mich. Dann stutzte er. Moment mal, vier Beine? Vier?
Selbst mit seinen rudimentären biologischen Kenntnissen wusste er eines hundertprozentig genau: Insekten hatten sechs Beine! Immer und überall! Spinnen hatten acht Beine, Säugetiere vier und Insekten sechs. Wahllos griff er sich mehrere verschiedene Insekten vom Boden auf. Ein kleiner roter Käfer mit blauen Punkten, da war der Kopf, der Hinterleib und das Mittelteil – mit vier Beinen. Ein Tierchen, ähnlich einer Stubenfliege mit Stummelflügeln – vier Beine. Zwei, wahrscheinlich in Paarung verbundene, gelbliche Käfer – vier Beine! Der Schmetterling neben ihm auf der roten Doldenblüte – vier Beine. Er konnte es nicht überprüfen, aber wenn er es geschafft hätte, eine der schnell fliegenden Libellen zu fangen, dann würde er wahrscheinlich auch dort vier Beine entdecken.
Wieso haben die Insekten nur vier Beine?
Er sah auf, betrachtete den unmerklich verschleierten Himmel, die rötlichen Kiefernnadeln und die vierbeinigen Insekten, und da kam ihm ein Gedanke, der ihm eiskalte Schauer des Schreckens über den Rücken jagte.
Mihai sprang auf, hockte sich neben Karen hin und schüttelte heftig ihre Schultern. „Karen! Karen! Wach auf! Komm schnell!“
„Was’n los?“, murmelte sie schlaftrunken.
„Karen, steh auf, wir müssen so schnell wie möglich hier weg!“ Er warf ihr das T-Shirt über das Gesicht und zog sich seines an. „Zieh dich an, schnell. Wir müssen verschwinden. Wir sind wahrscheinlich in einem Testgelände, vielleicht radioaktiv verseucht oder so.“
„Was?“ Karen konnte so schnell keinen klaren Gedanken fassen. „Weg? Testgelände? Wie jetzt?“
Er schilderte seine Beobachtung bei den Insekten, zeigte ihr zur Bestätigung dessen einen wahllos gefangenen Käfer, zog den Bogen zu den rötlichen Kiefernnadeln und dem unmerklich verschleierten Himmel und endete mit den Worten: „Ich denke, dass das hier alles Mutationen sind, vielleicht ausgelöst durch Radioaktivität oder eine Chemikalie. Das Ganze kann ein riesengroßes Testgelände irgendeines Staates, einer Armee oder eines Konzerns sein. Du weißt, was das alles für Verbrecher sind …“
Karen hatte sich das T-Shirt übergezogen und sah sich unsicher um. „Meinst du wirklich?“
„Karen, es gibt keine vierbeinigen Insekten auf der Erde!“
„Und wenn wir nun doch nicht auf der Erde sind?“
„Du hast den Mond gesehen. Das war eindeutig unser Mond! Die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwo im Weltall noch einmal einen Mond gibt, der genauso aussieht wie unser Mond, dass der um einen Planeten mit für uns atembarer Luft kreist, der noch dazu genau so groß wie die Erde ist und das Ganze bei einer Sonne, die genau so aussieht wie unsere … Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr klein.“
Karen nickte ängstlich. „Verflucht, Mihai, in was für eine Scheiße sind wir da nur rein geraten?“
Rasch folgten beide dem Pfad bergaufwärts und etwa eine Stunde später erreichten sie heftig keuchend das Gipfelplateau. Die verschwitzten T-Shirts klebten an der Haut und nasse Haarsträhnen hingen in die Gesichter der beiden Gestrandeten.
Hier oben hatten sie das erste Mal einen weiten Blick über die Landschaft. Und der war nicht sehr ermutigend. Im Norden und in Richtung Sonnenaufgang schien sich derselbe Wald, durch den sie den ganzen Tag gewandert waren, endlos in leichten Wellen bis zum Horizont hin zu ziehen, kraftvoll, lebendig und rotbraun. Da sie selber von der Ostseite des Berges aus aufgestiegen waren, hatten sie diesen Ausblick auf ihrer Seite bereits mehrfach in Ausschnitten durch die Bäume hindurch erahnen können, jedoch nicht in dieser gewaltigen Größe und Geschlossenheit.
„Das geht ja endlos so weiter“, staunte Mihai fassungslos.
Fast genau aus Richtung Norden kam ein großer Fluss, der weit westlich an ihrem einsam stehenden Berg vorbeiströmte. Im Südwesten vereinigte er sich mit einem zweiten, etwa gleich großen Fluss, welcher in einem weiten Bogen aus dem Süden kam. Der neu entstandene, gewaltige Strom floss in majestätischen Kurven fast genau Richtung Westen. Dort, ganz weit hinten, verlor er sich vor einer großen, glitzernden Wasserfläche in einem unüberschaubaren Delta. Hinter dem aus dem Norden kommenden Fluss breitete sich eine Grassteppe aus, an die sich wiederum Wald anschloss, in dem sich der einzige andere Berg erhob, den sie rundherum sehen konnten. Eigentlich war Berg nicht die richtige Bezeichnung, es schien eher eine kolossale Felsensäule zu sein, ein gigantischer Zeigefinger aus Stein, dessen Mittelteil bedeutend schmaler als Basis und Gipfel aussah.
Im Süden stieg das Land allmählich an, wurde differenzierter mit bunteren Wäldern und Seen, bis sich ganz weit am Horizont kaum erkennbar und blass die Silhouette eines mächtigen Gebirges abzeichnete.
„Was ist das hier nur? Mihai, was soll das? Wir sind hier in keinem Hochland, weder in Südamerika noch in Asien. Und das ist auch kein Testgelände, nicht so riesig groß! Solche Berge wie den dort“, Karen wies auf den steinernen Finger im Westen, „gibt es in Nordamerika, nur dass du dort Dutzende von der Sorte findest, nicht nur einen einzelnen. Der Fluss da ist so groß wie der Amazonas. Aber im südamerikanischen Regenwald gibt es keine Kiefern mit roten Nadeln …“
Mihai hatte aufgeregt abgewunken und war an den Rand des Plateaus getreten, ließ sich dann schnell auf alle Viere nieder und bedeutete Karen mit einer Geste, dasselbe zu tun und leise zu ihm zu kommen. Vorsichtig schob sie sich neben ihren Mann. Dummerweise legte sie sich dabei unbequem auf einen sperrigen Ast, wagte aber nicht mehr sich zu bewegen, denn sie folgte mit den Augen Mihais Hand, die auf eine Lichtung etwas unterhalb des Gipfelplateaus wies.
Hinter einem einzelnen Busch auf der kleinen Lichtung, etwa zwanzig Meter unter ihnen, konnte sie die Umrisse von drei Menschen wahrnehmen. Eine kurz hinter dem Gebüsch auftauchende, rotbraune Schulter mit dazugehörigem gleichfarbigen Arm, die gewaltigen Stahlhelme auf den Köpfen, die sie im Umriss erkennen konnten, und ein Krächzen wie aus einem schlechten Funkgerät verleiteten Mihai zu der geflüsterten Bemerkung: „Soldaten!“
„Dann lass uns zu ihnen runtergehen!“
„Warte bitte noch.“ Gedanken an irgendwelche ominösen Rebellengruppen oder extremistischen Terroristen, die westliche Touristen nur zu gerne kidnappten, um ihre politischen Forderungen durchzusetzen oder mit dem erpressten Lösegeld ihre dubiosen Kämpfe zu finanzieren, spukten ihm durch den Kopf und waren wohl auch Karen nicht ganz fremd, wie er ihrem unsicheren Blick entnehmen konnte. Jedenfalls widersprach sie nicht und blickte mit ihm weiterhin auf die Lichtung, bestrebt noch mehr Einzelheiten durch das Gebüsch zu erkennen. Metallisches Klirren drang herauf, das Geräusch, das Mihai vorhin aufmerksam gemacht hatte. Die Männer hantierten mit Stöcken oder Gewehren und traten dann hinter dem Gebüsch hervor.
Im selben Moment blieb die Zeit für Karen und Mihai stehen.
Das Erste, das ihnen auffiel und woran sie erkannten, dass das dort unten keine Menschen waren, war der kräftige Schwanz, der sich vom Hinterleib der aufrecht gehenden Echsen bis auf den Boden erstreckte. Ein doppelter Zackenkamm zog sich von seiner Spitze über den Rücken bis zum Kopf der Reptilien. Der ganze Körper war von trockenen, rotbraunen Schuppen bedeckt. Soweit die beiden Beobachter das auf die Entfernung sehen konnten, hatten die Wesen drei Zehen, lange, kräftige, mit scharfen Krallen bewehrte Zehen, die aus einem kurzen Fuß hervorwuchsen. Zwei schlanke, muskulöse Beine, ein schmaler Unterkörper und ein breiter Brustkorb mit langen, kräftigen Armen vervollständigten das Bild … fast.
Vielleicht hätten Karen und Mihai noch immer an das südamerikanische Hochland oder ein radioaktiv verseuchtes Testgelände glauben wollen, wären diese drei Reptilien nicht bewaffnet gewesen. In breiten, vernieteten Ledergürteln, die kreuzweise über der Brust hingen, steckten vor den kräftig entwickelten Muskeln lange und breite Messer, auf dem Rücken hing ein kurzer Bogen, am rechten Oberschenkel war der dazugehörige Köcher mit Pfeilen befestigt und in ihren Krallenhänden trugen sie lange Stöcke, wohl Speere. Jedes der drei weit über zwei Meter großen Tiere – waren es überhaupt Tiere? – hatte außerdem einen mit Flüssigkeit gefüllten Schlauch über der Schulter hängen und einen kleineren, womit auch immer gefüllten Beutel an einem Ledergurt um die schmalen Hüften.
Karen öffnete den Mund zu einem Schrei des Entsetzens, doch Mihai presste ihr schnell seine Hand auf den Mund, so dass sie nur ein hilfloses, ersticktes Gurgeln von sich gab.
Die drei Wesen unten auf der Lichtung blieben stehen und beratschlagten. Das gab den beiden Menschen die Möglichkeit sich die Gesichter der Echsen anzusehen. Der große Kopf, den sie kurz zuvor noch für den Umriss eines Stahlhelmes gehalten hatten, wurde von einer für Reptilien relativ hohen Stirn dominiert, die aber nicht so hoch und ausgeprägt war wie die menschliche. Darunter blitzten zwei faszinierende Reptilienaugen mit senkrechter, graugrüner Pupille.
Karen und Mihai beobachteten später, dass zwei paar Lider über diese Augen gelegt werden konnten. Das erste Paar bestand aus dünnen Häutchen, direkt auf dem Augapfel aufliegend. Von rechts und links kommend bedeckten sie mit ihrem regelmäßigen und schnellen Schlag das Auge mit einem Flüssigkeitsfilm. Hornig und mit Schuppen als Schutz gegen Verletzungen wölbte sich bei Bedarf das zweite Paar Augenlider von unten und oben über den Augapfel. Unter den großen, ausdrucksvollen Augen signalisierte ein kaum wahrnehmbares Atemloch die Nase.
Dafür war der Mund – das Maul – deutlich ausgeprägt und präsentierte sich fast lippenlos mit einer Reihe feiner, kleiner, weißer und augenscheinlich sehr scharfer Zähne. Es war an den Mundwinkeln – Maulwinkeln? – leicht nach oben gezogen, so dass es aussah, als grinsten die Reptilien beständig. Das Kinn fehlte völlig und die Haut führte faltig von der Unterlippe zum Hals.
Karen nahm vorsichtig Mihais Hand von ihrem Mund und flüsterte: „Was ist denn das jetzt wieder?“
Mihai blickte Karen kurz an und zuckte dann wort- und ratlos mit den Schultern.
Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Lichtung unter ihnen zuwandten, hatte sich die Szene dort unerwartet verändert. Aus dem Wald war eine größere Gruppe von etwa zwanzig weiteren Reptilien getreten. Während die ersten drei für die beiden Menschen noch alle fast gleich aussahen, waren nun deutliche Unterschiede zu erkennen. Bei einigen konnten sie verschiedenfarbige Symbole auf den Schultern erkennen, die Größe variierte, die Bewaffnung und Ausrüstung. Eines der Reptilien hatte sich eine Art rotes Tuch um die Stirn gebunden. Sie schienen sich zu unterhalten, ein Schnarren und Krächzen drang herauf, Töne, die sie eben noch für die Geräusche eines schlechten Funkgerätes gehalten hatten.
Mihai tippte Karen auf die Schulter, legte den Zeigefinger vor den Mund und wies dann nach hinten. Geordneter, leiser Rückzug! Karen nickte, erhob sich auf Knie und Hände und begann leise rückwärts zu kriechen, ohne den Blick von der Versammlung der Echsen unter ihr zu nehmen. Dabei drückte sie mit dem linken Knie den Ast, auf dem sie die ganze Zeit gelegen hatte, nach unten. Dadurch schnellte das vordere Ende heftig nach oben und schlug ihr hart gegen die Lippen.
„Autsch!“, schrie sie auf.
Unten auf der Wiese schossen knapp zwei Dutzend Reptilienköpfe zu ihnen hoch und dann erstarb dort für Sekunden jede Bewegung. Karen erstarrte und blickte, für alle Wesen auf der Lichtung sichtbar, in die funkelnden Echsenaugen.
„O-Oh!“
Die Echse mit dem Tuch um den Kopf krächzte etwas und wies mit ihrer Klaue in Karens Richtung. Karen schoss herum und rannte los, Mihai hinter ihr her.
„Wohin?“, keuchte er.
„Weg!“
Sie zögerten kurz, auf welchem Weg sie das Plateau verlassen sollten, da mehrere Pfade herunter führten. Dann wählten beide instinktiv denselben Weg, den sie gekommen waren.
Es dauerte nicht länger als ein oder zwei Minuten, bis sie rechts und links große huschende Schatten im Halbdunkel des Waldes wahrnahmen. Die Echsen hatten sie eingeholt. Dann ging alles sehr schnell und unspektakulär. Rechts von ihnen brachen zwei der Echsen aus dem dichten Gebüsch hervor, stürzten sich auf die Menschen, warfen sie zu Boden und pressten sie mit schmerzhaften Griffen ihrer Hände und Füße nach unten. Mihai schloss die Augen, in Erwartung des Bisses in die Kehle, der jetzt unweigerlich kommen musste. Aber da kam nichts. Auch Karen schloss die Augen, allerdings hauptsächlich des Geruches wegen, der dem geöffneten Maul der Echse über ihr entströmte.
Die Menschen wurden grob auf die Füße gerissen und sehr schnell zurück zum Plateau des Berges geschleift, rechts und links derb am Oberarm gehalten, vor und hinter ihnen Reptilien. Dort angekommen hatte sich schon ein Teil ihrer Verfolger angefunden. Als Karen und Mihai mit ihrer kleinen Eskorte stehen blieben, stürzte einer der Angreifer auf Karen zu und schnarrte etwas, sichtlich erregt.
Karen starrte ihn angstvoll an. „Mihai, was will der?“
„Keine Ahnung.“
Die Echse schoss herum. Mihai konnte nicht umhin, die Kraft, Eleganz und Schnelligkeit der Bewegung dieser fremdartigen Wesen zu bewundern. Doch schon wurde er angeknurrt und, als er nicht reagierte, schmerzhaft von einer Krallenhand ins Gesicht geschlagen. Seine Lippe platzte sofort auf.
„Lass ihn in Ruhe!“ Für ihren wütenden Aufschrei erntete Karen ebenfalls einen derben Schlag ins Gesicht. Ihre Nase begann zu bluten.
Jetzt bäumte sich Mihai erbost auf und schrie den Schläger an. Dieser sprang auf ihn zu, rammte dem zurückzuckenden Mihai seine geballten Krallen in den Bauch, so dass diesem sämtliche Luft aus der Lunge getrieben wurde und er sich nach vorn krümmte, so weit es der unerbittliche Griff seiner Häscher zuließ. Blitzartig hatte er ein scharfes Messer an der Kehle und wurde damit wieder nach oben gezwungen, obwohl er immer noch keuchend versuchte gegen den Widerstand seiner Lungen Luft zu holen. Er spürte, wie die Spitze der Waffe in seine Haut eindrang und das Blut auch hier zu fließen begann.
Plötzlich war ein scharfes Zischen zu hören. Die Echse mit dem Tuch um den Kopf trat mit einigen anderen Artgenossen aus dem Wald und kam auf die kleine Gruppe zu. Der Schläger mit seinem Messer an Mihais Kehle zischte unwillig und knarrte seinerseits den Tuchträger über die Schulter hinweg an, ohne das Messer von Mihais Kehle zu nehmen. Der Neuankömmling trat blitzartig hinter den Schläger, knarrte und zischte noch einmal und als der Schläger nicht reagierte, packte er ihn an den Schultern und warf die im Vergleich zu den Menschen bedeutend größere und schwerere Echse mühelos drei Meter durch die Luft. Der Schläger krachte staubaufwirbelnd zu Boden, sprang aber im selben Moment wieder auf die Beine, um sich auf den Tuchträger zu stürzen. Dieser hatte ihm aber betont gleichgültig den Rücken zugewandt und betrachtete Mihai und Karen von oben bis unten. Dann knarzte er etwas.
Der Schläger stutzte, wartete einen Moment und steckte dann seine Waffe wieder ein. So schnell, wie er aufgebracht gewesen war, so schnell schien er sich zur Verblüffung Mihais auch wieder beruhigt zu haben.
Der Tuchträger knurrte Mihai und Karen erneut an.
„Hört sich an wie eine Frage.“ Noch immer geschockt davon, dass er soeben das erste Mal in seinem Leben ein Messer an der Kehle gehabt hatte, presste Mihai die Worte schwer atmend zwischen seinen aufgeplatzten Lippen hervor.
Die Echse betrachtete die beiden Menschen eine Weile, stellte dann noch ein paar Fragen. Obwohl er wusste, dass es zwecklos war, versuchte Mihai auf Deutsch, Englisch und Rumänisch zu antworten, Karen auf Französisch und Russisch. Das Reptil schüttelte unwillig den Kopf. Danach drehte es sich um und beratschlagte mit seinen Artgenossen. Währenddessen wurden Mihai und Karen weiterhin von ihren vier Bewachern festgehalten. Von der Seite näherte sich eine Echse mit einer deutlichen ockerfarbenen Zeichnung auf der rechten Schulter, ein Komplex aus verschlungenen Linien, alten germanischen Runen nicht unähnlich. Sie starrte Mihai an, berührte vorsichtig dessen dunkelblonden Zopf, danach Karens lange, rote Locken. Neugierig strich sie Mihai über die Brust und drehte sich wieder zu Karen um.
„Untersteh dich!“ Wütend fauchte Karen das Reptil an.
Es unterstand sich nicht, sondern strich auch ihr vorsichtig über die Brust. Karen keuchte auf und versuchte sich so weit zurück zu ziehen, wie es die sie eisern festhaltenden Klauen der Echsen zuließen. Mit einer blitzschnellen Bewegung seiner messerscharfen Kralle schlitzte der ockerfarben Gezeichnete Karen unerwartet das T-Shirt von oben bis unten auf und betrachtete sichtlich erstaunt ihren entblößten Busen. Karen schrie und bäumte sich auf. Auch Mihai keuchte und kämpfte ergebnislos gegen die Umklammerung.
Der Tuchträger drehte sich herum und zischte etwas. Die neugierige Echse huschte einen Schritt zurück, knurrte eine Verteidigung und wies dann auf Karens Brust. Erstaunt schob der Tuchträger vorsichtig mit einer seiner schwarzen Krallen das zerfetzte Shirt auseinander, unbeachtet der verbalen Schimpfkanonade Karens und Mihais und der Trittattacke, die Karen gegen seine Beine startete. Danach zerschlitzte er auch Mihais Shirt und musterte dessen Brust.
Die anatomischen Unterschiede zwischen den beiden Menschen schienen die Echsen zu beunruhigen und lösten eine längere Diskussion aus. Die Echse mit den ockerfarbenen Symbolen auf der Schulter verwies dabei mehrfach auf Karens Brust und ihr langes, rotes Haar. Schließlich huschte sie um die beiden Menschen herum. Mit ihrer spitzen Kralle piekte sie zuerst Mihai in den Hintern, schnatterte und zischte, und nahm sich anschließend auch Karens Hinterteil auf diese Art vor. Da sprang Karen plötzlich, gehalten von den beiden Häschern rechts und links, einige Zentimeter hoch. Gekonnt beugte sie sich mit dem Oberkörper weit nach vorn und trat mit geschlossenen Beinen nach hinten aus, legte die ganze Wut dieser Demütigung in den Tritt. Sie traf die an ihrer Anatomie interessierte Echse vor die Brust. Diese taumelte einige Schritte nach hinten und landete ihrerseits auf dem Körperteil, in das sie kurz zuvor Karen gepiekt hatte, ihren Schwanz dabei vor Schreck senkrecht in die Höhe streckend.
„Das passiert allen, die mich ungefragt angrabschen!“ Dann zog sie jedoch in Erwartung der Schläge, die sie jetzt wieder erhalten würde, den Kopf ein.
Totenstille herrschte einen Moment auf dem Plateau, dann hörte sie ein melodisches Husten von der Echse, die hinter ihr auf der Erde saß. Karen und Mihai sahen sich an, die anderen Echsen fielen ein.
„Die lachen!“ Mihai flüsterte.
Karen entspannte sich etwas, weder waren sie tot noch wurde sie von Reptilien vergewaltigt, wie sie im ersten Moment gefürchtet hatte, als der „Anatom“ sich für ihren Busen zu interessieren begann.
Der Tuchträger trat wieder auf die beiden Menschen zu. Er machte eine Geste, die die gesamte Gruppe der Echsen umfasste, wies dann auf die beiden Menschen und deutete anschließend in Richtung Westen, dorthin, wo sich die beiden Flüsse zu dem gewaltigen Strom vereinten und sah Karen auffordernd an.
„Sie wollen, dass wir mitkommen.“
Mihai nickte. „Ich denke auch. Was tun wir?“
Karen zuckte verzweifelt mit den Schultern, sie entfernte sich nur ungern vom Berg mit der Schwelle. „Bleibt uns eine Wahl?“
Die Echse vor ihnen zischte fragend. Dann schlug sie sich mit der rechten Klaue kräftig in die Linke und schüttelte den Kopf.
Mihai nickte verstehend. „Wenn es dasselbe bedeutet wie bei uns, dann könnte es so viel wie ‚keine Gewalt‘ heißen.“
Karen blickte die Echse auffordernd an und rüttelte demonstrativ mit ihren Oberarmen an den sie noch immer fest umklammernden Klauen ihrer Bewacher. Der Tuchträger blickte ihr in die Augen, sah dann auf die Klauen seiner „Leute“, die die Arme von Mihai und Karen festhielten und zischte einen kurzen Befehl. Die Häscher zögerten einen Moment, knurrten dann unwillig und ließen die beiden Menschen frei.
Während Mihai sich als erstes die schmerzenden Oberarme rieb, verknotete Karen ihr Shirt vor der Brust.
„Damit eins klar ist“, sagte sie zu dem Tuchträger „Wenn ich mich ausziehen will, dann tu ich dies alleine! Dabei darf mir nicht einmal mein Mann helfen.“
Mihai machte eine sie alle umfassende Geste und deutete vage nach Westen, dazu nickte er fragend. Der Tuchträger verzog sein gewaltiges Maul grinsend, nickte ebenfalls und zeigte ziemlich genau auf die Stelle, an der sich die beiden Flüsse trafen. Er hockte sich vor die Menschen. Mit schnellen Strichen entstand zu ihren Füßen eine Zeichnung im Sand: Die Flüsse, eine Art Landzunge mit mehreren Hütten am Zusammenfluss der Ströme und eine Gruppe von dreibeinigen Strichmännchen zwischen den Häusern.
„Dreibeinige Strichmännchen?“, grübelte Mihai.
„Männer!“, schnaubte Karen verächtlich. „Das sollen unsere neuen Freunde sein. Das dritte Bein ist ihr Schwanz.“
Sie kniete sich neben die beiden, nahm ein Stöckchen und zeichnete eine Gruppe von dreibeinigen Strichmännchen in geringem Abstand vom Dorf. Der Tuchträger nickte und malte noch zwei zweibeinige Strichmännchen und einen Pfeil Richtung Dorf hinzu.
„Hm, das ist wirklich deutlich.“ Mihai nahm ihr den Stock aus der Hand, wies damit auf die Sonne, beschrieb einen weiten Bogen von Ost nach West und malte einen Strich neben die kleine Strichmännchengruppe. Danach zog er wieder einen Bogen am Himmel und setzte den zweiten Strich daneben, der dritte Bogen und der dritte Strich, der vierte Bogen …
Da hielt der Tuchträger seine Hand fest, nickte zum Zeichen des Verstehens und wischte einen Strich wieder weg.
„Zwei Tage?“, rief Mihai erstaunt, erhob sich und blickte in die Ferne zu den sich vereinigenden Flüssen. „Nur zwei Tage? Wenn die nicht gerade einen Jeep haben, dann weiß ich nicht wie unsere neuen Freunde das schaffen wollen. Zu Fuß auf keinen Fall.“
Auch der Tuchträger erhob sich. Es schien alles gesagt. Er knarrte seine Mannschaft an und zwei der Häscher traten zu Karen und Mihai. Ehe sich die beiden Menschen versahen, hatte jeder von ihnen ein kräftiges, aber nicht grobes Seil genommen, um die Hüften der Menschen geschlungen und mit einem komplizierten Knoten befestigt. Das andere Ende hielten sie in ihren Klauen.
„Also Freunde sind wir wohl nicht“, knurrte Karen. „Eher Gefangene.“
Danach verschwand der ganze Trupp im Wald.