Читать книгу Die Verdammten Reiche - Casy Paix - Страница 6

--¤-¤-- Ellysa --¤-¤--

Оглавление

Ich erschauderte bei der Erinnerung an jene Nacht. Hätte ich damals schon ahnen können, welchen Weg mir mein Schicksal aufwies?

Wohl kaum, denn kein Kind mit sieben Jahren konnte sich das vorstellen oder erahnen, was seit damals unaufhaltsam auf mich einströmte. Wie jeder Tag zu einer neuen Herausforderung wurde.

Meine Beine schlugen in gleichmäßigen Takt gegen den Grabstein, auf dem ich saß.

Tock – tock – tock.

Ich hatte schon früh bemerkt, dass ich anders war als meine Geschwister oder die Kinder aus dem Dorf. Es fing schon bei meinem Aussehen an. Meine wilden, weißen Locken waren das eine, meine ungewöhnliche Augenfarbe das andere. Meine Augen erstrahlten in einem unnatürlichen, dunklen Grau und die meisten Leute sahen etwas darin, was nicht dorthin gehörte. Schon als Kind wichen sie meinen Blicken aus und oft weinte ich in Siras Armen oder Zacharias Fell. Ich verstand nicht, warum sie mir aus dem Weg gingen, warum sie mich verstohlen betrachteten und leise flüsterten, in dem Glauben ich würde sie nicht hören.

Wie könnte ein Kind das auch jemals begreifen?

Abgesehen von meinem Äußeren, war allerdings das, was in mir war, das was mich von allen anderen unterschied. Der Fluch – mein Fluch.

Tock – tock – tock.

Jeder besaß nur eine Seele, die sich für eine Seite entschieden hatte. Das war das Gesetz der Natur. Die helle Seite, das Reine, das Gute. Zu ihr gehörten die Geistlichen, die Heiler, die Unschuldigen und Rechtschaffenen. Auf ihrer Seite würde es keinen Verrat, kein Leid, keinen Schmerz geben. Nur Glückseligkeit und Rechtschaffenheit. Das Gegenstück dazu war die dunkle Seite eines Menschen. Ihr gehörten all jene an, die vom Weg abgekommen waren.

Das Besondere an mir war, dass ich es vermochte beide Seiten gekonnt zu vereinen. Ich besaß nicht nur eine, sondern zwei Seelen. Aus mir entsprang das Reine und Gute, genauso wie ich die Quelle allen Bösen war. Meine Magie beinhaltete sowohl das eine, wie das andere. Ich war mit unglaublich mächtiger Magie gesegnet oder verflucht, wie auch immer man es sehen wollte.

Ich erinnerte mich zurück an die Worte meiner Tante an jenen Abend, als sie sagte, dass alle Fluchträger vor mir diejenigen die sie liebten, mit ins Verderben gerissen hätten. Ich glaubte ihr, denn es war oft nicht einfach beide Seiten gleichermaßen zu beschwichtigen und dieses zerbrechliche Gleichgewicht zu bewahren. Die Dunkelheit lockte einen mit süßen Versprechungen, während die helle Seite für sich sprach, von der Hoffnung, die ihr zu eigen war.

Dieser Fluch, entsprungen aus einer alten Legende, begründet aus vielen Erzählungen und Überlieferungen über die Jahrhunderte hinweg, war all das, was mich ausmachte.

Ich seufzte und strich mir eine meiner weißen Locken hinter das Ohr. Mein Blick glitt über die vielen, verwitterten Grabsteine vor mir. Obwohl die Dämmerung schon fast in die Nacht überging, konnte ich all die Inschriften auf ihnen lesen. Ich hatte sie schon so oft gelesen, dass ich sie mittlerweile auswendig kannte.

Seit damals, als ich meine Schwester das letzte Mal streitend mit meiner Tante gesehen hatte, waren fünfzehn Jahre vergangen.

Fünfzehn Jahre seit mir das Schicksal auf harten Weg gezeigt hatte, was es bedeutete die Trägerin des Fluchs zu sein.

Fünfzehn Jahre seit ich in die verlassenen Mauern von Kassathor verbannt worden war.

Tock – tock – tock.

Für mich war es kein wirklicher Fluch, für mich war es einfach das, was mich ausmachte. Der Rest des Landes sah das allerdings anders und in jener Nacht musste ich das schmerzlichst feststellen.

Meine Tante sollte letztendlich Recht behalten, denn die Nächsten, die gegen die Tore unserer Burg klopften, waren nicht so leicht zu beschwichtigen gewesen wie Sira gehofft hatte.

Sie nahmen mir alles, nahmen mir mein Zuhause, meine Familie und den Glauben an Hoffnung.

Ich hatte meine Familie geliebt. Sira, meine Brüder Tomas und Kilan und natürlich auch meine Tante und meinen Onkel. Unsere Eltern starben bei einem feigen Hinterhalt, als ich drei Jahren alt war. Mein Vater war der dritte der vier Burgherrn, die die Grenzen unseres Landes verteidigten. Er wurde von seinen Untergebenen geliebt und respektiert, genauso wie meine Mutter, die ihm in allen Belangen zur Seite stand. Seit dem Tod unserer Eltern hatte Sira, meine Brüder und mich unter ihre Fittiche genommen. Sie war nicht nur unsere Schwester, sie war so viel mehr gewesen und als ich sie an dem Morgen, nach dem Streit mit meiner Tante, kalt und regungslos in ihrem eigenen Blut liegen sah, brach für mich eine Welt zusammen.

Ich hatte die nächtlichen Angreifer nicht gehört, sie waren nicht in mein Zimmer gekommen. Ob es an dem Fluch lag, vor dem sie sich vielleicht fürchteten oder wegen Zacharias der neben meinem Bett schlief, wusste ich nicht. Es machte im Grunde auch keinen Unterschied. Sie ermordeten Sira kaltblütig im Schlaf und tief in mir drinnen ahnte ich, dass es meine Schuld war.

Damals spürte ich, wie die dunkle Seite in mir ihren Kopf hob und sich zum ersten Mal weigerte wieder zu verschwinden.

Um mich herum rauschten die Bäume des schwarzen Waldes und erzählten ihre eigene Geschichte. Erzählten von den Geheimnissen die unter den dichten Blattkronen verborgen waren, eines so finster und böse, wie das andere.

Grübelst du schon wieder?“

Zacharias Stimme in meinem Kopf ließ mich lächeln.

„Nein, nicht wirklich.“

Lautlos schob sich ein riesiger Schatten zwischen den Grabsteinen zu meiner Rechten hindurch und ich konnte Zacharias erkennen der gemächlich näher kam. Seine großen Pfoten hinterließen Abdrücke in dem matschigen Boden des Friedhofs und feine Nebeltröpfchen hingen in seinem Fell. Ich wusste, dass er lieber vor dem Kamin liegen und sich den Pelz versengen lassen würde, als hier draußen bei diesem Wetter herumzustreifen.

Du erkältest dich.“

Zacharias gleichgültige Stimme konnte mich nicht täuschen. Ich wusste, dass er sich um mich sorgte, daher war er mir auch gefolgt. Selbst wenn mir hier draußen nichts passieren würde, so fiel es ihm dennoch schwer mich aus den Augen zu lassen.

„Ich will nur ein wenig die Nacht genießen.“

Zacharias legte sich zu Füßen des Grabsteins und bettete seinen gewaltigen Schädel auf seinen Vorderpfoten.

Bei diesem Wetter? Du warst noch nie gut im Lügen Ysa.“

Ich verzog ertappt den Mund und legte meinen Kopf in den Nacken. Über mir konnte ich durch den Nebel hindurch den vollen, silbernen Mond erahnen.

„Heute sind es fünfzehn Jahre Rias.“

Ich weiß. Ich habe es nicht vergessen. Bist du deshalb den ganzen Tag schon so grüblerisch?“

„Ich bin nicht grüblerisch! Außerdem brauchst du dich nicht über meine Stimmung zu beklagen. Du bist nicht viel besser. Du verkriechst dich die meiste Zeit oder schläfst faul vor dem Kamin!“

Ich spürte Rias bernsteinfarbenen Blick auf mir und sah ihn herausfordernd an. Er knurrte leise und senkte seinen Blick. Ich verkniff mir ein Lächeln, denn ich wusste, wie er es hasste, wenn ich Recht hatte. Irgendetwas war los mit ihm, doch bis jetzt tappte ich darüber noch im Dunkeln.

Wir sollten zurückgehen.“

Der Wind frischte auf und zerzauste mein langes Haar. Ich liebte die Stille des Friedhofs, denn es tat gut, ab und an dem Trubel der Burg zu entkommen.

„Nur noch ein bisschen. Ich brauche etwas Ruhe um mich innerlich wieder etwas zu sammeln“, bat ich leise.

Der Jahrestag an dem Mord an Sira warf mich jedes Mal aufs Neue aus der Bahn. Mein altes, gut behütetes Leben hatte an diesem Morgen geendet, als ich neben Sira bitterlich weinend in ihrem bereits kalten Blut kniete. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort saß, aber als ich das Bersten einer Tür hörte und die lauten Stimmen, drang schon heller Sonnenschein durch das Fenster herein. Ich wurde in meinem blutigen Nachthemd in die Eingangshalle meines Zuhauses gezerrt, wo ich meine Tante mit harten Gesichtsausdruck stehen sah. Ich wollte zu ihr laufen, mich von ihr trösten lassen, meinen Schmerz mit ihr teilen, aber unbarmherzige Hände hielten mich zurück. Neben mir konnte ich Zacharias erkennen, der von fünf Männern umringt wurde, die einen rotfarbenen Zauber auf ihn wirkten und ihn an Ort und Stelle festhielt.

Der Mund meiner Tante öffnete sich und doch verstand ich ihre Worte nicht. Ich verstand gar nichts mehr.

Warum half sie mir nicht? Wusste sie denn nicht, was Sira widerfahren war? Wer waren diese Männer, die sie mitgebracht hatte?

All das hatte ich mich in meiner Angst und Verwirrtheit gefragt und erst Jahre später hatte ich begriffen, dass sie mir niemals auf meine Fragen geantwortet hätte.

Meine Tante hatte mich aufgegeben. Wahrscheinlich schon viel früher, als ich jemals geahnt hatte.

Die Männer hatten mich weggebracht, hatten mich von meinen Brüdern getrennt und hierher verbannt. Hatten ein siebenjähriges Kind in blutigem Nachthemd in eine kalte, verlassene Festung gesperrt. Das hieß, sie hatten mich im nächtlichen, schwarzen Wald vom Pferd geworfen und mit ihren Schwertern den Weg gewiesen. Barfuß und zitternd vor Kälte war ich über unzählige Pfade getaumelt, bis mich Zacharias eingeholt hatte und mich zu den verfluchten Mauern von Kassathor brachte. Die Burg war damals unsere einzige Zuflucht gewesen.

Kassathor. Ein verfluchter Name für eine verfluchte Burg.

Eine Burg aus dicken, uneinnehmbaren Mauern, die zu meinem sicheren Zuhause geworden war.

Das Rauschen der Bäume des schwarzen Waldes wurde lauter, was ein Zeichen dafür war, dass ein weiteres Unwetter aufzog. Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, spürte ich auch schon die ersten zaghaften Tropfen.

„Lass uns zurückgehen Rias.“

Ich stieß mich mit den Beinen vom Grabstein ab und sprang über Rias liegende Gestalt. Ohne auf ihn zu warten, suchte ich mir meinen Weg durch die alten Gräber und Mausoleen hindurch und hielt auf die schwarzen Mauern von Kassathor zu. Der Friedhof umschloss zu einer Hälfte die Burg und zählte für mich, mit seinen alten Obstbäumen und den vielen Rosenbüschen, als Garten der Stille. Auf der anderen Seite wurde Kassathor vom schwarzen Wald umringt. Er erstreckte sich durch das gesamte Tal und zog sich die Berghänge hinauf. Damals als mich die Männer durch die schmale Schlucht der Berge gebracht hatten und ich das erste Mal den düsteren Wald sah, war es gerade so, als wäre er aus den dunkelsten Albträumen entsprungen. Mit seinen uralten schwarzen Bäumen wirkte er, wie etwas das es nicht geben durfte. Genauso wie ich, die an diesen Ort verbannt worden war.

Kassathor galt als jeher als Bannburg. Die Gräber auf dem alten Friedhof sprachen für das Leiden, das Jahrhunderte hinweg in Kassathor geweilt hatte. Niemand betrat freiwillig den schwarzen Wald geschweige denn, Kassathors Mauern.

Hätte Rias sich damals nicht von seinen Häschern befreien und mir hinterherlaufen können, wäre ich vermutlich im Wald gestorben.

Ich fand in Kassathor Zuflucht, aber ohne Rias, hätte ich es niemals geschafft zu überleben. Ich war damals starr vor Angst und die alten Mauern nahmen mir regelrecht die Luft zum Atmen. Ich spürte das Böse, das dort herrschte, das die Gemäuer durchdrang und die Luft verpestete. Die grausamen Tode der einst hierher Verbannten tränkten die Steine und machten Kassathor zu dem, was es war – ein Grab für alle, die hierher verbannt wurden.

Einzig meine dunkle Seele jubelte, denn sie fühlte sich willkommen und gestärkt. Wäre Rias damals nicht an meiner Seite gewesen, hätte ich mich der Dunkelheit hingegeben und was das für dieses Land bedeutet hätte, wollte ich mir gar nicht erst ausmalen. Warum mich Rias allerdings zurückgehalten hatte war mir ein Rätsel, denn ich wusste, dass er dieses Land genauso hasste, wie ich es tat. Gefühle wie Angst, Verrat und Wut hatten sich meiner bemächtigt und für ein Kind waren es viel zu mächtige Gefühle, um damit vernünftig umgehen zu können. Wahrscheinlich wussten die Männer damals gar nicht, wie knapp sie ihrem Untergang entgangen waren.

Rias hatte mich beruhigen können, hatte mich beschützt und es geschafft die Dunkelheit in mir zu beschwichtigen. Das ein Wolf aus den Verdammten Reichen dazu fähig war, glich einem Wunder und der Rest des Landes sollte ihm dafür dankbar sein.

Ich erreichte die enge Wendeltreppe, die hinauf in den Burghof führte und vorsichtig setzte ich einen Schritt vor den nächsten. Durch den stärker fallenden Regen waren die steinernen Stufen rutschig geworden. Die Blätter des Efeus, der einen Großteil der Wand bedeckte, bogen sich im rauen Wind, der über die Berge hinweg fauchte und selbst den schwarzen Wald mit seinen mächtigen Bäumen zum Erzittern brachte. Die ersten Herbststürme kamen und ich freute mich auf die Gewitter, die an manchen Tagen so stark waren, dass niemand freiwillig nach draußen ging. Ich betrat den kleinen Innenhof und wartete bis Rias zu mir aufschloss. Ich sah hinunter zum Friedhof und ließ meinen Blick über den angrenzenden Wald schweifen. Nirgends konnte ich Bewegung ausmachen und wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man fast glauben es gäbe kein Leben hier.

Kassathor glich einer Burg aus einer anderen Zeit. Aus einer Zeit in der die Dunkelheit geherrscht hatte. Die schwarzen Mauern und Türme erhoben sich majestätisch in den Nachthimmel und aus den vielen Fenstern ergoss sich warmer Lichtschein und warf flackernde Schatten in den Hof. Aus der Ferne betrachtet wirkte die Burg bestimmt wie ein Ungeheuer aus den Verdammten Reichen. Umringt von unwirtlichen Bergen und einem verfluchten Wald konnte ich die Geschichten, die man mir zutrug, nur zu gut verstehen.

Geschichten über Dämonen, die in Kassathor ihre Feste feierten, über Mörder die sich dort vor der Gerechtigkeit versteckten, über Diebe die ihre Beute in den alten Mauern versteckten. Viele dachten, Kassathor wäre die Pforte in die Verdammten Reiche. Sie glaubten, es wären Geschichten.

Nun, sie irrten sich alle!

Ich kannte die Wahrheit und sie entsprach genau all jener grauenvollen Geschichten, die es über Kassathor zu erzählen gab, mit dem einzigen Unterschied, dass nirgends erwähnt wurde, dass eine junge Frau die Herrin dieser verfluchten Burg war.

Anstatt hier Wurzeln zu schlagen, lass uns endlich nach innen gehen. Ich hasse dieses Wetter!“

Rias strich an mir vorbei und überquerte rasch den Innenhof. Auf der anderen Seite befand sich eine halb unter Efeu versteckte Tür, die ins Innere führte.

„Ich komme doch schon“, rief ich und eilte ihm schnell hinterher.

Mittlerweile hatte der Regen meine weißen Locken in glatte Strähnen verwandelt, die mir fast bis zu den Waden hinab reichten. Meine Stiefel waren undicht, sodass ich das Wasser zwischen meinen Zehen spürte, genauso wie auf dem Rest meines Körpers. Mein leichtes Kleid klebte wie ein nasser Lappen an mir. Rias stieß die Tür mit seinem Kopf auf und trottete nach drinnen.

„Herrin!“

Ich schloss die Tür und fand mich direkt meiner persönlichen Zofe gegenüber. Innerlich zählte ich ruhig bis drei, denn ich wusste, mehr Zeit würde ich nicht haben, bis ich mir einen neuen Tadel von ihr einholen würde.

„Herrin! Ihr seid nass bis auf die Haut. Wie könnt ihr bei solch einem Wetter so leicht bekleidet nach draußen gehen?“

„Leah, als ich ging, regnete es noch nicht und bevor du noch etwas sagen willst, hol mir bitte einen Becher Wein. Ich bin im Thronsaal.“

Leah verstummte und ich sah ihr genau an, dass sie sich mit Mühe eine weitere Antwort wegen meiner Unvernunft ersparte. Sie drehte sich auf dem Absatz um, rümpfte wegen Rias die Nase, als sich dieser erleichtert schüttelte um sich zu trocknen und eilte dann davon.

Leah war einer der wenigen Lichtblicke in diesen verfluchten Mauern. Sie war eine Heilige gewesen, als sie vor fünf Jahren auf der Flucht vor ihrem Vormund zufällig in die Arme meines ersten Hauptmannes lief. Er wollte sie ursprünglich als Beute, zum Vergnügen für seine Männer, doch er kannte die Regeln, die in Kassathor herrschten. Er kannte meine Regeln.

Egal was sie einst alle waren, hier in den Mauern von Kassathor gehörten sie mir, waren meine Gefolgschaft, unterwarfen sich meinem Willen.

Sie alle fürchteten die Macht meiner beiden Seelen. Ich war nicht mehr das verängstigte Mädchen von damals, ich war die Herrin von Kassathor geworden.

Mit Rias an meiner Seite ging ich durch die verwinkelten Gänge und war froh, als ich den Thronsaal erreichte.

Der Mittelpunkt des großen Saals bildete die stattliche, schwarze Holztafel an der fünfzig Leute Platz fanden und deren Stühle an manchen Tagen alle besetzt waren. In ihrem Schatten geriet der verlassene, aus der Wand gehauene Thron, an der Stirnseite des Saals regelrecht in Vergessenheit. Ich steuerte zielstrebig einen der beiden großen Kamine an, in dem ein fröhlich flackerndes Feuer loderte. Eine Vielzahl von großen Sitzkissen lag davor locker verteilt auf den dichten Teppichen und ich setzte mich zufrieden auf eines davon. Rias nahm seinen gewohnten Platz direkt vor dem Kamin ein, gerade so nahe an den Flammen, dass sein Fell nicht Feuer fangen konnte.

„Wäre es nicht einfacher, wenn du dir trockene Sachen anziehst?“, fragte ich ihn und zog mir die Stiefel von den Füßen.

Das gleiche könnte ich dich fragen.“

Rias streckte sich zufrieden und schloss die Augen.

„Es ist heute so ruhig“, murmelte ich und unterdrückte ein Gähnen.

Sonst beklagst du dich immer wegen des ganzen Lärms. Sie gehen dir heute alle aus dem Weg, um dich nicht zusätzlich zu reizen. Sie wissen, welcher Tag heute ist.“

Wahrscheinlich hatte Rias mit seiner Vermutung Recht, denn normalerweise herrscht in dem großen Thronsaal reges Treiben. Kassathor war die Zuflucht, das Zuhause von vielen geworden.

Meine kindliche Unschuld ging damals verloren, als ich Kassathor das erste Mal betrat. Ich verstand die Ungerechtigkeit nicht, die mir widerfahren war. Ich begann die Männer zu hassen, die mich aus meinem Zuhause weggerissen hatten, verfluchte deren Familien und wünschte ihnen dasselbe Leid, wie das meine. Ich hasste meine Tante, die nichts unternommen hatte, um sie aufzuhalten, die sie wahrscheinlich sogar in mein Zuhause geführt hatte, eine Wahrheit die mich bis in mein Innerstes erzittern ließ. Ich hasste sie aus tiefster Seele, denn es besagte auch, dass sie für Siras Tod verantwortlich war.

Damals, als ich in diese kalten und leblosen Mauern verbannt worden war, erhob sich meine dunkle Seele in mir stärker als jemals zuvor. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte das unschuldige Land um mich herum mit in den Untergang gerissen. Das alleine wäre vielleicht nicht schlimm gewesen, denn bei allen Göttern, sie hatten es verdient, aber ich brachte mich durch das unbedachte Wirken meiner Magie selbst in Gefahr. Ich drohte mich in der Dunkelheit zu verlieren und erstmals verstand ich, warum meine Tante Angst vor mir hatte. Meine schwarze Seele hatte eine Magie entfesselt, vor der sich sogar Dämonen fürchteten und ich blieb nicht die einzige die das bemerkte.

Nach und nach gesellte sich die Dunkelheit zu mir und mit ihr kamen die Bestien aus den Albträumen braver Leute. Diebe, Mörder, Dämonen und sonstiger Abschaum. Sie wurden von meiner Macht angezogen wie die Motten vom Licht. Sie fürchteten mich, aber was noch wichtiger und zugleich verwirrender war, sie respektierten mich und ernannten mich zu ihrer Herrin.

In all der Zeit war Rias mein einziger Halt, wenn ich drohte zu weit auf dem dunklen Pfad voranzuschreiten und ich lernte mit den Jahren, meine beiden Seelen in der Waage zu halten. Seitdem herrschte ein brüchiges Gleichgewicht in meinem Inneren, denn meine dunkle Seele hatte die Freiheit gekostet und es war schwer sie zurückzuhalten. Ich verbannte meine überschüssige dunkle Magie in die Steine Kassathors. Sie färbten sich von grau zu schwarz und mittlerweile waren sie nur so durchtränkt von meiner schwarzen Magie. Kassathor erstrahlte in einem wunderschönen Obsidian, das sogar dunkler als die Nacht war.

Seit damals hatte ich Regeln aufgestellt, um mich selbst zu schützen. Ich erlaubte allen, die an die Tore von Kassathor klopften, hier zu bleiben, ich verurteilte keinen von ihnen für ihre Taten, doch als Gegenleistung forderte ich, dass sie sich mir unterordneten.

Die Regeln innerhalb Kassathors Mauern waren ganz einfach. Es wurde hier nicht gemordet, gestohlen, betrogen oder sonstige Intrigen begangen. Es war mir egal, ob sie es außerhalb dieser Mauern taten. Jeder musste überleben auf die eine oder andere Weise. Aber sobald sie hier die Tür hinter sich schlossen und mir gegenübertraten, hatten sie sich mir zu beugen.

Ich sah zu der großen Tafel in meinem Rücken und dachte unwillkürlich an meine Tante. Sie würde bestimmt tot umfallen, wenn sie wüsste, dass ich mit Mördern und Dämonen an einem Tisch saß und gemeinsam mit ihnen zu Abend aß. Andererseits war sie sicherlich froh, dass ich verbannt in diesen Mauern festsaß und kein Unheil mehr über sie bringen konnte. Vielleicht ging Beth auch davon aus, dass ich schon tot war.

Ich verfluchte im Stillen zum unendlichsten Male die magische Barriere, die mich daran hinderte, den einzigen Weg durch die Schlucht hindurch zu passieren. Ich hatte es oft genug versucht, aber die Magie, die dort gewirkt worden war, war mächtig. Irgendwann hatte ich es aufgegeben, obwohl meine Neugier immer wieder von Neuem aufflammte.

Vielleicht sollte ich es einfach wieder einmal versuchen?

Es war schon über ein Jahr her, dass ich zuletzt den Weg durch die Schlucht genommen hatte und kurz vor dem alten Wachposten an die unpassierbare Barriere gestoßen war. Rias war probehalber hindurchgelaufen und ihm war nichts geschehen. Alle konnten die Barriere passieren, nur ich nicht.

Ich verfluchte diesen Jahrestag, an dem ich immer wieder daran erinnert wurde, dass ich einst ein Leben außerhalb dieser Mauern hatte.

Genervt stieß ich ein leises Seufzen aus und lehnte mich auf den Kissen zurück. Ich hoffte, Leah würde bald mit meinem Becher Wein kommen. Weit über mir vereinigte sich die steinerne Decke des Saals zu einem wunderschönen Mosaik. Wer auch immer damals Kassathor erbaut hatte, hatte Sinn für Schönheit besessen.

Es gefällt mir nicht, wenn du so niedergeschlagen bist.“

„Und ich dachte, du schläfst. Pass auf das du nicht Feuer fängst“, entgegnete ich mürrisch.

Ein Wolf aus den Verdammten Reichen kann kein Feuer fangen.“

Ich verkniff mir ein Lachen und richtete mich auf meine Ellbogen auf. Rias bernsteinfarbene Augen waren auf mich gerichtet und ich wusste genau, dass er nach dem leisesten Anzeichen suchte, dass meine Stimmung zu sehr in Richtung Dunkelheit kippte.

„Ich habe die letzten Jahre überstanden Rias. Keine Angst ich werde auch diesen Tag überstehen und kein Verderben über euch bringen.“

Ich habe keine Angst. Von mir aus kannst du das ganze Land in die Dunkelheit schicken, sie haben es verdient. Glaube nicht, dass ich mich nicht freuen würde. Ich mache mir jedoch um dich Sorgen. Mit wem soll ich dann meinen Spaß haben, wenn du dich in dir selbst verlierst?“

Rias Worte erreichten mein Herz und ich war so dankbar, dass er nicht nur mein Beschützer, sondern auch mein Freund war.

„Ich werde aufpassen“, versprach ich ihm.

„Außerdem bist du doch da. Genauso wie Viktor, Leah und der ganze Rest.“

Kurz sah ich etwas in Rias Augen aufleuchten, doch er drehte seinen Kopf in Richtung der doppelflügeligen Tür, durch die man den Thronsaal betrat und ich war mir nicht sicher, ob sich nicht nur das Feuer in seinen Augen gespiegelt hatte.

Wenn man von ihm spricht.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, krachte die Tür mit Schwung an die Wand und warf ein dumpfes Echo in die Weite des Saals.

„Meisterin du bist zurück. Ich habe dich gar nicht hereinkommen sehen“, erklang eine tiefe Stimme.

Mit einem leisen Knurren wandte Rias seinen Kopf zur anderen Seite und somit dem Feuer zu.

Ich beobachtete die große Gestalt, die auf mich zukam.

„Viktor! Du als mein erster Hauptmann, solltest über alles Bescheid wissen, was innerhalb dieser Mauern vonstattengeht. Also auch wann ich wieder zurück bin“, erklärte ich mit ernster Stimme.

Ich hörte Rias gedankliches Lachen und musste selbst lächeln.

„Das nächste Mal werde ich euch eine Glocke umbinden“, meinte Viktor missmutig und schaffte es mit seiner Ernsthaftigkeit das ich ihm sofort glaubte.

Er erreichte mich und verschränkte verärgert die Arme vor seiner durchtrainierten Brust. Auf seinen Unterarmen konnte ich die Runen seiner dämonischen Siegelsprüche sehen, die sich als verschlungene Spiralen um seine Arme herum wanden. Unter dem Kragen seiner Tunika spitzte das Ende einer weiteren Rune hervor. Seine dämonische Aura umringte ihn wie ein Schutzschild und ließ keinen Zweifel daran, dass Viktor durch und durch ein Dämon war. Der Posten des ersten Hauptmanns war wie für ihn gemacht.

Sein gestählter Körper schreckte die meisten von vornherein ab, sodass Viktor noch nicht einmal sein Können unter Beweis stellen musste. Als Dämon ersten Ranges, hatte er sich aufs Töten spezialisiert und sich als erster Kommandant des Herrn der Verdammten Reiche einen Namen gemacht.

Nun, zumindest bevor er an Kassathors Tore geklopft und um Einlass gebeten hatte. Damals wusste ich nicht, wer er war und es interessierte mich auch nicht. Zacharias dagegen kannte ihn dafür um so besser. Von Anfang an war er dagegen gewesen Viktor in meine Dienste zu stellen, doch ich sah dessen Kraft und Stärke und als Verbannte konnte man davon niemals genug bekommen.

Warum Viktor die Verdammten Reichen verlassen hatte und vor allem, wie das überhaupt möglich war, war mir ein Rätsel. Viktor sprach nicht darüber und beantwortete keine meiner Fragen über die Zeit in den Verdammten Reichen. Schlussendlich gab ich es auf und begnügte mich damit, dass er mir seine Treue schwor und sich für meinen sowie Kassathors Schutz einsetzte.

„Viktor so lange nur ich es bin, die sich an dir vorbei schleicht, ist alles Bestens“, entgegnete ich und strich durch meine Haare, die schon fast wieder getrocknet waren.

„Ihr hättet ihn sehen sollen Herrin. Er schlich wie ein schlecht gelaunter Ehemann vor der Küche herum und hielt mich vom Arbeiten ab“, beklagte sich Leah, die sich an Viktor vorbeischob und mir den Weinbecher reichte.

Über ihrem Arm trug sie trockene Kleider, die sie neben mich auf den Boden legte.

„Ich bin ein Dämon Nonne! Also steht mir schlechte Laune zu.“

Leah funkelte ihn böse an und trat hinter mich um meine halbtrockenen Locken zu entwirren.

„Ich bin keine Nonne mehr! Die Götter verweilen nicht an einem Ort wie diesen“, meinte sie leise.

„Nun, zumindest die weißen Götter tun es nicht. Was die wilden Götter betrifft, so würde ich dafür nicht meine Hand ins Feuer legen“, entgegnete Viktor.

„Hier ist kein Platz für Götter, weder für die einen noch für die anderen, außer natürlich, ich würde euch alle hinauswerfen.“

Viktor zog die Augenbrauen zusammen und seine dunkelbraunen Augen schweiften kurz zu Rias. Ein sonderbarer Ausdruck lag darin, doch ich konnte ihn nicht richtig deuten.

„Es reicht, wenn du den Hund nach draußen bringst. Dorthin wo Hunde hingehören.“

Ich spürte, wie plötzlich eine gewisse Spannung in der Luft lag und wie Rias seinen Kopf in Viktors Richtung drehte. Seine bernsteinfarbenen Augen brannten sich regelrecht in Viktors und keiner der beiden, schien nachgeben zu wollen.

Ich nahm einen Schluck von dem schweren, süßlichen Wein und stand auf. Ohne groß auf Viktor, Leah und Rias zu achten begann ich aus meinem klammen Kleid zu schlüpfen.

„Warum geht ihr nicht beide raus und lasst mich alleine?“, fragte ich teilnahmslos.

„Herrin!“

„Leah ich warne dich! Ich will nichts über Moral und Schamgefühl hören“, warnte ich sie und Leah schloss sofort ihren Mund.

Als ehemalige Nonne sprühte sie nur so davon über und versuchte jedes Mal, wenn sich die Gelegenheit bot, an meine gute Seele zu appellieren.

Glücklich schlüpfte ich in mein trockenes Kleid und zog mir die langen, warmen Strümpfe bis über die Knie hinauf. Meine weißen Locken waren bereits getrocknet und entspannt langte ich erneut nach meinem Becher. Die Spannung in dem großen Saal nahm immer weiter zu und ich seufzte innerlich. Es war nicht gerade förderlich für meine niedergeschlagene Stimmung.

„Hört auf ihr beiden!“

Viktor strich sich durch sein kurzes, braunes Haar und wandte schließlich mit einem genervten Brummen den Blick ab. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, es war Vergangenheit. Hier in Kassathor hatte es keine Bedeutung.

Ein leichter Schauder jagte über meine Haut, als ich an die wilden Götter dachte und unwillkürlich strich das Bild des versiegelten Tors in der Eingangshalle durch meine Gedanken.

Du hast das Tor selbst versiegelt, warum jagt es dir jedes Mal aufs Neue so eine Angst ein?“

Ich weiß es nicht. Es hat etwas an sich das ich nicht greifen, nicht in Worte fassen kann. Es ist schwer zu beschreiben. Genauso wie das, was auch immer zwischen dir und Viktor vorgeht. Warum kannst du dich nicht mit ihm vertragen?“

Warum sollte ich? Er ist derjenige der nichts besseres weiß, als mich jedes Mal aufs Neue zu reizen.“

Ich verzog leicht verärgert den Mund, denn ich wusste, wenn Rias schmollen wollte, dann war es besser ihn sich selbst zu überlassen.

„Meisterin?“

„Hmm?“, ich wandte mich mit fragendem Blick Viktor zu.

„Warum ich eigentlich nach dir gesucht habe ist der Grund, dass meinen Männern und mir zufällig ein Bote in die Arme gelaufen ist, der sich am alten Wachposten herumgetrieben hat.“

„Ein Bote am alten Wachposten?“

„Ja.“

„Und er ist euch zufällig in die Arme gelaufen?“

„Ja.“

Viktors unbewegliche Miene verriet mir alles, was ich wissen musste. Bestimmt waren seine Männer auf dem Weg gewesen ihren Schandtaten nachzugehen und durch diesen kleinen Zwischenfall am Wachposten, waren sie davon abgekommen, was wiederum bedeutete, dass sich heute Nacht viele schlecht gelaunte Dämonen in Kassathor herumtrieben.

Der alte Wachposten war schon seit Jahren verlassen. Er war aufgegeben worden, als man sicher sein konnte, dass die magische Barriere ausreichend war, um mich hier gefangen zu halten. Außerdem waren zu viele Tote zu beklagen gewesen. Viktor und seine Männer hatten sich einen Spaß daraus gemacht, jeden einzelnen von ihnen abzuschlachten.

„Was für ein Bote?“, fragte ich daher lauernd und nippte an meinem Wein.

Viktors Augen wurden schmal und ich merkte, wie sich Rias hinter mir anspannte.

„Er war auf der Suche nach dir.“

„Was?“, hauchte ich und trat einen Schritt auf Viktor zu.

Ungewollt sammelte sich ein Bruchteil meiner schwarz schimmernden Magie an meinen Fingerspitzen und strömte in einem unsichtbaren Wind, in kleinen Wirbeln, um mich herum. Mein Herz schlug immer schneller und ein sonderbares Gefühl bereitete sich in mir aus.

Leah schlug sich eine Hand vor den Mund und verfolgte angstvoll, wie die schwarzen Fäden sich immer weiter ausbreiteten. Noch ging keine Gefahr von ihnen aus, doch es war nur eine Frage der Zeit.

Ich hörte, wie sich Rias erhob und keinen Augenblick später spürte ich sein weiches Fell an meinen Fingerspitzen. Die Magie ebbte bei seiner Berührung langsam ab und ich fühlte wie sich mein Herzschlag beruhigte.

„Danke“, murmelte ich leise und krallte meine Hand in Rias Fell.

„Herrin geht es euch gut?“, fragte Leah und bemühte sich sichtlich, sich wieder zu entspannen.

„Ja, es ist alles in Ordnung. Vielleicht könntest du mir noch etwas zu essen bringen?“, fragte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

Leah nickte knapp, schnappte sich die klammen Kleider vom Boden und beeilte sich meiner Bitte nachzukommen. Mit schnellen Schritten verließ sie den Thronsaal. Es glich einer Flucht und ich konnte es ihr nicht verübeln. Dass Leah mich selbst nach all den Jahren, die sie nun schon hier war, noch immer fürchtete, war verständlich. Sie alle fürchteten sich und ich war mir sicher, dass es sich nie ändern würde.

Ob Sira auch Angst vor mir hatte? Vor meiner Magie?

Ich hatte mir diese Fragen schon oft gestellt und konnte sie nie beantworten. Die Antwort darauf würde in der Vergangenheit begraben liegen.

Die Verdammten Reiche

Подняться наверх