Читать книгу Warum auf Autoritäten hören? - Catherine Newmark - Страница 5

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Szene im Hotel. Gutbürgerlicher Frühstücksraum. Ein sehr nett aussehendes junges Paar mit zwei entzückenden Mädchen im süßesten Kleinkindalter. Alles wirkt wohlerzogen und wohlanständig, die Kinder sind offen, aber nicht vorlaut, sie freuen sich sehr darüber, »Guten Morgen« zu sagen zu fremden Erwachsenen, die sie anlächeln. Mein Mutterherz ist beglückt (wenn auch nicht ganz so beglückt wie über die Tatsache, dass ich zwei kinderfreie Tage in diesem Hotel verbringen darf). Die Eltern wirken entspannt, aber mein geübter Blick – auch meine Kinder waren einmal entzückend, und auch ich hielt mich gelegentlich mit ihnen in öffentlichen Räumen auf, in denen gemeinhin gepflegte Stille herrscht – meint, eine kleine Anspannung erkennen zu können, die in ihrer Körpersprache mitschwingt. Sie trauen der Situation nicht ganz – weil sie es nicht können. Es kommt zu keinem Trotzanfall, zu keinem Rumgerenne oder Gekreische. Alles läuft glimpflich ab. Und doch sind sie während der knappen halben Stunde, in der ich sie wahrnehme, permanent damit beschäftigt, die kleinen Anarchisten in Schach zu halten. Kinderstimmen werden unweigerlich laut, ob aus Empörung über das falsche Joghurt oder aus Begeisterung über das richtige. Immer muss man Lautstärke dämpfend auf die Kleinen einwirken, eine emotionale Situation entschärfen, die unkontrollierte Bewegung eines Ärmchens schnell abfangen. Bevor sie von der Schule in jenes still sitzende Leben eintrainiert werden, das uns alle später ungesund und zu dick machen wird, haben Kinder offensichtlich von Natur aus einen kaum zu unterdrückenden Hang zu Bewegung und Lautstärke. Und nun, angesichts dieses so vorbildlichen wie doch leicht nervösen Familienidylls, dessen Zeugin ich bin, frage ich mich, wie man jemals erfolgreich das früher standardmäßig erwartete Modell des »artigen Kindes« hergestellt hat. Das Kind, das man sieht, aber nicht hört, wie noch mein eigener Vater gerne sagte, auch wenn das schon zu unserer Zeit eher frommer Wunsch denn Realität war.

Die offensichtlichste Antwort lautet natürlich: durch jede Menge Zwang und Gewalt. Durch traditionelle schwarze Pädagogik mit ihrem gesamten Repertoire an Einschüchterung, emotionaler Erpressung und Manipulation – und Prügelstrafen. Und zumindest in den klassischen Oberschichten, denen »artige« Kinder besonders wichtig waren, sicherlich auch durch gezielte emotionale Distanzierung – und räumliche Trennung. Die ikonische Dowager Countess of Grantham bringt diese Strategie in einer Szene der britischen Fernsehserie Downton Abbey schön auf den Punkt. Seufzend erinnert sie sich an die »on-and-on-ness«, das Nie-Aufhörende, des Elternseins. Ihre kritische Gesprächspartnerin weist sie darauf hin, sie habe ihre Kinder doch wohl sowieso nur – von einem Heer an Kindermädchen und Gouvernanten frisch gewaschen und gestriegelt – einmal am Tag für eine Stunde nach dem Nachmittagstee gesehen. Woraufhin Lady Grantham, ohne mit der Wimper zu zucken, entgegnet: »Yes … – but it was an hour every day.«

Gesamtgesellschaftlich sind wir von der schwarzen Pädagogik ebenso wie vom streng abgetrennten Kinderbereich meilenweit weggekommen. (Auch wenn man sich fragen kann, ob das Ruhigstellen durch elektronische Medien, vom klassischen häuslichen Fernseher bis zum Handyspiel, das auch unterwegs funktioniert, nicht ähnliche Funktionen erfüllt wie das ehemals streng abgetrennte Kinderzimmer.) Aber um zu erklären, dass heutige Kinder eben nicht mehr artig in dem Sinne sind, wie ich es als Kind noch in den unsäglichen Mädchen-Jugendbüchern aus dem frühen 20. Jahrhundert gelesen habe, die aus mir nicht mehr ganz erklärlichen Gründen in den Buchbeständen meiner Familie überlebt hatten, reicht die Feststellung, dass sich der Umgang von Eltern mit ihren Kindern geändert hat, nicht vollständig aus. Dazu genügt ein vergleichender Blick in die jeweiligen Epochen selbst. Auch vor hundert Jahren haben nicht alle Eltern ihre Kinder pausenlos verprügelt und ihnen Privilegien – oder gleich ihre Liebe – entzogen, wenn sie bei Tisch nicht gerade saßen oder eine schlechte Note mit nach Hause brachten; und auch heute gibt es ganz unterschiedlich strenge Eltern.

Ein enger Kindheitsfreund von mir beispielsweise lebt schon länger in Frankreich und hat mit einer Französin zusammen eine Familie gegründet. Auf eine für mich und die meisten anderen aus unserem Freundeskreis höchst befremdliche Weise war es für ihn und seine Frau selbstverständlich, ihre Babys schreien zu lassen, bis sie von selbst gut durchschliefen, oder auch, später, ihnen gelegentlich den Hintern zu versohlen. Frankreich hat, dies am Rande, erst Ende 2018 – gegen großen Widerstand in der Bevölkerung – beschlossen, die Prügelstrafe gesetzlich zu verbieten.3 Deutschland tat dies im Jahr 2000 – also historisch gesehen auch vor noch nicht allzu langer Zeit. Ein international vergleichender Blick auf die jeweiligen rechtlichen Regelungen und auch auf die kulturelle Selbstverständlichkeit oder aber Ächtung von elterlichen Ohrfeigen und sonstigen Schlägen ist im Übrigen ein faszinierendes Thema und lässt erhebliche regionale Unterschiede zutage treten. Das von der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 bestimmte Recht auf gewaltfreie Erziehung hat sich jedenfalls durchaus noch nicht überall durchgesetzt. Und auch in Ländern, in denen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Prügelstrafe klar und mit innerer Überzeugung ablehnt, wie es in Deutschland der Fall ist, gibt es nicht nur unkontrollierte Ausrutscher, sondern auch ideologische Gegenstimmen, die sich weiterhin für ein elterliches Züchtigungsrecht aussprechen.

Aber zurück zu meinem Kindheitsfreund, mit dem ich ungeachtet unserer unversöhnlichen pädagogischen Differenzen nach wie vor ein herzliches Verhältnis pflege, wie man es eben mit Kindheitsfreunden so tut; dessen Frau ich elegant und kompetent finde, wie es bei Französinnen eben oft der Fall ist; und dessen streng erzogene, tadellos schlafende und überhaupt rundum reizende Kinder vor allem durch ihren widerspruchslosen Konsum von fast jeglicher Kombination von Gemüse und Soße gelegentlich ein vages Gefühl von Neid bei mir auslösen. Zumal mit Blick auf meine eigenen, auf nackte Nudeln spezialisierten Kinder. Still und heimlich frage ich mich sogar gelegentlich, ob nicht dieses viel »traditionellere« französische Modell auch seine Vorteile habe – ein Gedanke, den ich dann immer schnell wieder unterdrücke.

Wie überrascht war ich demnach, als besagter Freund vor einiger Zeit selbst auf das Thema Kindererziehung zu sprechen kam, das ich mit ihm sonst eher zu vermeiden suche, denn wo die Gegensätze unüberbrückbar sind, da hilft nur beherztes Beschweigen. Jedenfalls teilte er mir seine eigene verwunderte Beobachtung mit, dass unser beider Kinder heutzutage mit uns in einem respektlosen Tonfall sprächen, wie wir es in unserer Kindheit nie gewagt hätten.

Nun stammen wir beide aus einem Jahrgang Mitte der 70er-Jahre, und sowohl seine als auch meine Eltern orientierten sich an den in diesem Jahrzehnt so intensiv diskutierten alternativen Erziehungsidealen – unsere Freundschaft verdankt sich immerhin dem gemeinsamen Besuch einer Waldorfschule. Auf Artigkeit gedrillte Kinder im Sinne früherer Zeiten waren wir beide schon längst nicht mehr. Vielmehr wurde auch bei uns der Akzent klar auf persönliche Entfaltung und freie Erziehung gelegt. Und doch teile ich seine Beobachtung, was unsere Kinder angeht.

So etwas wie »Respekt« scheint auch mir nicht zu ihrem basalen Verhaltensrepertoire zu gehören. Sie sind je nachdem höflich oder trotzig, kooperativ oder widerborstig, angenehm oder anstrengend. Vom Wissens- und Erfahrungsvorsprung ihrer Eltern und anderer Erwachsener sind sie allenfalls noch auf pragmatische Weise beeindruckt. Eher denn als Respektspersonen scheinen sie uns als praktische Instrumente für die Umsetzung eigener Projekte zu sehen, zu denen sie motorisch oder intellektuell noch nicht in der Lage sind. »Ausziehen«, bedeutete mir einmal ein Knirps in unserem Kinderladen, den ich kaum kannte, der aber offensichtlich gerade für das Vorhaben, sich seines Pullis zu entledigen, einen verfügbaren Feinmotoriker suchte.

Was unsere Kinder nicht gewohnt sind, ist das fraglose Gehorchen. Was sie kaum kennen, ist der schlichte Befehl. Ein »Weil ich es dir sage« zieht bei ihnen fast gar nicht, denn in ihrer Welt ist es üblich, dass man ihnen Dinge erklärt und nicht einfach ansagt. Womit sie vertraut sind, ist nicht die Logik der Überordnung und Unterordnung, sondern diejenige des vernünftigen Kommunizierens. Auch wenn sie das natürlich je nach Bedarf durchaus eigenwillig einsetzen. »Ich bestimme über meinen Körper«, erklärt mir meine Fünfjährige entschieden, als ich ihr ebenso entschieden sage, dass sie sich die Zähne putzen soll. Dieser an sich fantastischen Tiefenverankerung eines Selbstbewusstseins von individueller Autonomie kann ich nur mit dem Versuch von Argumenten begegnen, die einer Fünfjährigen hoffentlich irgendwie plausibel erscheinen: »Sonst kommen Karius und Baktus …«

Ganz wenig Verständnis haben sie, wenn man versucht, ihnen erzieherisch etwas abzugewöhnen, von dem sie sehr genau wahrnehmen, dass es auch Erwachsene tun. »Aber du hast auch geschrien, als du mit Papa gestritten hast!« Tja … »Do as I say, don’t do as I do«, pflegte mein Vater gerne zu sagen. Ob das bei uns wirklich funktioniert hat, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Was ich aber noch weiß: Die Distanz zwischen Erwachsenen und Kindern wurde stärker wahrgenommen, die Vorstellung, dass Erstere in einer anderen Sphäre lebten und anders tickten als wir – und ja: Autorität und Macht über uns hatten –, war ausgeprägter.

Dass all diese Tatsachen nicht in irgendeiner Weise von den Kindern ausgehen, ist klar. Die Hilflosigkeit heutiger Eltern ihrem Nachwuchs gegenüber kann und darf selbstverständlich nicht Letzterem angelastet werden. Die Kinder reagieren schlicht darauf, dass wir als Erwachsene ihnen gegenüber anders auftreten, als es in früheren Generationen üblich war. Hat sich aber dieses Erziehungsmuster einmal etabliert, lässt sich dahinter schwer zurückgehen.

Bevor wir eigene Kinder hatten, haben mein Mann und ich uns gelegentlich verständnislos angeschaut, wenn wir in der U-Bahn oder im Bus wieder mal eine dieser unserer Meinung nach typischen modernen Eltern-Kind-Interaktionen mitbekommen haben. Wie ein Elternteil dem sehr jungen Nachwuchs weitschweifig und mit – in unseren Augen – allzu hohen Erwartungen an dessen Möglichkeiten des vernünftigen Verstehens erklärt, warum man nicht zu nah am Gleis oder im Türbereich des Busses stehen soll. Und dann, wenn die Lage ernst wird und der Zug einfährt oder die Tür schließt, mit einer wiederum für uns als externen Beobachtern vollkommen unverständlichen Ungeduld und Schärfe herumschimpft und am Nachwuchs herumzerrt, nur weil dieser natürlich die weitschweifige rationale Erklärung des gewünschten Verhaltens nicht kapiert hat. Warum, so fragten wir uns, versuchen die es nicht mit ein bisschen weniger Erklären und ein bisschen mehr etablierter und ruhiger Autorität?

Das war vorher. Mittlerweile partizipieren wir an der kommunikativen Erziehung. Die im Prinzip wunderbar, in der Praxis aber nicht leicht umzusetzen ist. Auch wir kennen jetzt die Situationen, in denen wir verärgert reagieren, wenn ein Kind unseren vernünftigen Appell missachtet. Warum hört es denn nicht? Habe ich das nicht gerade ausführlich erklärt?

Solche Fälle zeigen eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber unseren eigenen Erziehungsidealen, die sich von früheren so deutlich unterscheiden. Und die eben auch in Spannung stehen zu den klassischen Bildern, die wir uns von Eltern und Kindern machen – und auch zu unseren Erinnerungen an die eigenen Eltern und die eigene Kindheit. Wir wollen zwar ganz sicher keine eingeschüchterten Kinder mehr – aber um ein bisschen Weisungsbefugnis wären wir schon froh …

Den Konflikt zwischen dem Wunsch nach praktischer Autorität und dem Ideal einer kommunikativen, »bedürfnisorientierten« Erziehung hat Juan Moreno, bekannt geworden durch seine Aufdeckung des Falls Relotius beim Spiegel, aber auch sonst ein Journalist, dem man durchaus vertrauen kann, einmal in einer sehr hübschen Kolumne wunderbar auf den Punkt gebracht. »Vergangene Woche«, schreibt er, »stand vor der Kita meiner Tochter ein Vater 45 Minuten lang vor dem Eingang. Sein Sohn weigerte sich reinzugehen. Die Erzieherin sagte, dass dies zuletzt oft passiert sei. ›Ihr Kind soll ohne das Wort ‚Nein‛ aufwachsen‹, sagte die Erzieherin.« Moreno kontrastiert das mit seinen Erinnerungen an den eigenen strengen Vater und kommt zu dem Schluss: »Ich weiß, dass eine gute Beziehung zwischen Vater und Kind nicht auf Angst basieren kann. Ich weiß aber auch, dass ich nicht viermal die Woche eine Dreiviertelstunde vor der Kita stehen kann.«4 Dem ist wenig hinzuzufügen.

Warum auf Autoritäten hören?

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