Читать книгу Warum auf Autoritäten hören? - Catherine Newmark - Страница 6
ОглавлениеAus all diesen Beobachtungen könnte man nun schließen, dass wir es einfach mit einer Generation besonders schlechter und unfähiger Eltern zu tun haben, die mit den eigenen Idealen einer kindgerechten Erziehung nicht gut umgehen kann. Das trifft die Sache aber nur zum Teil. Alle Eltern machen Fehler, immer schon – interessant ist die Frage, was daran zeitspezifisch ist. Denn offensichtlich reicht der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang der weniger autoritären Erziehung und des weniger gehorsamen Kindes weit über die individuellen Erziehungsstile der einzelnen Eltern hinaus.
Die Sache steht vielmehr solide im Kontext eines größeren sozialen Wandels. Unsere Gesellschaft ist seit den 1970er-Jahren insgesamt sehr viel informeller und weniger hierarchisch geworden. Kindergärtnerinnen, Erzieher und Lehrkräfte werden heute von Kindern ebenso selbstverständlich geduzt wie erwachsene Freunde und Bekannte der Eltern. Männer und Frauen versuchen sich mit zunehmendem Erfolg am Ideal der Gleichberechtigung. Klassische Autoritätsfiguren wie Ärzte oder Lehrer werden nicht mehr fraglos anerkannt, sondern durch Googlen der eigenen Symptome oder durch heftigst ausgefochtene Machtkämpfe über die Behandlung der je eigenen Sprösslinge auf Elternabenden infrage gestellt.
Was sich hier zeigt, ist eine gesamtgesellschaftliche Erosion des Prinzips der Autorität. Das Ideal der demokratischen Kommunikation, die Verständigungskultur der egalitären Gesellschaft, der Anspruch, Dinge jederzeit ausdiskutieren und vernünftig erklären zu können – sie alle reichen vom Politischen bis weit hinein ins Persönliche.
So unterschiedlich die Erziehungsstile und Kompetenzen von Eltern also auch sein mögen: Wir haben es mit einer sozialen Großwetterlage zu tun, in der der Versuch, als Eltern besonders streng aufzutreten – sofern er denn überhaupt noch unternommen wird –, nicht mehr die gleichen Erfolgsaussichten hat wie in früheren Jahrzehnten. Wir leben in einer Welt, in der die meisten von uns selbst davon überzeugt sind, dass die autoritäre Erziehung früherer Generationen falsch und in ihren Konsequenzen sogar gefährlich war. Und in der überdies auch unsere Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in dem ihnen ein gehorsames, widerspruchsloses Beugen unter den elterlichen Willen höchst unplausibel erscheint, weil sie eine ähnliche Haltung weder bei Gleichaltrigen wahrnehmen noch von den pädagogischen Institutionen vermittelt bekommen.
Wenn nun Erwachsene ebenso wie Kinder insgesamt in einer wenig autoritätsgläubigen Gesellschaftleben – wie können Eltern dann noch Autorität für sich beanspruchen? In einer Welt, in der sie, mit Max Weber gesprochen, bei ihren Kindern nicht mehr auf ein »bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen«5 stoßen? Die Frage ist von Gewicht, denn anders als Herrschaft (über die Max Weber an der zitierten Stelle spricht), besteht Autorität eben nicht bloß in der »Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«.6 Autorität ist mehr und etwas anderes als das schlichte Befehlen.
Gleichzeitig unterscheidet sich die Elternrolle grundlegend von anderen tradierten Autoritätsverhältnissen, von ständischen Ordnungen etwa oder rigiden Geschlechterhierarchien: Das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern lässt sich niemals vollständig im Egalitären auflösen. Eltern haben Autorität, ob sie es wollen oder nicht – und eine Pflicht, diese auch auf sich zu nehmen.
Hannah Arendt schreibt in ihrem mittlerweile klassischen Aufsatz über Autorität aus dem Jahr 1958, dass die Autorität der Eltern über ihre Kinder »anscheinend von der Natur selbst vorgezeichnet« sei. Die elterliche Autorität ist für sie »eine der allerelementarsten Funktionen in jedem Gemeinwesen, das Hinleiten derer, die durch Geburt neu in die Welt gekommen und daher in ihr notwendigerweise Fremdlinge sind, zu übernehmen und so die Kontinuität dieser gemeinsamen Welt zu sichern«. Eltern hätten »ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für die Welt, in die sie sie hineingezeugt und hineingeboren haben«.7
Autorität ist, wenn wir Arendt folgen, und es gibt weiterhin gute Gründe, das zu tun, weit mehr als nur ein Verhältnis von Befehl und Gehorsam. Autorität ist ein Verhältnis von älter und jünger, von mehr und weniger Wissen und Erfahrung, von Verantwortung abgeben und Verantwortung auf sich nehmen. Und dieses Verhältnis ist für die Eltern-Kind-Beziehung grundlegend. Man kann das auch anders umschreiben, aber die klassische Vorstellung von Autorität trifft die Sache schon ganz gut, insofern sie ein, wiederum mit Arendt gesprochen, hierarchisches Verhältnis beschreibt, das weder auf Zwang oder Gewalt noch auf rein argumentativem Überzeugen beruht. »Der egalitären Ordnung des Überzeugens steht die autoritäre Ordnung gegenüber, die ihrem Wesen nach hierarchisch ist.« Gemeinsam ist demjenigen, der befiehlt, und demjenigen, der gehorcht, laut Arendt »die Hierarchie selber, deren Legitimität beide Parteien anerkennen und die jedem von ihnen seinen von ihr vorbestimmten, unveränderten Platz anweist«.8
Es ist nun ebendiese »Hierarchie selber« und ihre Legitimität, die in der Moderne unter Beschuss gekommen ist und die letztlich im Hintergrund steht, wenn wir feststellen, dass wir uns als Generation mit Autorität schwertun. Arendt nimmt moderne Eltern (die in den 1950ern allerdings bestimmt weniger bedürfnisorientiert unterwegs waren als heute) ziemlich polemisch ins Visier. Sie kritisiert, dass die fraglos feststellbare politische Erosion von Autorität bis ins Private hineinreiche, also bis in den Bereich, wo Autorität eben keine Frage der politischen Ordnung mehr ist, sondern »von der Natur selbst vorgezeichnet«. Dass Eltern versuchen, um ihre Autoritätsrolle herumzukommen, deutet Arendt als »spezifisch moderne Weltentfremdung«.9 In einem treffend mit »Die Krise in der Erziehung« betitelten Text aus der gleichen Zeit beschreibt sie diese »Weltentfremdung« näher: »Deutlicher (…) konnten moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen an dem Bestehenden gar nicht kundgeben als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen. Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: In dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muß, ist auch uns nicht bekannt.«10
So treffsicher sich dieser kritische Befund auch liest – denn wer könnte heute von sich mit absoluter Sicherheit sagen, dass er sich in der Welt »verläßlich zu Hause« fühlt –, so scheint mir doch, dass eine polemische Anklage nur bedingt weiterhilft. So viel oder wenig sie sich in der Welt zu Hause fühlen mögen – heutige Eltern sind sich ihrer Verantwortung, ihre Kinder »in die Welt einzuführen«, sicherlich bewusst, vielleicht mehr denn je zuvor. Das Problem, das sie mit der Autorität haben, besteht darin, dass ihnen dafür eine kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Form fehlt. Was fehlt, ist nicht der Wille zum Führen und Einführen in die Welt. Was »fehlt« und nicht mehr wie in früheren Zeiten da ist, ist eine hierarchische Gesellschaft, die klar vorgibt, wie genau dieses Führen auszusehen hat.