Читать книгу 12 fette Frauen - Cathrin Sumfleth - Страница 6

Leute wie ich können auch anders

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Manchmal bewegt mich ein Lied so sehr, dass ich ganz unbewusst anfange, eine Performance dazu zu starten. Meistens passiert das, wenn ich mit Kopfhörern auf den Ohren in der Öffentlichkeit unterwegs bin. Ich habe ein außerordentlich gutes Gedächtnis für Songtexte, also sind meine Lippenbewegungen immer synchron. Meine Tanzbewegungen hingegen sind vermutlich eher aus dem Takt, aber besonders dramatische Textstellen betone ich dafür zusätzlich mit Mimik und Gestik. Ich bin dann wirklich drin. Manchmal so sehr, dass ich vergesse, dass Menschen, die mir entgegen kommen, ja überhaupt nicht wissen, zu welchem Lied ich performe und meinen stummen Auftritt mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit merkwürdig finden. Deshalb versuche ich auch meistens, mich so gut es geht zusammenzureißen. Aber an Tagen wie heute, an denen ich schon mit guter Laune erwache, kann ich mich einfach nicht bremsen. Passend dazu, dass es noch recht früh ist, habe ich Bobby Darins „Early in the morning" laut aufgedreht und laufe zu Fuß zu Arbeit, in der Hand einen großen Coffee To Go und auf den Ohren Folgendes:

We-he-he-ll... You're gonna miss me Early in the morning One of these days Oh yeah!

Well, you're gonna want me Early in the morning When I'm awa-he-hey Don'cha know?

Yes, you'll be sorry (aaaah) For the times I cried (aaah) You'll be sorry (aaah) For the times you lied (aaah)

Well, you gonna miss me Early in the morning (Early in the morning) Während ich mich also quasi auf offener Straße in den Song hineinsteigere, hoffe ich einfach stark, dass mir niemand entgegen kommt. Als ich die Agentur erreiche, setze ich die Kopfhörer ab. Bianca steht schon vom Eingang und raucht. „Hiii, Paula! Bist du heute aber früh!", begrüßt sie mich. „Bianca! Hattest du auch diesen Virus, wie alle anderen? Geht es dir besser?", frage ich sie. „Ja", sagt sie, „geht schon wieder. Bist du mit meinen Motiven für Fit Shake zurecht gekommen? Ohje, Fit Shake. Das hatte ich ja komplett verdrängt. Genau genommen fühle ich mich heute, als wären meine Trennung, der Tod Carmens Mutter und das Erstellen dieser schlimmen Präsentation einfach nur ein Traum gewesen. Und heute, heute wäre ich einfach mit super Laune aufgewacht, denn mein Unterbewusstsein hatte mir nur des nachts einen Streich gespielt. Aber dem ist nicht so: das alles ist wirklich passiert. „Ja, äh, ja! Danke, Bianca. Die Motive waren super. Ich saß gestern noch bis 23 Uhr mit Ferdi an der Präsentation. Die sind jetzt sicher schon beim Kunden." „Ah, da wart ihr ja noch recht früh fertig, schön. Ja, genau, die sind schon los", sagt Bianca und kichert doof. Was will sie damit andeuten? Sie fährt sich ein bisschen nervös durch ihre blonden langen Haare. „Nico ist heute schon sehr früh raus", plaudert sie weiter. „Weißt du, also, wir ... wir sind jetzt so was wie ein Paar, aber pssst." Es trifft mich wie eine Ohrfeige, aber zum Glück nur eine leichte. Passt ja auch, denke ich. Mit Bianca kann man sich sehen lassen, so lange sie nicht den Mund aufmacht. Nico redet nicht gern. Perfect Match. „Ach was!", sage ich und versuche, nicht zu kritisch zu gucken. „Ja, also, äh, dann mal Glückwunsch!" Sie grinst, kichert wieder wie eine 16jährige und wirkt tatsächlich verliebt. „Arme Bianca", denke ich. Wir gehen hinein, ich schmeiße meinen Coffee To Go-Becher weg und mache mir in der Agenturküche einen weiteren Kaffee, um mit meinem wiedererlangten Bewusstsein weiterhin am Leben teilnehmen zu können. Dann setze ich mich an meinen Rechner und surfe im Internet. Mehr bringe ich gerade nicht zustande. Yes, you'll be sorry For the times I cried

You'll be sorry For the times you lied

Well, you gonna miss me Early in the morning Ob Saïd mich bis jetzt überhaupt eine Sekunde vermisst hat? Und wie es Carmen wohl geht? Nach und nach füllt sie die Kreation mit meinen Kollegen, die anscheinend wie durch ein Wunder von diesem Supervirus geheilt wurden, und ich überlege, ob ich heute vielleicht einfach früher gehe. Eventuell kann ich auch ein paar Tage Urlaub einreichen. Bestimmt brauchen Carmen und Rami Hilfe im Laden. Arme Carmen, in dem Zustand arbeiten zu müssen. Aber den Kiosk auch nur einen Tag lang zu schließen, macht sich finanziell ziemlich bemerkbar – und jetzt, durch die Gentrifizierung ... Ich überlege, ob ich den beiden nicht einfach anbiete, ihnen eine Weile lang auszuhelfen. Es gibt auch deutlich Schlimmeres, als im Klönschnack Altona Kippen, Bier und Schnäpse zu verkaufen. Gerade als ich den Plan in meinem Kopf besiegelt und mir selbst darauf ein emotionales High-Five gegeben habe, kommt Nico um die Ecke geschossen. Er ist ganz offensichtlich in Rage. „Paula!", schreit er. „Was bildest du dir eigentlich ein? Verdammt noch mal!" Er steht jetzt vor meinem Schreibtisch. Ich habe kaum eine Chance, meine Konzentrationskopfhörer abzunehmen und fühle mich für eine Sekunde wie der Typ aus der Deezer-Werbung, nur dass Nico so laut schreit, dass ich trotzdem jedes Wort verstehe. Hör, was du hören willst ist da nicht drin. Er macht gnadenlos weiter: „Es war mir klar, dass nur etwas Mittelmäßiges dabei rauskommen kann, wenn ich dich allein an dieses Projekt setze, ... das war mir ganz bewusst. Und ich bin das Risiko eingegangen. Ich Idiot! Ich habe dir vertraut, Paula. Vertraut habe ich dir! Und du wagst es, mich und die ganze Agentur, aber vor allem mich, so was von bloß zu stellen! Ich fasse es nicht - mir war klar, dass du mit dem USP nicht konform gehst, das sagte ich ja bereits. Aber dass Leute wie du sich niemals für die Thematik sensibilisieren können ... das hätte mir einfach klar sein müssen." Er schnappt nach Luft. Leute wie DU. Ich spüre, wie ich nicht nur aufstehe, sondern auch meine Stimme erhebe. Ich erhebe meine Stimme, gegen meinen Chef. Was ist nur los mit mir? „Leute wie ICH?!", schießt es aus mir hervor. „Es reicht, Nico! Es reicht endgültig. Ich arbeite hier für zwei Leute, genau genommen als Texter UND Arter – und das seit fast 4 Jahren. Überstunde um Überstunde sitze ich hier, nachts und am Wochenende, ich bekomme weder ein Danke dafür, noch ein angemessenes Gehalt, an manchen Tagen nicht mal ein Taxi oder ein Abendessen, obwohl auch Leute wie ich essen müssen, wenn sie bis in die Morgenstunden durchackern. Überraschung! Mir ist nämlich klar, dass du mit „Leute wie du" übergewichtige Leute meinst! Dicke Leute. Aber so dick ich auch sein mag und so unangenehm es dir jetzt ist, dass du trotzdem mit mir geschlafen hast, ein gottverdammter Fit Shake ist auf gar keinen Fall eine Alternative. Für NIEMANDEN!" Er sieht auf einmal blass aus. Vielleicht hätte ich nicht vor allen Kollegen in die Runde werfen, bzw. schreien sollen, dass er mit mir geschlafen hat. Das war unprofessionell. Aber eigentlich auch unprofessionell von ihm, mit Leuten wie mir zu schlafen. „Du bist gefeuert", sagt er ausdruckslos. „Das passt mir hervorragend in meinen Tagesplan", sage ich schnippisch, greife nach meiner Tasche und meinen Kopfhörern und gehe. Was das Vorgesetztenverhalten angeht, hätte ich auch in der Kita bleiben können, denke ich, als ich die Treppen hinunter steige. Ach, nicht mal nur das Vorgesetztenverhalten – die ganze Branche, so ein riesiger Kindergarten. Noch 3 Stockwerke bis in die Freiheit. Im ersten Stock höre ich eilige Absätze über mir im Treppenhaus, kurz vorm Ausgang haben sie mich eingeholt. Es ist Bianca. Sie hat Tränen in den Augen. Ich blende sie aus, zünde mir eine Zigarette an. „Du hast mit Nico geschlafen!", schreit sie mich an. Oh mein Gott. Auch das noch. Ich hab mich vom Chef demütigen und feuern lassen und nun muss ich mir auch noch die Eifersuchtsattacke einer Frau mit einem IQ von knapp über 85 gefallen lassen. „Warum hast du das gemahahaaacht?", schnauft sie. „Das ist echt lange her, Bianca.", sage ich. Anstatt sich zu beruhigen, steigert sie sich immer weiter rein. „Ich bin so verliehiehiebt in ihn und ich ... ihihiiich weiß nicht, warum er so etwas tun würde, mich zu betrügen mit ... mit ausgerechnet diiiir", sie schnappt unter all den Schluchzern nach Luft. Ich auch. 'Mit ausgerechnet dir'. Heute ist wirklich mehr als nur Tag es Arschlochs. Ich fasse den spontanen Entschluss, dass es einfach nichts bringt, ihr auf eine nette Art und Weise zu erklären, dass das mit Nico und mir längst vorbei ist. Ich werde heute keine Unverschämtheiten mehr runter schlucken, das Fass ist voll. Was schläft er auch ausgerechnet mit mir. Das wird Folgen haben – zumindest ab genau dieser Sekunde. Ich zupfe an meinem ohnehin unvorteilhaften Babydoll-Top, strecke meinen Bauch heraus und sage: "Acht Monate ist es her, Bianca. Zumindest fast acht Monate. Dein toller Nico ist nicht, was er vorgibt zu sein. Er hat mich betrunken gemacht und dann hat er mich geschwängert." Endlich ist mein Übergewicht zu etwas gut. Leute wie ich können auch anders. Ich lasse sie allein und sich vor Elend krümmend vor der Agentur stehen und stolziere von dannen. Zwar ohne Job und ohne tatsächliche Schwangerschaft, dafür aber mit einem unerwartet guten Gefühl. Ich mache einen längeren Spaziergang, bevor ich bei Carmen und Rami im Laden vorbeischaue. An der Elbe entlang, ein Stück über den Kiez und schließlich durch den Walter-Möller-Park. Hier setze ich mich kurz mit Musik auf den Ohren auf eine Bank und versuche, über die jüngsten Geschehnisse nachzudenken. Aber mein Kopf ist leer und ich fühle nichts. Das muss der Schock sein, denke ich, während ich in den Zweigen eines Baumes zwei Vögel beobachte, die sich mit den Schnäbeln zu einem merkwürdigen Klumpen verformt haben. Wenn das die Balz ist, dann tut es mir leid. Und irgendwie, und das tut mir auch leid, fällt mir dieser total beschissene Spruch ein: „Menschen sind Engel mit nur einem Flügel: um fliegen zu können, müssen sie sich umarmen." Schwachsinn, denke ich. Zwei Vögel haben gemeinsam sogar vier Flügel. Und sie können zusammen absolut gar nichts. Wenn ich mich jemals auf dem Boden der Tatsachen befunden habe, dann heute. Ich hätte es mir immer irgendwie schlimmer vorgestellt. Hätte mir jemand vor einer Woche erzählt, was passieren würde, dann hätte ich nicht für möglich gehalten, hier heute auf dieser Bank zu sitzen und eigentlich absolut gefasst zu sein. Irgendwie desillusioniert aber gleichzeitig so ... frei. Während mich Anas „Whiskey" musikalisch beschallt, setze ich meinen Weg fort. Dabei beschleicht mich das Gefühl, dass ich dringend einen Drink brauche.

Could it be that this is not my time And what I need is a place somewhere deep in my mind So I drink my dreams on the rocks Whiskey is my only friend, the only one who holds my hand

Ich bin nicht mal ein besonderer Fan von Whiskey, aber Carmen hat noch eine Flasche Jim Beam im Laden. Ohne überhaupt nach einem Grund zu fragen, schenkt sie uns zwei Coffee To Go-Becher voll. Pur, ungekühlt und ohne Eis. „Prost, Paula", sagt sie. „Auf meine Mutter! Sie war wundervoll!"

„Sie war wundervoll", wiederhole ich und trinke. Huste. Trinke.

Rami kommt mit einer Kiste Bier aus dem Lager um einen der Kühlschränke aufzufüllen.

„Was ist hier denn los?", fragt er.

„Whiskey", sagt Carmen.

„Seit wann trinkt ihr denn Whiskey?", fragt er. „Seit jetzt!", sagt Carmen und prostet ihm zu. Er befüllt achselzuckend und wenig überrascht den Kühlschrank, dann stellt er sich zu uns. „Wie geht es dir, Paula? Was machst du hier? Hast du frei?" „Mein Chef hat mich gefeuert." Carmen, die gerade einen weiteren Schluck Whiskey genommen hatte, verschluckt sich und prustet. „Wie bitte?!" „Ja.", ich nippe an meinem Becher. „Warum?!", Carmen ist aufgebracht. Aufgebrachter als ich. Dabei habe ich nur meinen Job verloren und sie ihre Mutter. Ich bin von mir selbst überrascht, einen Gedanken zu haben, der überhaupt in die Richtung „nur ein Job" geht. Ich glaube, ich bin besessen von meinem Job. War besessen. Bis gestern. Bis Fit Shake. Und auf einmal, keine Stunde nach meiner Kündigung, ist es nur ein Job. Komisch. Ich muss unter Schock stehen. Zu meiner eigenen Überraschung lache ich. „Ich habe eine Präsentation versaut. Es ging dabei um einen Protein-Shake der das Essen ersetzen soll, und zwar langfristig. Ich habe das wohl ... zu wörtlich genommen. Haha. Also, ich habe meine Kampagnen-Testimonials Dinge sagen lassen wie ‚Seitdem ich dank Fit Shake endlich mit dem Essen aufgehört habe, habe ich viel mehr Zeit für mich.' und ‚Jeden Tag eine Stunde mehr Zeit fürs Training – dank Fit Shake.' - und: ‚Beim Alsterlauf hänge ich nun all meine Freunde ab. Und durch die gewonnene Zeit kann ich nun eine ganze Runde mehr laufen.' und bei den Business-Motiven: ‚Essen? In meinem Job ist das verlorene Zeit!' und ‚Endlich kann ich meine Mittagspause effektiv nutzen! Dank Fit Shake'. Ich pruste noch immer und auch Rami lacht. „Phaha, Essen! So eine Zeitverschwendung! Wer macht denn so einen Scheiß? Haha." Carmen schaut mich einfach nur schockiert an. „Paula! Du liebst doch deinen Job!" „Es ist nur ein Job." „Ich meine ... wie kann er dich nur rausschmeißen? Okay, wenn er die Kampagne nicht mag, das kommt vor. Ich mein ... was hast du dir dabei gedacht?! Trotzdem. Das kommt vor. Aber wie kann er dich einfach direkt rausschmeißen? Du hast all dein Herzblut in diesen Laden gesteckt." „Mein Chef ist der größte Ficker auf der Welt!", brülle ich und bemerke, dass ich ganz schön lalle. „Isso!", Carmen hebt ihren Coffee To Go Becher. Ein Kunde möchte eine Packung Marlboro und ein Bier. Wir stoßen mit ihm an. Dienstag Mittag, 13.30 Uhr. Ich stehe arbeitslos in einem Kiosk mitten in Altona und bin stockbesoffen. Als ich nach Hause schwanken will, zieht Carmen mich noch einmal zu sich und sagt „Übrigenns, Paulaha. Ich hab dem Ermittler deine Nummer zugeschdeckt! Der wollte nochma mit dir schprechen!" „Der'mittler?", frage ich. „Vom Morddezernat!", sagt sie. „Morddezernat", wiederhole ich und freue mich, dass sich das Wort betrunken hervorragend sagen lässt. „Al's klar!" Ich verlasse den Klönschnack und nehme ein Taxi. Als ich voll bekleidet in meinem Bett angekommen bin, klingelt mein Handy. „Moin, Clausen hier! Sprech ich mit Frau Groß?"

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