Читать книгу 12 fette Frauen - Cathrin Sumfleth - Страница 8
Erste Ermittlungen
ОглавлениеGegen Ein Uhr morgens stehe ich allein im Nachtlicht. Kuddel ist heut früh nach Hause gegangen, weil er morgen Hochzeitstag hat. Hochzeitstag. Nichts an Kuddel kam mir je verheiratet vor, aber nun gut. Ich nippe an meiner Flasche Astra, schlendere dann rüber zur Jukebox und treffe eine neue Musikauswahl. Schon ein wenig besser, aber immer noch langweilig. Ich überlege, einfach auf den Tresen zu steigen und zu performen, schüttle dann allein wegen der Vorstellung den Kopf (es läuft Europe: Final Countdown, da sind auf jeden Fall große Gesten möglich) und setze mich wieder auf meinen Barhocker. Keine Nachricht von Saïd, dafür 12 Nachrichten von meiner Schwester („Paula, kannst du mir am Wochenende mit der Steuer helfen? - Ich koch dir auch was Schönes!! - Also, das wäre echt total nett von dir. Wir sind auch allein, Heiner ist mit den Jungs übers Wochenende weg. - Dann machen wir uns einen Mädelstag *gg* - Sag mal, wie's dir passt. - Alles ok, große Schwester? - Gibt auch Kuchen!! - Oder Torte, wenn du magst - Hallooo?!?! - Alles gut bei dir, Fräulein? - PAULA! Ich rede mit dir!" ... ), einen Kettenbrief von Mutti (im Stil von "Ein kleiner Engel wacht heute Nacht über dich ... wenn du diesen Kettenbrief unterbrichst, tötet er dich im Schlaf!!") und eine von Ferdi, der fragt, ob wir uns treffen können. Gesendet um 0:31h, also noch gar nicht so lange her. Ich schreibe ihm, dass er ins Nachtlicht kommen kann, falls er noch wach ist. Dann beantworte ich die panischen Nachrichten meiner Schwester, die natürlich um diese Uhrzeit schon schläft, tippe meiner Mutter einen kurzen Text, der meine Meinung zu Kettenbriefen relativ deutlich macht („Hör auf, mir so einen Scheiß zu schicken! Sonst organisier ich jemanden, der wirklich dafür sorgt, dass alle Blumen in deinem Garten eingehen und du sieben Tage lang unreine Haut bekommst!"). Als ich den Blick vom Handy abwende, betritt Ferdi den Laden. Als hätte er hinter der nächsten Ecke gestanden und nur auf mein Go gewartet. „Hi", er kommt mit einem besorgten Lächeln auf mich zu und versucht, mich über den Tresen hinweg zu umarmen. „Hey", sage ich, "willst du 'n Bier?" Er nickt, ich reiche ihm ein Astra und mache mir auch ein neues auf. Jürgen hat schließlich gesagt, Getränke sind im Lohn enthalten. Die Jukebox spielt nun „Dancing with myself" von Billy Idol. Der Song meines Lebens. „Darfst du jetzt überhaupt Bier trinken?", fragt Ferdi mit ernster Miene. Ich verschlucke mich und spucke einen Schluck Bier über den Tresen, ein anderer sprudelt mir aus der Nase. Ferdi klopft mir auf den Rücken. „Geht schon", sage ich. Dann atme ich einmal tief durch und fahre fort: „Ich bin gar nicht schwanger." „Was?!", Ferdi schaut mich verwirrt an. „Nur dick", sage ich etwas kleinlaut. „Aber Bianca hat ..." „Ja", unterbreche ich ihn „Bianca." „Sie hat es allen erzählt. Zwar hinter vorgehaltener Hand, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es jeder weiß." Er schüttelt den Kopf. „Warum denkt sie sich so etwas aus?", fragt er ungläubig. „Nein, also, so war es nicht.", verteidige ich mich und werde immer kleinlauter. In dem Moment hatte mir die Idee so gut gefallen. „Ich hab so getan als ob. Weil sie doch jetzt mit Nico liiert ist. Nachdem nun die ganze Agentur weiß, dass wir mal was hatten, war sie schrecklich wütend auf mich und hat mich beleidigt. Da wollte ich ihr einfach eins auswischen, verstehst du." „Hm", macht Ferdi. „Nicht wirklich. Aber gut. Meinst du echt, dass sie mit Nico zusammen ist? Ich glaube, das ist eher eine Liaison der Gattung Meine kleine blonde Matratze. Ich mein, eine enge Beziehung hat der doch nur zu sich selbst." „Hm", mache ich. „Meinst du, ich hab jetzt einfach all ihre Hoffnungen zerstört?" „Na, vor allem sein Image unter den Kollegen!" „Weil jetzt alle wissen, dass er mit einer dicken Frau geschlafen hat?" „Nein, so ein Quatsch", er sammelt sich kurz. „Weil er mit dir geschlafen hat, Paula. Und dich angeblich geschwängert hat, ohne sich um dich und das Kind zu sorgen. Das hat sein Image zerstört.“ Er verdreht die Augen und spricht weiter: „Doch nicht der Fakt, dass er mit dir geschlafen hat. Das macht ihn doch eher zu einem Glückspilz." „Ja, klar", sage ich etwas grantig. Ist ja nett von Ferdi, dass er mich verteidigt. Aber man muss dabei ja nicht gleich unrealistisch werden. Wir trinken schweigend unser Bier. "War es bei Fit Shake wirklich so schrecklich?", frage ich nach einer Weile. Er zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung. Die haben ein absolutes Pokerface aufgesetzt. An manchen Stellen hat die Frau aus dem Marketing gelacht, worauf ich sie dann einfach charmant angelächelt habe. Am Ende der Präse hab ich mich das erste Mal umgesehen und Nico war einfach verschwunden. Na ja, ich hab mich für die Aufmerksamkeit bedankt, alle Hände geschüttelt, in Ruhe mein Notebook abgebaut und mich von der Marketingfrau zum Mittagessen mitnehmen lassen. Die haben da eine Kantine und hey - es gab zwar Salate, aber auch Pizza und anderes richtiges Essen. Sie heißt Jaqueline, sieht aber zum Glück nicht so aus und hat ein Schnitzel bestellt. Allerdings hat sie zu unseren Ideen nichts mehr gesagt, das dürfe sie nicht, meinte sie. Sie haben sich an dem Tag noch zwei weitere Agenturen angesehen und gestern noch eine und die Entscheidung fällen sie spätestens Anfang nächster Woche. Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir uns tatsächlich blamiert haben." Ich seufze. Manchmal ist der Kleine wirklich unglaublich naiv. „Weil sie dich angraben wollte", sage ich, „natürlich musste sie dir dafür ein gutes Gefühl geben." „Meinst du?", Ferdi grinst. „Schon, ja." „Jedenfalls ... als ich dann wieder in der Agentur war und nach dir gesucht habe, da hat Bianca mir erzählt, dass Nico dich gefeuert hat. Ihn habe ich übrigens auch seit der Präsentation nicht gesehen. Ganz merkwürdig." „Hm." „Ich bin froh, dass du nicht schwanger bist, Paula. Ein Kind von Nico ... das muss wirklich nicht sein." Ich habe Ferdi voher noch nie etwas sagen hören, das die Firma oder Nico selbst auch nur in irgendeiner Form anzweifelt. Er ist der loyalste Mensch der Welt. Und jetzt gibt es schon den zweiten negativen Kommentar von sich. Ich feiere einen kleinen inneren Reichsparteitag und schenke uns zwei Schnäpse ein. Um 3 Uhr mache ich den Laden zu. In Anbetracht meines konstant vorhandenen Pegels, fühle ich mich relativ nüchtern. Ferdi allerdings wirkt mächtig angetrunken. „Sollen wir noch zu dir gehen?", lallt er, „noch einen Schnaps nehmen?" „Neee", sage ich. „Oder Kaffee!", er hält mich am Arm fest. „Ne, lass mal. Du musst früh raus. Und ich hab eine Verabredung mit einem Ermittler vom Morddezernat." „Was hast du?!" „Erzähl ich dir wann anders mal in Ruhe." „Na gut!", er umarmt mich zum Abschied relativ lange, vermutlich, weil er sich selbst kaum auf den Beinen halten kann und wankt dann Richtung S-Bahn. Ich laufe zu Fuß nach Hause und performe unterwegs ein bisschen zu "MMMBop" von den Hansons und vermisse die 90er: da war die Welt noch voller unmöglicher Farbkombinationen, die aus unerklärlichen Gründen funktioniert haben. Und Leggings waren keine bequeme Kompromisslösung, sondern angebracht. Can you tell me who will still care? Mmmbop ba duba dop ba, du bop ba duba dop ba du - yeeeey, yeah!
Clausen geht bereits vor dem Gebäude auf und ab. Er zieht an seinem Zigarillo, während sein offener Trenchcoat im Hamburger Wind fast wie ein Superman-Cape hinter ihm her weht. Dem Betrachter wird somit ein guter Blick auf seine beeindruckende Plauze ermöglicht, welche sich unter einem dunkelblauen Wollpulli mehr als nur abzeichnet. Ich schüttle den Kopf über den romantischen Gedanken unserer Beziehung, den Carmen mir unterjubeln wollte. Als er mich sieht, bleibt er stehen und zeigt mahnend auf seine Uhr. „Sie sind spät dran!" „Entschuldigung. Ich unterschätze die Entfernungen innerhalb Hamburgs immer, wenn ich nicht zu Fuß gehen kann." Er nickt. „Ja, hier draußen fühlen wir West-Städter uns verloren. Das ist fast wie ein Aufenthalt südlich der Elbe. Kommen Sie." In seiner Hand hält er eine Liste, die aussieht, als hätte Carmen sie geschrieben. Es stehen Namen darauf: Vornamen, Spitznamen, meistens keine Nachnamen aber dafür die Stockwerke mit dem Vermerk „Tür ganz links" oder „Zweite Tür von rechts". „Ihre Freundin erinnert sich nicht an alle Namen, weiß aber tatsächlich von allen Frauen, wo im Haus wir sie finden", sagt Clausen. „Kein Wunder", sage ich, „sie hat ja selbst Jahre lang hier im Haus gewohnt." „Hm", macht Clausen. Ich frage mich, was er denkt. Dann stehen wir bereits bei Elfriede vor der Tür. „Diese Frau kenne ich", flüstere ich ihm zu und erinnere mich im selben Moment, dass mein Flüstern eigentlich Quatsch ist. „Sie hört sehr schlecht!" „Pauuula!", Elfriede fällt mir direkt um den Hals, beziehungsweise eigentlich eher um die Hüfte. Sie ist eine kleine, untersetzte Dame um die 80, mit langem grauem Haar, das sie immer zu einem hübschen Dutt zusammen steckt. In ihrer Wohnung duftet es nach Kuchen. Elfriede ist die Omi, die Carmen und ich uns immer gewünscht haben. Gelegentlich schauen wir bei ihr rein, um nach dem Rechten zu sehen. Nur die Gespräche mit ihr fallen einem zunehmend schwerer, denn eine Hörhilfe verweigert sie vehement. „Ist das dein Mann? Bist du jetzt verheiratet?", sie mustert Clausen kritischen Blickes, der sagt nur hilflos: „Ihr Kollege!" „Ja, ja! Alter Schwede!", sagt Elfriede. „Dass Sie wesentlich älter sind als meine Paula hier, das sehe ich. Ich bin vielleicht schwerhörig, aber nicht blind!". Dann wendet sie ihren Blick wieder mir zu: „Kommt rein, ihr Turteltäubchen! Der Apfelkuchen ist noch warm." Während wir in ihrer gemütlichen Küche Platz nehmen, beginnt Elfriede zum Glück von sich aus, über den Mordfall zu reden. „Es ist so eine furchtbare Geschichte, Paula. Die arme Maria! Sie war so ein guter Mensch. Als ich es letztes Jahr so im Kreuz hatte, weißt du noch? Da hat sie mir so viel im Haushalt geholfen. Ich kann einfach nicht verstehen, wie jemand so etwas tun kann". Sie stellt Clausen und mir zwei riesige Stücke gedeckten Apfelkuchen vor die Nase und setzt sich zu uns. „Haut rein, ihr Lieben!" Sie lächelt und spricht weiter: „Auch wenn ich sagen muss, ... wie heißen Sie eigentlich?", sie sieht Clausen prüfend an. Der kaut schnell zu Ende und streckt ihr die Hand entgegen. „Clausen!" - „Lauren? Was ist das denn für ein Name? Sind Sie etwa auch noch Franzose? Wir hatten hier auch mal einen Lauren im Haus, der war von ... genau, von Airbus gekommen! Aus Touluz!", sie spricht dabei Laurent und Toulouse betont deutsch aus. Clausen verzweifelt langsam, ich seh's in seinem Blick. „Nun ja, auch wenn Sie Franzose sind. Ich freue mich natürlich trotzdem! Die Paula, die hatte es ja auch immer nicht leicht mit den Männern. Genau wie die Maria. Nachdem ihr Mann weg war, da hat sie einfach nie wieder jemanden kennengelernt. Was wollte ich eigentlich sagen? Ach, war wohl nicht so wichtig. Aber die Maria, die hat das Beste daraus gemacht, wissen Sie. Hier wohnen so viele nette Leute im Haus und wir hatten ja einander," ihr Blick wird trüb, „Wir haben ja einander, das hat sie immer zu mir gesagt. Nachdem mein Willem gestorben ist, wissen Sie, Willem, das war mein Mann. Wir waren 55 Jahre verheiratet. Ich vermisse ihn an den meisten Tagen gar nicht so sehr, einfach nur, dass jemand da ist, das vermisse ich. Er war ein schwerfälliger Mann, ein richtiger Tunichtgut. Aber als dann auch noch Butschi gestorben ist, das war schlimm." „Butschi?", flüstert Clausen in meine Richtung. „Ihr Wellensittich", antworte ich. „Der Sittich, genau.", Elfriede hatte uns gehört. Komisch, als würde sie sich aussuchen können, was sie hört und was nicht. „Er konnte sprechen! Ein kluger Vogel war das. Und alt ist er geworden.", sie seufzt. „Elfriede, wir haben noch ein paar Fragen an dich", beginne ich vorsichtig. „Ja? Schieß los." „Wann hast du Maria das letzte Mal gesehen?" „Na, am Sonntag! Da haben wir Rommé gespielt. Dieses Mal waren wir bei Ayse und Hatice – die wohnen im fünften Stock. Du kennst doch Ayse?" Ich schüttle den Kopf. „Na, jedenfalls", fährt sie fort „Türkinnen, hört man ja am Namen, dass die nicht von hier sind. Aber ganz nett. Es gibt immer so klebriges Gebäck, wenn wir bei ihnen Karten spielen.", sie zieht die Augenbrauen hoch und wendet sich an Clausen. „Für mich persönlich ist das ja nichts, ich bleib lieber bei meinem Apfelkuchen." „Der ist auch wirklich gut", sagt Clausen. „Eben", sagt Elfriede, „da ist man besser auf der Hut! Man weiß ja nie genau, da hängen Teppiche an den Wänden – wer macht denn so etwas? Und der Vater spricht kein Wort Deutsch, das mach das Plaudern etwas schwierig. Aber am Sonntag waren nur die Mädchen da. Da haben wir es uns ganz gemütlich gemacht. Eine aus unserer Rommé-Gruppe probiert jetzt Low-Carb, das ist Englisch für wenig Kohlenhydrate. Aber ich bin zu alt für eine Diät. Jedenfalls, Maria wollte mitmachen, glaub ich. Aber du kennst, ich mein, du kanntest ja Maria, Paula. Und ihre Vorliebe für Kartoffelchips. Und Dinge, die man mit Käse überbacken konnte. Sie hat einmal gesagt, solange man auf dieser Welt noch Dinge mit Käse überbacken kann, wird sie den Glauben an das Gute nicht verlieren." „Na, das ist mal ein Wort", Clausen nickt. „Ja, genau! Es war Mord!", sagt Elfriede verschwörerisch. „Grausam! Ich hoffe, sie schnappen den Dreckskerl!" „Dreckskerl?", fragt Clausen. „Na, würde eine Frau so etwas Furchtbares tun? Alle hier im Haus haben Maria gemocht. Sie hatte nie mit irgendwem Streit. Nur einmal ... mit Nilüfer, aus dem Siebten. Aber ich weiß nicht mehr, worum es damals ging und die haben sich auch wieder vertragen. So, ihr Süßen, es ist langsam Zeit für mein Mittagsschläfchen. Schön, dass ihr mal reingeschaut habt!" Sie bringt uns zur Tür und umarmt uns zum Abschied. „Sag mir, wenn du hörst, wer das getan hat, ja Paula?", dann dreht sie sich zu Clausen. „Und Lauren! Kümmern Sie sich gut um meine Kleine!", Clausen nickt und wünscht Elfriede noch einen schönen Tag. „Ja, man sieht, dass Sie sie mögen", schmunzelt diese und schließt die Tür. Wir nehmen die Treppe in den ersten Stock. „Aber ein guter Apfelkuchen war das", sagt Clausen. „Schön, dass er Ihnen geschmeckt hat, Lauren". Clausen sieht mich grantig an, ich weiß aber, dass er insgeheim amüsiert ist. Man muss Elfriede einfach ins Herz schließen. Ob mein Leben wohl anders verlaufen wäre, wenn ich so eine Oma gehabt hätte? Vermutlich wäre ich einfach nur noch dicker geworden. Während ich so in Gedanken bin, stehen wir schon vor Gisela Bauers Tür. Sie scheint nicht Zuhause zu sein. Clausen seufzt. „Sollen wir nicht vielleicht lieber mit dem Aufzug in den 11. Stock fahren und dann die Treppe runter gehen? Das scheint mir unkomplizierter." Ich lache. „Wie Sie meinen." Für den 11. Stock steht "Cindy – zweite Tür von rechts" auf unserer Liste. Der liebliche Name „Krätzer-Wohlberg" ziert hier ein kitschiges Keramikschild, das an der Tür hängt. Unter dem Namen sind drei Enten abgebildet, Papa-Ente ist mit Edding verunstaltet. Clausen drückt auf den Klingelknopf. Eine Frau Mitte 40 in Bademantel, Schlappen und mit Papilotten im Haar öffnet uns die Tür, in ihrem Mundwinkel hängt eine Kippe. „Was is?", schnauzt sie uns an. „Clausen vom Morddezernat, Moin. Das ist Frau Groß. Sind Sie Cindy? Wir hätten einige Fragen im Mordfall Maria Kachowski." „Seh ich so aus oder wat?!", sie verdreht theatralisch die Augen, richtet ihren Kopf zur Seite und brüllt: „Cindy!" Als sich in der Wohnung nichts tut, probiert sie es erneut: „Cindy, los du kleine Tonne, roll rüber! Die Polizei is' da!" ... „CINDY, wird's bald?" Man hört nun, dass sich eine Tür öffnet. Ein moppeliger Teenager steht im Flur und starrt uns mit großen Augen an. „Hallo?" „Cindy, Clausen vom Morddezernat, hallo. Dürfen meine Kollegin Frau Groß und ich reinkommen?" "Phaha", macht Cindy und sieht mich an. "Frau Groß in Mode, oder wat? Von der Fit for Fun sind Sie beide jedenfalls nicht.“ „Cindy!", ihre Mutter haut ihr von hinten gegen den Kopf. „Wat, Mutti? Du heißt Krätzer, als wär das besser. Ja, okay, kommse rein." Cindy tippelt vorweg, wir gehen an ihrer Mutter vorbei, die noch immer den Kopf schüttelt, dabei murmelt sie etwas von wegen „Das Kind, einfach hoffnungslos, ganz der Vatter ...". Wir setzen uns zusammen mit Cindy ins Wohnzimmer, das auf den ersten Blick wirkt wie eine Abstellkammer. Zwischen Wäscheständern und irgendwelchen Kisten befindet sich ein Sofa. Auf dem Tisch stehen nur offene Bierdosen, Weinflaschen und Aschenbecher. „Rauchen 'se?", fragt Cindy und geht einen Aschenbecher ausleeren. „Wolln se 'n Bier?" „Danke Cindy, wir sind im Dienst", sagt Clausen, holt aber seine Zigarillos raus. Cindy hält mir ihre Zigaretten hin. Ich bediene mich, auch wenn ich das nach circa fünf Minuten mangels Atemluft bedaure. „Also Cindy, du kanntest Maria?", fragt Clausen. „Jo", sagt Cindy. „Hattest du sie gern?", hakt er nach. „Wat heißt, gern haben. Sie war nett.", sagt Cindy. „Ja?", bohrt Clausen weiter. „Ja. Sie hat mir immer mit den Hausaufgaben geholfen. Se ham ja meine Mutter gesehen. Deren Allgemeinbildung hört bei der dritten Klasse auf." Sie erzählt weiter: „Ich hab dank ihr meinen Erweiterten geschafft. Und ab nächsten Monat 'ne Lehrstelle." „Oh", sagt Clausen. „Ja, das hättn se jetzt nicht gedacht, wa", fährt Cindy ihn an. „Nein, ich meine, äh", er sucht nach den richtigen Worten. „Das ich toll", schreite ich ein. „Als was machst du die Ausbildung?" „Als Außenhandelskauffrau", sagt Cindy und sieht sich suchend um, leise spricht sie weiter, „dann kann ich endlich hier ausziehen." Wir nicken. Bei der letzten Rommé-Runde war Cindy nicht. Ihre Mutter hatte ihr Hausarrest gegeben, da das Altglas nicht weggebracht war. „Wenn se mich fragen, ist das nicht gerecht", sagt Cindy, „aber wat is schon gerecht im Leben, wa. Maria, die war echt in Ordnung. Und nun ist sie tot. Das Leben ist einfach kacke, so isses nämlich. Und alle, die mir mit diesem Fataloptimismus kommen, von wegen jede Hürde nehmen und so, dem spuck ich persönlich ins Gesicht." Sie drückt ihre Kippe aus. Fataloptimismus. Verdiente Mittlere Reife. Wir verabschieden uns von Cindy und wünschen ihr alles Gute. Ihre Mutter kriegen wir nicht mehr zu Gesicht. „Krass", sage ich, als wir auf dem Weg in den 10. Stock sind. „Tja", Clausen seufzt, „ein leichtes Leben hat in so einem Wohnkomplex vermutlich niemand. Aber immerhin versuchen einige, das Maximum rauszuholen. Und das zu sehen, ist doch eigentlich gut." Ich bin überrascht über seine fast einfühlsamen Worte, dann stehen wir auch schon vor der nächsten Tür. Latifa, die sofort öffnet, schätze ich auf Mitte 20. Sie ist unfassbar kurvig, dunkelhäutig und stark geschminkt. Als wir zu dritt in ihrer winzigen Küche sitzen, erzählt sie uns, dass sie als Zwölfjährige aus Südafrika nach Deutschland kam. Ihr Vater war dort Busfahrer und verstarb bei einem Unfall, ihre Mutter kratzte darauf ihre letzten Ersparnisse zusammen und fing mit Latifa in Hamburg ein neues Leben an. Etliche Putzjobs später traf ihre Mutter dann „die Kartoffel ihres Lebens", wie Latifa es verachtungsvoll aussprach. „Der hatte schon Kinder. Weiße, schlanke Kinder. Von da an war ich abgeschrieben." Sie schenkt uns ganz unaufgefordert ein Glas Limo ein und stellt etwas Knabberzeug auf den Tisch. „Bedient euch! Na, jedenfalls, als ich endlich diese bescheuerte Sprache gelernt hatte, war es auch schon zu spät für einen guten Schulabschluss. Jetzt geh ich zur Abendschule und putze ... wie meine Mutter. Ohne, dass wir überhaupt Kontakt haben", sie verdreht die Augen, „Sie wäre sicher stolz auf mich." „Abendschule ist doch super!", sage ich. „Super?", sie schaut mich irritiert an. „Hast du mal in Steilshoop eine Abendschule besucht? Die Leute können teilweise nicht mal ihren eigenen Namen schreiben." Clausen lacht, verschluckt sich fast an einer Erdnuss, lacht aber weiter. Latifa und ich sehen uns irritiert an. Das Thema ist gerade eigentlich viel zu Ernst und was sie da gesagt hat, war viel mehr die traurige Wahrheit als ein Witz. Aber in Anblick des prustenden, verschrobenen Ermittlers, der mittlerweile schon rot anläuft, kann sie nicht anders, als mit einzustimmen. Ich trinke einen Schluck Limo und grinse. „Die Menschen sind teilweise wirklich unfassbar dumm", fährt sie fort, als Clausen sich beruhigt hat. „Dafür brauchen sie nicht mal einen Migrationshintergrund, glauben Sie mir. Nach meinem Unterricht bin ich abends häufig noch zu Maria rauf gegangen und habe ihr davon berichtet. Sie hat meine Lage gut verstanden. Ihre Tochter, Carmen, ist damals heimlich aufs Gymnasium gegangen, wussten Sie das?" Ich schüttle den Kopf. „Dass sie aufs Gymnasium gegangen ist, das wusste ich. Aber heimlich, nein, davon hatte ich keine Ahnung." „Hier im Haus erzählt man das besser nicht zu laut. Die Leute denken dann nämlich, man würde sich für etwas Besseres halten. Maria hat damals allen erzählt, Carmen würde ein Praktikum in einem Nagelstudio machen. Das war nämlich ganz in der Nähe ihrer Schule", jetzt lacht Latifa von sich aus. "Offiziell war Carmen drei Jahre lang Praktikantin im Nagelstudio. Und damit sie nicht auffliegt, hat sie in den Schulferien und an manchen Nachmittagen unter der Woche wirklich dort ausgeholfen." Carmen hat mir tatsächlich schon oft die Nägel gemacht – ich hatte es aber nie hinterfragt. Jetzt schließt sich der Kreis. Ich bin beeindruckt von meiner Freundin und ihrer Mutter. Ich wusste schon immer, dass sie kluge Frauen sind. Aber dass Maria hier im Haus tatsächlich auf einer inoffiziellen Bildungsmission war, erfüllt mich urplötzlich mit so viel Stolz, dass ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. „Ich habe sie übrigens nicht ermordet, falls Sie deswegen hier sind", sagt Latifa. „Maria war meine Freundin. Bei manchen Nachbarn hier habe ich tatsächlich schon mal drüber nachgedacht, sie vom Balkon zu schubsen", sie friemelt an einer Haarsträhne herum, die sich an ihrem großen Ohrring verfangen hat. „Die wohnen immerhin in Steilshoop, sprechen selbst kein Deutsch, auch wenn es ihre Muttersprache ist, aber als Schwarze wirst du trotzdem immer angestarrt, egal wie sehr du versuchst, dich zu integrieren." Ich bin nur wenig von dem überrascht, was sie erzählt. Dummheit und Intoleranz gehen zu oft Hand in Hand. Das sage ich auch. Sie stimmt mir zu und lächelt. „Hatte Maria denn irgendwelche Feinde im Haus? Also, gab es irgendwen, der Maria nicht mochte?", frage ich. Sie schüttelt lange den Kopf. „Nein, niemand. Maria war beliebt, immer freundlich und wirkte so harmlos. Mir fällt wirklich niemand ein, der ihr so etwas antun würde." Schweigen. Dann hat Clausen noch eine Idee: „Haben bei Ihnen schon einmal die Zeugen Jehovas geklingelt?" Sie lacht. „Hier? Nein! Also ... Entschuldigung. Aber das sind doch auch meistens nette ältere Damen, die sich auf ein Käffchen mit ins Wohnzimmer setzen und über ihre Weltanschauung plaudern. Wäre ich eine kleine Omi und hätte gewisse Wertvorstellungen – ich würde zum Plaudern nicht in diese Gegend kommen. Vielleicht, wenn ich Drogen verkaufen wollen würde. Aber die Zeugen Jehovas, nein. Die waren nie hier. Zumindest nicht bei mir." Erst als Latifa sich dafür entschuldigt, dass sie sich jetzt für die Abendschule fertig machen muss, wird uns bewusst, dass es schon nach 18 Uhr ist. „Feierabend!", ruft Clausen fröhlich, schüttelt Latifa die Hand und wackelt euphorisch zur Tür. Ich bedanke mich bei ihr und sie gibt mir ihre Nummer, falls noch Fragen aufkommen sollten oder sie irgendwie helfen kann. Dann drückt sie mich herzlich. „Paula! Beeilen Sie sich!", ruft Clausen aus dem Hausflur. Gefühlte Sekunden später sitzen wir in seinem Dienstwagen. „Haben Sie noch etwas vor?", frage ich ihn. Er nickt. „Meine Frau kommt zum Essen vorbei." „Ihre Frau." „Ja. Da staunen Sie, oder? Ich bin verheiratet." „So erstaunlich finde ich das nicht.", ich mache eine Pause, „Na gut, ein bisschen schon." Er lacht. „Verheiratet, aber getrennt." „Oh", sage ich und will noch etwas Mitfühlendes ergänzen, aber da redet er schon weiter. „Ja. Und heute will sie mit mir über etwas Wichtiges sprechen. Ich schätze, sie ist endlich zur Vernunft gekommen." Voller Vorfreude trommelt er zu einem schrecklichen deutschen Schlager, der im Autoradio läuft, auf dem Lenkrad herum. Sie werden wirklich 10 und wachsen dann nur noch, denke ich. Clausen setzt mich an der Stresemannstraße ab und ich laufe das letzte Stück zu Fuß nach Hause. Glen Hansard schreit mir durch meine Kopfhörer „Didn't he ramble" in die Ohren und ich denke, ja, das ist Clausens Song. Und gleichzeitig bin ich fast sicher, dass seine Frau heute Abend nicht zu ihm zurück kommen wird. Es ist weder Eifersucht, noch irgendwie böse gemeint – es ist einfach nur so ein Gefühl.