Читать книгу 12 fette Frauen - Cathrin Sumfleth - Страница 7
Zwölf fette Frauen
ОглавлениеUm 23.30 Uhr werde ich wach und fühle mich eigentlich relativ ausgeschlafen. Mir ist ein bisschen flau und ich habe das Gefühl, mich unter einer Glasglocke zu befinden. Alles, was heute passiert ist, ist ganz weit weg. Als ich mich gerade dazu entschieden habe, mir einen Tee zu machen, klopft es an der Tür. Als würde das zu dieser Uhrzeit ganz regelmäßig passieren, mache ich wie selbstverständlich auf.
Es ist Ulla. Sie streckt mir eine Tasse entgegen. „Es ist eine ganz besondere Kräutermischung", sagt sie. „Die wird dir nach diesem Tag guttun."
Ich hake einfach nicht weiter nach und trinke einen Schluck. „Komm rein, Ulla."
Sie gleitet an mir vorbei und platziert sich auf meinem Wohnzimmersofa.
„Hat er dich bereits kontaktiert?", fragt sie.
„Wer, er?"
„Na, der Mann im Trenchcoat!"
„Der Ermittler? Ja. Er hat vorhin angerufen, wir treffen uns morgen Mittag an den Landungsbrücken ... aber woher weißt du davon?"
„Ich sah ihn im Kaffeesatz. Er ist dein Schicksal, Paula."
Ich lache in meinen Tee. „Mein Schicksal", wiederhole ich. Ulla nickt. „Ulla, er ist bestimmt über 60 Jahre alt. Und wiegt bei einer Körpergröße von 1,79 m mindestens 130 Kilo. Und Haare hat er auch nur noch wenige, ich weiß nicht, ob ..." Sie fällt mir ins Wort: „Nicht im romantischen Sinne, du Dummerchen." „Hm", mache ich. Vielleicht im beruflichen, denke ich. Ich hätte ja nun Kapazitäten. „Das auch!", sagt sie. „Hä?", sage ich. „Mehr verrate ich nicht." Sie erhebt sich von meinem Sofa. „Trink deinen Tee, mein Schatz", sagt sie und tänzelt aus meinem Wohnzimmer in Richtung Wohnungstür. Jetzt erst bemerke ich die Katze, die im Türrahmen sitzt. Mauz! „Komm Karlchen, komm mit Mama", sagt Ulla zu der Katze. Diese macht ein lautes Schnurrgeräusch. „Wir sehen uns, Paula." Bevor ich mich überhaupt von ihr verabschieden kann, ist sie auch schon weg. Ich trinke weiter an meinem Tee und schaue auf mein Handy. 76 neue Nachrichten aus 7 Chats. Okay. Neben meiner Mutter (wieder so ein Kettenbrief; seitdem sie Whatsapp für sich entdeckt hat, bekomme ich jeden Tag mindestens drei davon), haben auch Carmen („Ih geh jetzz schlf! - schlafen! - Dein Chef is ein FICKER!!!11“), Ferdi („Paula, alles okay bei dir? - Paula, bitte sag doch was! - Ich mach mir Sorgen. - Paula!“) und Carmens Onkel Jürgen („Schätzelein, komm doch heut ins Nachtlicht! Rami hat mir von deiner Kündigung erzählt. Ich geb einen aus!!"). Da ich ja in Kleidung geschlafen habe, muss ich mir nur kurz die Haare kämmen und die Augen nach schminken. Fünf Minuten später bin ich auf dem Weg ins Nachtlicht. Als ich über die Reeperbahn laufe, bin ich etwas überrascht, dass hier sogar an einem Dienstag Abend so einiges los ist. Mein Blick bleibt an einem ziemlich gut gekleidetem Transvestiten hängen, als ein streitendes Pärchen mich rechts überholt. Genau genommen läuft er vor ihr weg und sie folgt ihm, laut schluchzend. „Schüüüüsch! Hau ab!", schreit er. „Neiiheiiiin", heult sie. „Aber es ist aus mit uns!", er dreht sich um und schaut sie wütend an. Kleinlaut fragt sie, immer noch weinend: „Aber wiesoo-hoo-hoo denn?" Er darauf: „Weil du dumm bist, Digger!", dreht sich um und verschwindet schnellen Schrittes um eine Ecke. Sie bleibt mit einem hysterischen Heulkrampf stehen. Ich höre sie noch immer weinen, als ich schon den Hans-Albers-Platz erreicht habe. Weil du dumm bist, Digger. Ich kann ihn verstehen, mangelnde Intelligenz ist zweifelsohne ein Trennungsgrund. Ein Grund, aus dem ich mich auch schon viel eher hätte trennen sollen. Fehlende Intelligenz wäre in der letzten Beziehung mein Hauptgrund gewesen – bis zu dem Punkt, an dem ich von der bestehenden Ehe erfahren habe, natürlich. Aber hinter einer rosa Brille lassen sich nicht einmal die wirklich relevanten Dinge erkennen. Jemanden zu finden, der so ist wie ich, habe ich mittlerweile aufgegeben. Leute wie mich gibt es anscheinend nicht. Das Nachtlicht befindet sich in einer kleinen Seitenstraße, unweit vom Hans-Albers-Platz. Jürgen ist tief in ein Tresengespräch mit Stammgast Kuddel verwickelt, als ich die Kneipe betrete. „Moin", grüße ich in die Runde. Kuddel nickt mir zu, Jürgen schenkt uns direkt einen Schnaps ein. „Für dich, meine Lütte", er klopft mir von der anderen Seite des Tresens aus auf die Schulter, nachdem ich neben Kuddel Platz genommen habe. „Da ist was los in der Welt, wa", er schüttelt den Kopf. „Das glaubt einem ja keiner!" Er hebt seinen Schnaps und prostet Kuddel und mir zu. „Auf Maria! Und darauf, dass es immer weiter geht!" „Auf Maria!", lallt Kuddel. Es ist nicht sein erster Schnaps heute. „Auf Maria!", sage ich. Wir stoßen an und trinken. Ich hasse Jägermeister eigentlich, aber aus gegebenem Anlass schmeckt er mir heute irgendwie besser als sonst. „So ... jetzt erzähl doch mal", Jürgen stützt seine Arme auf den Tresen und lehnt sich zu mir vor, „was war los auf deiner Arbeit?" „Mein Chef ist mit meiner Kollegin zusammen, nachdem er mit mir geschlafen hat!", ich wundere mich selbst, dass das der erste Satz ist, den ich dazu sage. „Dann habe ich eine Präsentation versaut, er hat mich vor all meinen Kollegen eine ‚dicke Frau' genannt, meine Arbeit kritisiert und mich erniedrigt. Und dann, dann habe ich deutlich gemacht, dass ich sein Verhalten nicht länger akzeptieren kann ... und dabei wohl versehentlich erwähnt, dass zwischen uns was lief. Also, nicht versehentlich erwähnt, sondern durch die Agentur geschrien. Dann hat er mich gefeuert. Und meine Kollegin, mit der er jetzt zusammen ist, ... tja, die ist mir dann hinterher gelaufen. Weil sie es natürlich nicht so töfte fand, zu hören, dass wir mal, nun ja. Und dann, dann ist mir wohl raus gerutscht, also, dass ich von ihm schwanger bin. Das stimmt natürlich gar nicht. Aber sie hat mich beleidigt und mir ist einfach der Kragen geplatzt. Ich konnte die ganze Scheiße in dem Laden nicht mehr ertragen, weißt du. Mein Freund ist nicht nur weg, sondern auch verheiratet. Maria ist tot. Und warum verdammt noch mal quäle ich mich jeden Tag aufs Neue in dieses Irrenhaus? Das kann es doch nicht sein. Jürgen, ich werde dieses Gefühl nicht los, dass etwas fehlt in meinem Leben. Dass es das noch nicht gewesen sein kann, weißt du." „Oh je", nach meinem emotionalen Ausbruch sammelt Jürgen sich kurz und füllt unsere Gläser auf. „Komm, wir trinken noch einen!", sagt er. „Ja, einen könn' wir noch!", ruft Kuddel. Ich schüttle mich vom Jägermeister, fühle mich aber zugleich irgendwie angenehm entspannt. Jürgen ist vermutlich der beste Zuhörer, den es gibt. „Weißt du, Paula", sagt er, „in meinem Leben habe ich mich nie so gefühlt, als würde etwas fehlen. Keinen einzigen Tag lang. Es war perfekt. Natürlich haben wir uns häufig gefragt, wo Jenny ist, aber ich war für Maria da und sie war für mich da. Als meine Frau mich verlassen hat, als ich nach der Scheidung das Haus verkaufen musste, in all der Zeit war Maria immer für mich da. Ich glaube, ich habe ihr nie gezeigt, dass sie das Beste war, in meinem Leben. Meine einzige Schwester. Ich war vier Jahre alt, als sie geboren wurde. Sie war mein Ein und Alles, vom ersten Tag an", er holt kurz Luft, ringt mit den Tränen, fasst sich schnell wieder. „Weißt du, Paula, wir können uns die Hand drauf reichen. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn etwas fehlt." Wir trinken noch ein paar Jägermeister und beschließen ein Abkommen: So lange ich ohne Job bin, übernehme ich Carmens Schichten im Nachtlicht, immer Mittwoch und Freitag Abend. Und nach Absprache, falls Jürgen auch mal etwas mehr Zeit für sich braucht, springe ich auch für ihn ein. „Dir vertraue ich den Laden gern an!", sagt er beherzt und nimmt mich zum Abschied in den Arm. Um 4 Uhr liege ich im Bett und ärgere mich ein bisschen, Clausen vom Morddezernat schon in seiner Mittagspause zu treffen. Aber eigentlich darf ich mich nicht beschweren, denn wenn ich in den nächsten Tagen eine Sache übrig habe, dann ist es Zeit.
„Was werden Sie also mit all der Zeit anfangen?", fragt Clausen mich.
Wir hatten uns eine ganze Weile über Maria, Carmen, Rami und Jürgen unterhalten. Darüber, ob sich Maria in der letzten Zeit verändert habe, ob irgendwas Ungewöhnliches vorgefallen sei, von dem sie berichtet habe. Mir fiel nur der attraktive Zeuge Jehovas ein, der in den letzten Wochen vermehrt bei Maria vor der Tür stand. Carmen und ich hatten sie für die Geschichte ziemlich auf den Arm genommen, bis Maria irgendwann genervt sagte, dass er ohnehin viel zu jung sei und sie es sich zudem auch nicht vorstellen könne, Seite an Seite mit Tigern im Paradies zu leben. Mittlerweile geht unser Gespräch nach und nach über zu ganz normalem Smalltalk, wobei Clausen immer noch ein wenig klingt wie bei einer Zeugenbefragung. „Also, Paula, werden Sie die Zeit sinnvoll nutzen?" Er stochert mit seinem Piekser in den Pommes herum, bis er unter all der Mayo endlich einen erwischt hat. Wir stehen draußen vorm Imbiss Eck an den Landungsbrücken. Bis heute war ich mir sicher gewesen, dass hier nur Touristen nach einer Hafenrundfahrt einkehren. Clausen hatte das verneint und mit einem „hervorragenden Kartoffelsalat" begründet, dann aber doch Currywurst Pommes bestellt. Ich nippe an meiner Cola und denke nach. „Vielleicht schreibe ich ein Buch", sage ich. „Ein Buch?", er zieht eine Augenbraue hoch. „Ja, warum denn nicht?", ich sehe in kritisch an. Eine von wenigen Haarsträhnen weht im Wind, etwas Mayo hängt in seinem Mundwinkel. „Das stimmt", er lächelt fast freundlich, „Warum eigentlich nicht? Sie sind eine wortgewandte junge Frau mit einem scharfen Verstand. Haben Sie schon Genre und Titel im Kopf?" - „Hm! Ich dachte an 'DJ Dumpfbacke und die Alien-Invasion auf dem Damenklo'". Er schaut verwundert. „Wird das ein Sci-Fi-Roman?" - „Nein. Eine Liebesgeschichte." Jetzt müssen wir beide lachen. Der permanente Restalkohol in meinem Leben macht mich anscheinend albern. „Haben Sie mal über einen Kriminalroman nachgedacht?", fragt er ernst. „Nein, um ehrlich zu sein nicht", sage ich und schüttle vielleicht etwas zu energisch den Kopf. „Na, nun mal nicht so ablehnend, junge Dame!", sagt er. „Ich wollte Ihnen eben einen Vorschlag unterbreiten!" Ich runzle die Stirn. „Ja?" „Ja! Wie Sie wissen, gibt es einen Mordfall zu lösen. Es scheint, als kannte Maria all ihre Nachbarinnen. Auf jeder Etage mindestens eine." „Stimmt!", rufe ich, „die Kartenrunde!" „Die Kartenrunde?" „Ja", sage ich, „die haben sich jeden Sonntag getroffen und Rommé gespielt." „Waren alle Frauen der Kartenrunde aus dem selben Haus?" „Alle aus dem Haus, ja. Von jeder Etage eine! Sie haben immer Scherze drüber gemacht." „Also, 12 Frauen?" „Ganz genau, Clausen. In einem 12stöckigen Gebäude macht das 12 Frauen. Man merkt, dass Sie beim Morddezernat arbeiten!", antworte ich spitz: "12 fette Frauen, falls Sie es ganz genau wissen wollen." „12 fette Frauen, die sich zum Rommé getroffen haben?" „Ja. Zum Rommé, zum Quatschen ... zuletzt wollten Sie zusammen die Brigitte-Diät ausprobieren." „Herrgott. Die Brigitte-Diät", er schüttelt den Kopf. „Genießen Sie ruhig Ihre Currywurst", sage ich. Er lacht. „Wissen Sie, Frau Groß, wenn Sie Interesse haben ... begleiten Sie mich. Morgen werde ich die 11 verbleibenden Frauen vernehmen! Es wäre sicher eine gute Inspiration für Ihren ... nun ja, Sci-Fi-Krimi." „Okay.", sage ich. „Okay?", er sieht mich prüfend an. „Vielleicht findet sich irgendwo noch eine Lovestory, so am Rande. Im Roman würde ich Wert darauf legen, denn in meinem eigenen Leben sieht das eher mau aus." „Wem sagen Sie das!", seufzt Clausen und schmeißt seine Currywurst-Pappe in den Mülleimer. „Morgen um 13 Uhr vor dem Wohnkomplex, ja?" Ich nicke. „Seien Sie pünktlich. Bis dahin!", wir nicken einander zu und er stapft um die nächste Ecke. Ich stelle mich noch eine Weile an den Fähranleger, bis ich mich dazu entschließe, mit der Fährlinie 62 zum Elbstrand zu fahren. In Övelgönne laufe ich eine Weile mit Musik am Wasser entlang, performe ungestört zu theatralischen Lovesongs und überlege, ob ich Ferdi langsam antworten sollte. Irgendwie wird mir bei jedem Gedanken an die Arbeit ein wenig übel und ich möchte jeglichen Kontakt soweit hinauszögern wie möglich. Auf der anderen Seite scheint er wirklich besorgt zu sein – um mich und meine angebliche Schwangerschaft. Ich entscheide mich für ein kurzes „Läuft! Mach dir keinen Kopf, ich komm zurecht" und frage mich, ob ich wirklich zurecht komme. Nach einem langen Elbspaziergang steige ich in den Bus und fahre nach Altona, wo ich Carmen und Rami im Klönschnack einen kurzen Besuch abstatte. Carmen hat bereits von Jürgen erfahren, dass ich in den nächsten Wochen ihre Nachtlicht-Schichten übernehmen werde, die erste sogar schon heute Abend. Sie nimmt mich begeistert in die Arme. „Du bist die Beste, Paula!" „Ist schon okay", sage ich. „Du musst dir echt mal ein bisschen Zeit für dich nehmen." „Sag ich ja!", ruft Rami, der gerade nebenan noch ein paar Aufbackbrötchen aus dem Ofen holt. Das riecht man. Hmmm ... langsam kommt mein Appetit zurück. Normalerweise hätte ich mir ganz bestimmt auch eine Currywurst bestellt, aber durch meinen Kater und das dazugehörige Unwohlsein (verdammter Jägermeister), hat sich meine Nahrungsaufnahme heute bis jetzt nur auf eine Flasche Cola beschränkt. Da ich alles andere als ein Fit Shake-Testimonial bin, und garantiert keins werden will, verlange ich eins der Brötchen und berichte Carmen und Rami kauend von meiner kommenden Karriere beim Morddezernat. Sie staunen schon ein wenig. „Meinst du, er will dich angraben?", fragt Carmen und schaut angewidert drein. „Oh Gott, nein!", ich schüttle energisch den Kopf. „Auf keinen Fall!" „Natürlich will ich, dass der Fall gelöst wird. Aber eine Liaison zwischen dir und dem uralten Ermittler ... das wäre ja schon etwas dubios", fährt sie fort. „Was für eine merkwürdige Anmache von ihm", sagt Rami. „Nur, weil er ihr nicht gleich ein komplettes Bollywood-Musical vorgetanzt hat ... weißt du, Rami, für einen Deutschen Mann ist das ziemlich offensiv, Paula zu Zeugenbefragungen mitzunehmen , geradezu verwegen", Carmen zieht beide Brauen hoch, dann lachen Rami und sie. Es sind definitiv der gezielte Rassismus von beiden Seiten und ihr absurder Humor, der die beiden selbst jetzt eng zusammenhält. Und viel, fast abartig viel Zuneigung, die sich in jedem ihrer Blicke widerspiegelt. Manchmal beneide ich die beiden. Vielleicht ist das die Art von Liebesgeschichte, die ich in meinen Sci-Fi-Kriminalroman integrieren sollte. „Paula! Pau-la-ha! Komm zurück in unsere Welt!", Carmen steht neben mir und tippt mich an. „Tagträumer!" „Oh sorry", sage ich, „ich habe gerade überlegt, wie ich eure Beziehung kunstvoll in meinen neuen Sci-Fi-Love-Krimi einbauen kann." „Haha! Rami wird so ein kleines Alien, mit Turban und einem Indischen Dialekt." „Wenn überhaupt, dann Akzent", sagt Rami. „Bayrisch ist ein Dialekt!" „Bayrisch wäre auch lustig", entgegnet Carmen. „Ja, Servus! Un grüas Gott z'samme! Wo koann I a schönes Madl aas dem Ghetto treff'n? - Joa, da gens a moal nach Steiiilshoap! Da findens doann aane!" Sie prustet. Die beiden haben sich kennengelernt, als Rami, der aus Altona kommt, das erste Mal in seinem Leben Steilshoop betreten hat, um dort ein Keyboard abzuholen, welches er auf ebay gefunden hatte. Beim Einparken in einem Hinterhof hätte er beinahe eine kesse Blondine überfahren, die mit dem Fahrrad eine Abkürzung nehmen wollte und nun drauf und dran war, ihn zu verprügeln. Aber nur wenige abfällige Bemerkungen später wurde klar, dass diese Begegnung die Begegnung ihrer beider Leben sein sollte. Rami spielte ihr ein schlechtes BonJovi-Cover auf seinem neuen Keyboard vor, sie lachte sich darüber kaputt und drei Monate später zog Carmen zu ihm nach Altona, wo sie nur ein Jahr darauf, nach dessen Scheidung, den Kiosk ihres Onkels übernahm. Nach Abschluss seines VWL-Studiums stieg Rami mit ein. Ihre erste Begegnung ist jetzt fast zehn Jahre her. Ich seufze. „Paula", Carmen rüttelt dieses Mal an meinem Ärmel. „Ja?" „Lass uns doch bald mal wieder was unternehmen. Irgendwas ... Normales. Weißt du, ich brauche was Normales. Shoppen, Spazierengehen, Maniküre, ... vielleicht sogar Sport! Lass uns doch mal wieder ins Fitnessstudio gehen, weißt du noch! So wie in alten Zeiten!" Carmen und ich hatten uns beim Fitness für Mollige im SportSpaß kennengelernt. SportSpaß, das hielten wir beide schon immer für ein Paradoxon und wurden in der Sportgruppe schnell bekannt, als wir nach dem Kurs in der Umkleidekabine zwischen den anderen Pummelfeen Sachen sagten, wie „Verdammt, wer hat meinen Schokoriegel gegessen?" - „Die Dicke war's" und „Hach, jetzt erst mal zu McDonald's". Okay, vermutlich fanden die anderen es nicht mal witzig und lachten nur aus Beschämtheit, aber Carmen und ich fanden uns extrem lustig und blieben, auch außerhalb des Kurses, und schon bald nur noch außerhalb des Kurses, in Kontakt. „Hier auf der Ecke hat ein neues Studio aufgemacht", berichtet Carmen. „Einer der Trainer ist sehr nett. Er kommt manchmal nach Feierabend vorbei und kauft Bier." „Ha! Weil ihr auch keine Protein-Shakes im Angebot habt!", rutscht es mir raus. „Paula", zischt Carmen. „Er ist wirklich nett, nicht der klassische Pumper, bei dem dir direkt der Bizeps ins Gesicht springt. Und er hat Rami und mir ein Probetraining angeboten. Wir beide wissen ja, dass Rami keine Sportart außer Fußball näher an sich ran lässt – und das ohnehin nur passiv." Rami, der wieder nebenan im Lager ist, hat seinen Namen gehört. „Waaaas?", brüllt er. „Nichts, Schatz", brüllt Carmen zurück. „Also, bist du dabei?", sie sieht mich auffordernd an. „Pffft. Na gut", sage ich und bin wenig begeistert. Aber was tut man nicht alles. „Okay", sagt sie. „Morgen Abend! Die haben bis 22 Uhr auf. Also lass uns doch um 20 Uhr hier treffen und dann einfach hingehen." „Hmpf", mache ich. „Schön, dass du dich freust", lacht Carmen.
Bevor meine erste Schicht im Nachtlicht anfängt, haue ich mich noch für ein paar Stunden aufs Ohr. Im Halbschlaf höre ich noch mein Handy klingeln, blende es allerdings aus. Erst als jemand nicht aufhört, an der Tür Sturm zu klingeln, gebe ich mein Nickerchen auf und erhebe mich grantig. Es ist meine Nachbarin Mandy aus dem Erdgeschoss. „Oh, hast du geschlafen?", fragt sie, als sie meinen Gesichtsausdruck in der Kombination mit dem Abdruck meines Kissens im Gesicht bemerkt. „Hm." „Sorry! Kann ich ganz kurz Lotti bei dir lassen?" Sie schiebt den kleinen Menschen schon durch die Tür. „Es ist ein Notfall! Tilly ist noch bei der Tagesmutter und die hat eine Panne am Auto und jetzt kann sie ihn nicht vorbeibringen weil sie sich weigert, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Und ich will nicht im Feierabendverkehr mit zwei Kindern Bus fahren. Bitte Paula. Es dauert auch nur eine halbe Stunde, vielleicht 45 Minuten, aber bestimmt nicht länger." „Mandy, ich hab heute Nachtschicht auf dem Kiez und ich muss in einer Stunde los ..." „Auf dem Kiez? Okay, erzähl mir das später, ich beeil mich, danke Paula. Tschüsschen!" Und weg ist sie. Lotti steht vor mir und schaut mich verwirrt an. „Du hast doch gar keine Zeit für mich, Paula, wenn du gleich zur Arbeit musst. Können wir dann nichts spielen?" Sie ist dieses Jahr fünf geworden und schaltet schneller als ihre eigene Mutter. „Doch, Lotti, ein Puzzle können wir noch schaffen." Ich versuche sie anzulächeln und merke dabei, dass meine Gesichtszüge noch schlafen. Dann krame ich Mandys Notfallspielsachentasche aus einer Ecke, die tatsächlich regelmäßig zum Einsatz kommt und ziehe Lottis Minnie Mouse-Puzzle heraus. „So Lotti", sage ich. „Du fängst schon mal an und ich mache mich kurz schick für die Arbeit, okay?" „Okay", Lotti nickt tapfer und kippt die Puzzleteile auf meinem Schlafzimmerfußboden aus. Ich schließe fix meine Küchentür, weil ich nicht sicher bin, ob ich beim schnellen Durchkehren alle Teile des Aquariums erwischt habe und gehe ins Bad um mir ein neues Gesicht aufzumalen. Durch die offene Badezimmertür höre ich Lotti singen. Ich tippe auf Miley Cyrus' 'Wreckingball' und muss den Kopf schütteln. Mandy ist eben manchmal eine richtige Mandy. Während meine Schwester und ich mit fünf Rolf Zuckowski gehört haben und die schlimmsten musikalischen Fehltritte die Neue-Deutsche-Welle-Schallplatten meiner Mutter waren, wachsen Lotti und Tilly mit Miley Cyrus auf. ‚Hoffentlich haben sie das Musikvideo nie gesehen' , denke ich, als es schon wieder an der Tür klingelt. Ich werfe mir im Spiegel einen genervten Blick zu. Heute ist der zweite Tag meiner Arbeitslosigkeit und die erwartete und irgendwie auch erhoffte Langeweile scheint einfach nicht aufzukommen. „Hat Mama was vergessen?", ruft Lotti von nebenan. „Ich hoffe nicht", rufe ich zurück. Um ehrlich zu sein habe ich aber die selbe Vermutung. ‚Kluges Kind, dumme Mutter', denke ich, als ich den Summer drücke. Ich lasse einfach die Wohnungstür offen und tusche weiter meine Wimpern. „Hallooo?", ich höre eine Männerstimme in meinem Flur. Als ich mich irritiert nach links drehe, steht in meinem Flur, und auf Grund dessen nicht vorhandener Größe, fast neben mir, ein Fahrradkurier. "Hab isch hier Einschreiben für Frau Kloß!" „Frau Groß!" „Genau, mein isch das, ja. Müssen zie hier Autogramm." Aus meinem Schockmoment heraus unterschreibe ich blitzschnell. Dann sagt er noch: „Zie haben da was an Ihre Gezicht." Und schon ist er weg. Wie es aussieht, halte ich nun meine offizielle Kündigung in der Hand ... und habe einen Teil meiner Wange mit getuscht. Lotti steht vor mir, zeigt mit ihrem kleinen Zeigefinger auf mein Gesicht und lacht. „Du bist ein Indianer! Das sieht lustig aus! Haha!" Ich werfe den Umschlag in eine Ecke und zücke meinen Kajal. „Stimmt, Lotti. Du hast das gut erkannt. Was willst du sein? Auch ein Indianer? Oder eine Katze?" „Eine Katze! Eine Katze! Miaaau!", sie hüpft vor Begeisterung. ‚Okay', denke ich. ‚Ich bin eine dicke, arbeitslose Single-Frau an die 30 ... aber das entbindet mich ja nicht automatisch von meinem sozialen Gewissen.' Fertig angemalt spielen wir noch kurz eine Weile Katze und Indianer, wobei ich von Lotti lerne, dass Katzen Indianer fressen („Auch dicke Indianer, hihi") bis Mandy gerade rechtzeitig in der Tür steht. Leicht abgehetzt schaffe ich es noch pünktlich zum Nachtlicht, in dem heute meine Einarbeitung stattfindet. Kuddel steht schon vor der Tür und gemeinsam warten wir voller Vorfreude auf Jürgen. Insgeheim wollte ich schon immer Barfrau sein, vor allem in so einer herrlichen Ur-Hamburger Kaschemme. „Da kommt er!", ruft Kuddel, der Jürgen zuerst gesehen hat. „So Kinder!", Jürgen ist bester Laune. „Los geht das!"