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ОглавлениеKapitel 1
22. Juni 1888
Drei Monate lebte Onkel James nun schon unter meinem Dach. Ich hatte mittlerweile herausgefunden, dass er zwei Gesichter besaß. Er konnte die Liebenswürdigkeit in Person sein. In Anwesenheit von Gästen mimte er den netten Onkel, der um seinen Schützling besorgt war und nur das Beste wollte. Dann wieder konnte er launisch und jähzornig sein und die Bediensteten fürchteten ihn. Besonders alle weiblichen von entsprechendem Äußeren. Onkel James stellte den jungen Mädchen nach und versuchte gar nicht erst, diese unmoralischen Aktivitäten vor mir zu verheimlichen. Er neckte mich sogar mit obszönen Andeutungen und lachte mich aus, wenn ich vor Scham errötete. Auch ich fühlte mich vor ihm nicht sicher. Mehrmals schon hatte er mich auf eine Weise angefasst, die alles andere als akzeptabel war und ich versuchte, ihm tunlichst aus dem Weg zu gehen. Niemand war da, der mich vor seinen Annäherungen beschützen würde. Ich war ganz auf mich gestellt. Ein beängstigender Gedanke.
Eines Abends saßen wir zusammen im kleinen Salon. Onkel James bestand darauf, dass ich ihm nach dem Essen stets noch ein Stündchen Gesellschaft leistete. Ich hasste diese erzwungene Zweisamkeit, war aber froh, dass er keinerlei Unterhaltung von mir zu erwarten schien. Er war ohnehin kein besonders redseliger Mann.
Gedankenverloren starrte ich auf meine Stickarbeit, ohne auch nur einen Stich getan zu haben. Handarbeit war nicht gerade meine Stärke, aber Onkel James bestand darauf, dass ich mich „wie eine junge Dame benahm“. Mutter hatte oft vergeblich versucht, mir die Handarbeiten nahe zu bringen, doch ich schien kein großes Geschick dafür zu haben. Ich fand Handarbeiten entsetzlich langweilig und hätte ein gutes Buch vorgezogen. Unsere Bibliothek war gut bestückt und es gab noch so viele Bücher, die ich noch nie gelesen hatte. Mein Vater hatte mich stets zum Lesen ermuntert und mit mir oft über verschiedene Bücher und auch über Wissenschaften und Politik diskutiert.
Onkel James saß im Lieblingssessel meines Vaters und las in der Bibel, wie jeden Abend. Ich hatte schon festgestellt, dass mein Onkel beinahe schon fanatisch religiös war, wenngleich er die Bibel für sich selbst großzügig auslegte. Die Stellen, wo es um Hurerei und Trunkenheit ging, schien er regelmäßig zu überlesen. Dabei war er stets schnell dabei, einen Vers für mich zu finden, der die erwünschten Tugenden einer Frau beschrieb. Ich hatte von Mutter oft genug zu hören bekommen, dass ich viel zu undamenhaft war. Frauen hatten eben nicht selbstständig zu denken und erst recht stand es ihnen nicht zu, einen Mann zu kritisieren. So jedenfalls schien mein Onkel die Sache zu sehen.
Neben ihm, auf einem kleinen Tischchen, standen wie üblich eine Karaffe mit Brandy und ein Glas. Ich hatte bemerkt, dass mein Onkel gern und viel trank, besonders Vaters teuersten Brandy. Wenn er sehr viel trank, schlief er immer im Sessel ein. Deshalb hatte ich Molly angewiesen, ihm abends Brandy hinzustellen. Heute Abend jedoch hatte er zu meinem Leidwesen noch nicht einmal das erste Glas ausgetrunken. Meine Gedanken richteten sich auf ein Leben ohne meinen schrecklichen Vormund. Ich malte mir aus, einen gut aussehenden und charmanten Mann zu heiraten und einen Haufen niedlicher Kinder zu bekommen, die das ganze Haus bevölkerten. Ich würde mit meinem Gatten über die blühenden Wiesen galoppieren und den Wind in meinen Haaren genießen. Ich würde frei sein, zu tun, was mir gefiel und mich nicht von einem übel gelaunten Tyrannen das Leben schwer machen lassen. Einziges Manko war, dass ich meinem Traummann noch nicht begegnet war. Wenn es ihn überhaupt gab.
„Ich habe nachgedacht“, riss die Stimme meines Onkels mich plötzlich aus meinen süßen Tagträumen.
Erschrocken blickte ich auf. Onkel James hatte die Bibel beiseite gelegt und nippte an seinem Brandy. Seine stechenden, kleinen Augen waren mit einem seltsamen Ausdruck auf mich gerichtet. Ich fühlte mich wie ein Reh, das vom bösen Wolf fixiert wird. Um seinen Mund lag ein widerlicher Zug von Selbstzufriedenheit. Eine Gänsehaut kroch meine Arme hinauf und ließ mich schaudern. Ich spürte seine bösartige Aura, ein unsichtbares Wesen, das mit gefletschten Zähnen und lauernden Blicken durch den Raum schlich, bereit, mich zu packen, seine Fänge in mich zu schlagen. Mühsam unterdrückte ich den drängenden Impuls, aufzuspringen und aus dem Raum zu fliehen.
„Ich denke, du bist nicht in der Lage, dieses Haus und die Geschäfte in London zu führen. Du kannst unmöglich dein Geld selbst verwalten. Innerhalb eines Jahres wärst du bankrott und alles, was dein Vater aufgebaut hat, dahin“, eröffnete Onkel James.
Ich spürte, wie trotz aller Furcht Empörung in mir hochstieg. Ich hatte viel von meinem Vater über die Geschäfte gelernt und außerdem gab es sehr fähige leitende Angestellte, die stets das volle Vertrauen meines Vaters genossen hatten. Ich brauchte meinen Onkel nicht. In drei Monaten würde ich die Zügel für mein Leben selbst in die Hand nehmen, ob es ihm nun gefiel oder nicht. Trotzdem hielt ich es für klüger, zu schweigen. Mir war bewusst, dass ich ihm nicht gewachsen war. Momentan war er mir gegenüber im Vorteil und ich hatte keine Unterstützung. Sobald ich volljährig war, würde ich mir einen Rechtsbeistand nehmen und Onkel James zum Teufel jagen.
„Was du brauchst, ist – ein Ehegemahl“, verkündete er weiter. Sein Tonfall hatte etwas abstoßend Gönnerhaftes, das mich anwiderte.
Mir wurde übel. Ich versuchte, mir darüber klar zu werden, was seine Worte für mich bedeuteten. Er wollte mich scheinbar mit irgendeinem Mann verheiraten, der ihm von Nutzen war. Mein Onkel tat eindeutig nie etwas, was ihm nicht zum Vorteil gereichte. Aus der Traum von meinem Traumprinzen, der mir all meine Freiheiten lassen würde. In Gedanken sah ich mich schon an einen alten, zahnlosen Greis verschachert, der mir auf dieselbe, widerliche Art nachstellte, wie Onkel James. Das durfte nie passieren. Ich wollte mir selbst einen Mann wählen. Erst recht, wo ich so kurz vor der ersehnten Volljährigkeit stand. Mühsam schaffte ich es, meine vielschichtigen Emotionen zu beherrschen und ihm in die Augen zu blicken.
„Vielen Dank, dass Ihr so um meine Zukunft besorgt seid. Ich weiß dass zu schätzen, doch ich möchte mir selbst den richtigen Gatten auswählen, wenn die Zeit gekommen ist. Erst einmal möchte ich noch etwas meine Freiheit genießen“, sagte ich. Ich hoffte, er würde das leichte Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt haben.
Onkel James lehnte sich ein wenig vor und lächelte zynisch.
„Siehst du? Genau das meine ich! – Deine Freiheit genießen! Pah! – So redet nur ein liederliches Frauenzimmer. – Verantwortungslos, ja zügellos bist du. Du brauchst einen Mann, der dich in deine, vom Herrgott bestimmten Schranken verweist!“
„Ihr könnt mich nicht zwingen, irgendeinen Mann zu heiraten, wenn ich es nicht will!“, begehrte ich auf. Jetzt war es wirklich genug der Fügsamkeit. Ich würde mich auf gar keinen Fall verheiraten lassen. Wenn ich einmal heiratete, dann einen Mann, den ich liebte und einen solchen hatte ich nun eben noch nicht gefunden.
„Das werden wir ja sehen“, knurrte Onkel James und schenkte sich nach, ehe er weiter sprach: „Im Übrigen dachte ich nicht an irgendeinen Mann. Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass du einen richtigen, einen erfahrenen Mann brauchst. Nicht so ein Jüngelchen, der sich von deinen hübschen blauen Augen beeindrucken lässt. Es sollte ein Mann sein, dem etwas an den Geschäften deines Vaters und an Blue Hall liegt und der den Besitz verantwortungsvoll zu leiten weiß.“
„Und welcher Mann sollte das Eurer Meinung nach sein, Onkel?“ Wieder kam mir der alte Greis in den Sinn. Scheinbar war ich mit meinen Gedanken der Wahrheit schon recht nahe gekommen. Ich kämpfte verzweifelt gegen das Gefühl der Ohnmacht an. Vor meinen Augen tanzten blitzende Funken und ich krallte meine Finger in die Lehnen meines Sessels.
Er hingegen lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück und schaut mich mit einem selbstgefälligen Ausdruck an.
„Meine Wenigkeit“, verkündete er in einem Ton, als wäre es ganz selbstverständlich, dass nur er infrage käme. „Ich denke, es wäre von beiderseitigem Vorteil, wenn wir uns vermählen würden.“
Mir blieb vor Schreck der Mund offen stehen und mein Blut schien zu gefrieren. Ich musste mich verhört haben. Gewiss machte er nur einen makabren Scherz.
„Das meint Ihr nicht ernst?“, keuchte ich mit klopfendem Herzen. „Ihr seid mein Onkel!“
„Aber wir sind nicht blutsverwandt.“ Er lächelte wohlwollend, doch das Lächeln erreichte seine kalten Augen nicht. „Ich gebe dir drei Tage Zeit, mein Angebot zu überdenken. – Du solltest jetzt schlafen gehen. Es ist spät und eine anständige junge Dame sollte zeitig zu Bett gehen.“
Ich sprang auf und feuerte meine Handarbeit in den Handarbeitskorb. Meine Unterlippe bebte vor Zorn und Erregung. Ich war den Tränen nah.
„Dafür brauche ich keine Bedenkzeit! Niemals werde ich Euch heiraten! In drei Monaten werde ich volljährig sein und dann werdet Ihr dieses Haus verlassen.“
Mit diesen Worten rauschte ich aufgelöst aus dem Zimmer.
*****
Die nächsten Tage war ich vor meinem Onkel auf der Hut. Zu meiner Verwunderung schien er einstweilen von weiteren Belästigungen abzusehen. Dennoch versuchte ich weiterhin, ihm auszuweichen und sperrte mich in meinem Zimmer stets ein, damit er mich auch dort nicht bedrängen konnte. Ich fühlte mich zunehmend unwohl in meinem eigenen Haus, welches mir sonst immer ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. Als das von meinem Onkel gestellte Ultimatum von drei Tagen verstrichen war, wurde ich noch nervöser. Es passierte jedoch erst zwei weitere Tage später.
Wir saßen zusammen beim Supper, als er das Thema wieder zur Sprache brachte. Lustlos stocherte ich in meinem Essen, denn in seiner Anwesenheit verging mir regelrecht der Appetit. Eigentlich mochte ich Wachtel sehr, doch seit dem Tod meiner Eltern und besonders seit Onkel James Einzug, schmeckte für mich alles einfach nur fad. Selbst der Duft der knusprig gebratenen Vögel schien eher störend, denn anregend.
„Hast du dir mein Angebot überlegt, meine Liebe?“, fragte Onkel James betont höflich. Er schenkte meinem Mangel an Appetit keinerlei Aufmerksamkeit.
Ich zuckte zusammen und würgte an meinem Bissen, den ich mir gerade in den Mund gesteckt hatte und der mir nun im Halse festzustecken drohte. Schnell spülte ich mit einem Glas Wein nach, dann hob ich mit klopfendem Herzen den Kopf und begegnete seinem Blick. Ich war immer wieder aufs Neue erstaunt über diese absolute Kälte, die in seinen Augen geschrieben stand. Niemals zuvor hatte ich einen solchen Blick bei irgendeinem Menschen gesehen. Und wie schon unzählige Male zuvor, rann mir ein Schauer den Rücken hinunter.
„Nun?“, hakte mein Onkel ein wenig ungeduldig nach.
„Ich habe bereits gesagt, was ich zu sagen habe“, antwortete ich mit dünner Stimme.
„Ich könnte dich zwingen.“
Ich erschauerte. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, zu was er mich alles zwingen könnte. Neulich hatte ich ihn versehentlich dabei entdeckt, wie er mit einem der Küchenmädchen unaussprechliche Dinge getan hatte. Den Anblick würde ich so schnell nicht vergessen. Das Mädchen lag rücklings auf dem Esstisch, ihre Röcke hochgeschoben und ich hatte die behaarte Scham der Küchenmagd sehen können. Onkel James stand mit heruntergelassenen Hosen zwischen den gespreizten Schenkeln des Mädchens, sein Geschlecht immer wieder in sie hineinstoßend. Dabei hatte er abstoßende, grunzende Laute von sich gegeben. Er hatte mich zum Glück nicht bemerkt und ich hatte mich schnell wieder zurückgezogen. Ich verspürte wirklich wenig Lust, sein nächstes Opfer zu werden.
Onkel James erhob sich und umrundete den Tisch. Mir krampfte sich der Magen zusammen und Schweißperlen erschienen auf meiner Stirn.
Herr im Himmel, hilf mir! Was soll ich tun?
Ich sprang auf und wich vor meinem Onkel zurück, bis ich die große Nussbaumanrichte im Rücken spürte, die meinem Rückzug ein jähes Ende bereitete. Ein kleiner Schrei kam von meinen Lippen und Onkel James grinste siegessicher.
„Ich werde dich schon zu zähmen wissen, mein kleines Vögelchen. Ich werde dich lehren, wie du mir zu dienen hast. Komm und gib deinem Onkel James einen Kuss, mein Täubchen.“
Ich schrie auf, als er mich an den Oberarmen packte und sein Gesicht immer näher kam. Ich drehte den Kopf zur Seite, sodass sein Mund nur auf meine Wange traf. Was schon schlimm genug war. Angewidert sträubte ich mich gegen seinen Angriff. Der schiere Terror erfasste mich, als seine grobe Pranke schmerzhaft meine Brust quetschte, während seine fleischigen Lippen widerliche, feuchte Küsse auf meinem Hals platzierten und langsam in Richtung meiner Schulter tiefer wanderten. Ich war gefangen in einem Albtraum und meine Gedanken überschlugen sich auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser misslichen Lage. Ich wusste, dass ich ihm körperlich unterlegen war. Seine brutale Umklammerung ließ mir kaum Raum, mich zu regen, obwohl ich alle Kräfte anstrengte.
„Wehr dich nicht, mein Täubchen. Es wird dir schon gefallen“, nuschelte er an meinem Hals.
„Nein! Lasst mich! Ich will das nicht! Hört auf damit!“, forderte ich, mich verzweifelt wehrend.
Es hatte keinen Sinn, er war einfach zu stark. Ich musste es irgendwie anders schaffen. Um ihn in Sicherheit zu wiegen, hörte ich auf, mich zu wehren und ließ ihn schaudernd gewähren. Wie erwartet, ließ er meinen Arm los und ich tastete mit meiner befreiten Hand nach einer brauchbaren Waffe. Endlich schlossen sich meine Finger um einen massiven Kerzenleuchter. Ich wischte jegliche Skrupel beiseite und nahm allen Mut zusammen. Mit aller Kraft schlug ich ihm den Leuchter auf den Kopf. Er schrie auf und taumelte zurück. Blut lief über sein Gesicht und er sah mich erst ungläubig, dann wütend an. Mir war klar, dass mir nicht viel Zeit blieb, da ich ihn nicht hart genug getroffen hatte, um ihn auszuschalten. Schnell fasste ich mir ein Herz und rannte aus dem Speisezimmer, die Treppen hinauf in mein Zimmer. Atemlos schloss ich die Tür hinter mir und schob den schweren Riegel davor. Mein Herz klopfte aufgeregt und ich fühlte mich zittrig und einer Ohnmacht nahe. Tränen rannen über meine erhitzten Wangen und verschleierten mir den Blick. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür und sackte langsam in mich zusammen. Der Schock über das gerade Erlebte und der noch immer tief sitzende Schmerz über meinen Verlust brach sich in heftigem Schluchzen bahn.
Ein polterndes Klopfen an der Tür ließ mich zusammenfahren und mein Schluchzen erstarb.
„Elizabeth! – Mach sofort die Tür auf!“, ertönte die polternde Stimme meines Onkels.
„Nein! Geht!“, erwiderte ich mit zittriger Stimme. Mir wurde übel. Ich unterdrückte den Würgreflex, schmeckte die säuerliche Bitterkeit von Magensäure.
Eine Weile war Schweigen. Ich lauschte atemlos. War er gegangen? Ich hatte keine Schritte gehört, die sich entfernten. Alles, was ich hörte, war das Klopfen meines eigenen Herzens und das Rauschen meines Blutes in den Ohren.
„Es ist doch alles nur zu deinem Besten“, ertönte Onkel James Stimme schließlich ruhig, beinahe besänftigend. „Du bist nur eine schwache Frau und kannst den Besitz unmöglich allein führen. – Ich nehme dir auch deinen kleinen Angriff von eben nicht übel. Ich habe dich zu sehr bedrängt und bin bereit, dir ein wenig mehr Zeit einzuräumen. Lass uns über alles reden. Mach die Tür auf. – So nimm doch endlich Vernunft an!“, redete er weiter auf mich ein.
„Meine Antwort lautet nein! – Ich denke gar nicht daran! Und ich lasse mich nicht kompromittieren! Ich werde in drei Monaten mündig und dann werdet Ihr hier verschwinden. – Ich kann sehr gut für mich selbst sorgen!“, antwortete ich erregt.
Ich zitterte noch immer vor Angst und Empörung. Was, wenn ich es nicht geschafft hätte, ihm zu entwischen? – Wenn er mit seinem Überfall Erfolg gehabt, mich kompromittiert hätte, dann wäre ich gezwungen gewesen, ihn zu heiraten. – Nicht auszudenken! Allein bei dem bloßen Gedanken daran überkam es mich eiskalt und ich schüttelte mich unwillkürlich.
„Du kannst dich nicht drei Monate in dein Zimmer einsperren Elizabeth! Früher oder später musst du da rauskommen und dann kriege ich dich!“, drohte er.
Ich schloss entsetzt die Augen. Er hatte recht! Ich konnte mich nicht drei Monate hier vor ihm verbergen. Ich war blind davon gerannt und saß nun in der Falle. Das bedeutete, ich musste fliehen, fort von hier, mich verstecken – irgendwo, wo er mich nicht finden konnte. – Noch heute Nacht!
*****
Ich band meine Röcke hoch und öffnete leise das Fenster. Wohltuend kühle Nachtluft drang in das Zimmer und ich atmete die frische Luft tief ein, dann kletterte ich entschlossen auf das Fenstersims und schwang die Beine hinaus. Ich war froh, dass die Tournüre kürzlich aus der Mode gekommen war und ich so bei meiner Kletterei weniger behindert wurde.
Eine kurze Weile blieb ich so sitzen, mit klopfendem Herzen und feuchten Händen. Es war ein waghalsiges Vorhaben, aber ich sah keinen anderen Weg, wenn ich nicht in die Falle meines Vormundes geraten wollte.
„Na dann los, Graham“, sprach ich mir selbst Mut zu.
Vorsichtig suchte ich das Mauerwerk neben meinem Fenster nach dem dicken Hauptstock der alten Weinrebe ab. Ich brauchte nur ein Stück weit klettern, denn bis zum Balkon darunter war es nicht weit. Mit den Füßen hangelte ich nach kräftigen Seitentrieben und begann den Abstieg. Es war eine wackelige Angelegenheit, aber das Weingeflecht hielt und bald hatte ich sicher den Balkon erreicht. Erleichtert lehnte ich mich gegen die schmiedeeiserne Brüstung.
„In Ordnung, Graham. Jetzt ist es fast geschafft!“
Mit frischem Mut schwang ich mich über das Geländer und angelte, mich mit einer Hand am Geländer festhaltend, nach einem Ast des kräftigen Walnussbaumes. Ich brauchte ein paar Anläufe, bis ich den Ast fassen konnte, und zog ihn zu mir heran. Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, ergriff ich den Ast mit beiden Händen und ließ mich fallen. Es knackte ein wenig, als der Ast unter meinem Gewicht in die Tiefe rauschte – aber er hielt. Als meine Füße nicht mehr weit vom Boden entfernt waren ließ ich los und landete mit einem Plumps auf meinem Hinterteil. Ich konnte gerade noch einen Schmerzensschrei unterdrücken, indem ich mir eine Faust in den Mund schob.
Nachdem ich mich von dem Aufprall erholt hatte, raffte ich mich auf und schlich zum Pferdestall. Es war sehr dunkel, aber ich kannte jeden Winkel von Blue Hall im Schlaf. Ich wusste genau, wie ich zu der kleinen Leiter kam, die zur Kammer des Stallknechtes führte und wusste, dass er seine Kleidung des Nachts immer zum Lüften auf das Fenstersims neben der Tür legte. Auf leisen Sohlen schlich ich die Stiege hoch und schnappte mir das Kleiderbündel.
*****
Im Stall erklomm ich die Leiter zum Heuboden, zog mich hastig um und verstaute meine Frauenkleider unter dem losen Heu. In Hosen und Hemd gewandet und mit einem zerbeulten Hut auf den hochgesteckten, blonden Locken, kletterte ich wieder herunter. Bargeld hatte ich leider nicht, aber einige kostbare Schmuckstücke, die ich zu Geld machen konnte, versteckte ich im Hut.
Mit schnellen Handgriffen sattelte ich den Hengst und führte ihn durch den Hinterausgang, der direkt auf eine Koppel führte. Hier würde man keinen Hufschlag hören, wie das bei dem Kopfsteinpflaster vor dem Stall der Fall wäre. Ich schwang mich in den Sattel und preschte davon. Ich machte mir nicht die Mühe, am Gatter abzusteigen und es zu öffnen, sondern setzte kurzerhand mit dem Pferd darüber hinweg.
*****
„Hast du auch so einen Durst, mein Guter?“, fragte ich erschöpft und klopfte dem schwarzen Hengst den mächtigen Hals. „Ich glaube nicht, dass man uns schon verfolgt. – Trotzdem müssen wir gleich weiter reiten.“
Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, bald würde Onkel James mein Verschwinden bemerken und ich wollte meinen Vorsprung so groß wie möglich halten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er sofort die Verfolgung aufnehmen würde. Das Risiko, von ihm geschnappt zu werden, wollte ich lieber nicht eingehen.
Ich betrachtete kritisch meine Erscheinung in der spiegelnden Oberfläche des Wassers. Ich kam mir selbst fremd vor in den ungewohnten Männerkleidern. Um von meiner makellosen Haut abzulenken, hatte ich mir ein wenig Ruß ins Gesicht geschmiert, doch ich fand, dass ich noch immer zu weiblich aussah. Aus der Nähe würde meine Verkleidung sicher früher oder später auffallen. Meine Augen mit den langen Wimpern waren zu schön für einen Mann.
„Meinst du, jemand durchschaut meine Verkleidung?“, fragte ich an mein Pferd gerichtet und strich mir skeptisch über meine flache Brust. Ich hatte meine Brüste mit Tüchern verbunden, damit sie flach wurden und unter der Männerkleidung nicht auffielen. In den zu großen Hosen und flachbrüstig, sah ich zumindest von der Gestalt her tatsächlich wie ein junger Bursche aus. Wenn doch nur mein Gesicht nicht so weibisch wäre!
„Ich glaube, wir müssen jetzt weiter.“
Nachdem ich meine Wasservorräte aufgefüllt hatte, bestieg ich das Pferd, um den Ritt fortzusetzen.
Zwei Stunden ritt ich wegen der schlechten Bodenbedingungen in mäßigem Tempo, bis ich aus dem Wald herauskam und über eine Wiese galoppierte. Endlich spürte ich wieder den Wind auf meinem Gesicht. Auch der Hengst freute sich über den Galopp und bockte übermütig. Ich tätschelte dem Tier den Hals und lachte.
„Ja, das gefällt dir mein Guter!“
Ich spornte das Tier übermütig an. Der Wind trieb mir Tränen in die Augen, doch ich achtete nicht darauf. Ich war frei! Plötzlich stolperte das Pferd, als es in ein Loch trat und ich stürzte über den Hals des Pferdes hinweg, und landete mit dem Kopf auf einem Stein. Schmerz explodierte in meinem Kopf, dann wurde es dunkel.