Читать книгу Catra Corbett: Wiedergeburt - Catra Corbett - Страница 5
KAPITEL 1 BLUT, BLASEN UND VIELE, VIELE TRÄNEN
ОглавлениеSkeptisch blickte der Sanitäter auf meine Füße. Mein Freund platzte mit der Frage heraus, die keiner stellen wollte.
„Das war’s dann für dich, oder?“, sagte Kevin zu mir.
Es war eine Frage, die mich richtiggehend wütend machte, doch zu diesem Zeitpunkt konnte ich ihm seine Reaktion nicht verdenken. Ich war gerade 60 Meilen gelaufen, zehn Meilen mehr als jemals zuvor, und hatte noch immer 40 Meilen vor mir. Kein Mensch hätte mir geraten weiterzumachen, wenn er den Zustand meiner Füße gesehen hätte. Verdammt, ich wusste ja selbst, dass es wahrscheinlich besser wäre aufzuhören.
Doch ich musste einfach weitermachen.
Kevin sah über die Schulter des Sanitäters, als dieser mir die Socken von den Füßen schälte. Beide holten tief Luft.
Auf meinen Fußballen hatten sich mehrere Blasen in der Größe einer Zwei-Euro-Münze gebildet, dazu waren meine Fersen mit Blasen übersät, und auch meine Zehen waren von vielen kleinen schmerzhaften, mit Flüssigkeit gefüllten Bläschen bedeckt. Eine der großen Blasen war bereits geplatzt und sonderte eine klare Flüssigkeit ab, die mir über die Ferse lief. Während Kevin dastand und fassungslos den Kopf schüttelte, begann der Sanitäter nun auch damit, die anderen Blasen zu öffnen.
Es war mein erstes 100-Meilen-Rennen, und es stand bereits fest, dass ich noch viel zu lernen hatte. Ich hatte einige Fehler begangen. So kam ich zum Beispiel fast zu spät zum Start, da ich mir noch in letzter Minute eine Taschenlampe in einem Supermarkt besorgen musste. Bis dahin war es mir nämlich nicht in den Sinn gekommen, dass ein 100-Meilen-Lauf bis tief in die Nacht und länger dauern könnte.
Und nun litt ich unter den Folgen meines schwersten Fehlers. Ich lief den Rocky Raccoon 100 in Huntsville, Texas, in einer Gegend, über die ich überhaupt nichts wusste. Ich selbst lebe ja in Kalifornien und hatte nicht die geringste Ahnung, dass die Luftfeuchtigkeit in Texas meine Füße wie einen mit Wasser vollgesogenen Schwamm anschwellen lassen würde. Ich hatte mehrere Paar Socken gekauft, denn ich wusste, dass man sie während eines Rennens öfters wechseln muss, aber ich hatte nicht gewusst, dass auch die Laufschuhe eine halbe Nummer größer sein sollten, um genügend Platz für meine geschwollenen Füße zu haben.
Da die Luft in Kalifornien viel trockener ist, hatte ich diese Probleme zuvor nicht gehabt. Auch hatte ich niemals zuvor Blasen bekommen. Doch nun verwandelten die Schuhe meine Füße in zartes Hamburgerfleisch.
Die Miene des Sanitäters verfinsterte sich, als er weiter an meinen Füßen zugange war. Obwohl er beim ersten Anblick meiner blasenübersäten Füße etwas erschrocken gewesen war, so war er ja Sanitäter bei einem Ultrarunnig-Wettbewerb und hatte wahrscheinlich schon viel Schlimmeres gesehen (das hoffte ich zumindest). Ich seufzte erleichtert auf, als die Flüssigkeit aus den bis zum Bersten vollen Blasen herausspritzte. Danach umwickelte er meine Füße mit Klebeband. Ja, dieses breite, silberne Klebeband, das man für Reparaturen im Haushalt verwendet, für undichte Wasserrohre oder kaputte Türgriffe. Bis zu jenem Moment wusste ich nicht, dass man damit auch nässende Blasen reparieren kann, doch das war nur eines der Dinge, die ich als Ultraläuferin noch zu lernen hatte. Das Klebeband fixierte die lose Haut der Blasen an meinen Füßen, und als ich aufstand, um zu sehen, wie es sich anfühlte, hatte ich das erste Mal seit Stunden wieder ein Gefühl der Erleichterung.
Also nein, Kevin, das war’s noch nicht für mich.
Wie die meisten Leute hatte ich mit dem Laufen begonnen, um gesund zu werden. Ich tauschte nächtelange Raves gegen morgendliches Laufengehen, und obwohl ich den Rausch des Tanzens bis zum Morgengrauen vermisste, war es keine Option für mich, meine Laufschuhe in die Ecke zu stellen. Wie viele begann ich damit, einmal um den Häuserblock zu laufen, was mich beinahe umbrachte. Am nächsten Tag ging ich wieder und merkte, dass ich es diesmal etwas weiter schaffte, bevor ich wieder beinahe tot umfiel. Ultramarathons entdeckte ich erst einige Jahre, nachdem ich zur Läuferin geworden war, und das eher zufällig. Diese unfassbar langen Rennen zogen mich in ihren Bann. Sie waren die Lösung, die ich gesucht hatte, um mein Leben umkrempeln zu können.
Vier Jahre nachdem ich mit dem Laufen begonnen hatte, nahm ich an meinem ersten 100-Meilen-Rennen teil. Nur drei Monate zuvor hatte ich meinen zweiten 50-Meilen-Lauf im Napa Valley, in der Nähe meines Wohnorts im Norden Kaliforniens, hinter mich gebracht. Das Rennen hatte damals bei heftigem Regen stattgefunden, und ich war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Leib, doch ich hatte Vertrauen in mich selbst. Ich wurde Letzte, aber viele weitaus erfahrenere Ultraläufer als ich hatten das Rennen aufgegeben. Ich war weitergelaufen. Also dachte ich, wenn ich bei miserablen Wetterbedingungen 50 Meilen laufen konnte, während ich (manchmal auch erfolglos) versuchte, den hüfttiefen Matschlachen auszuweichen, dann könnte ich auch 100 Meilen schaffen.
Das nahm ich zumindest an.
Den Rocky Raccoon wählte ich dann zufällig aus – ich las davon auf der Rückseite eines Ultraläufermagazins. Das war 1999, und zu jener Zeit gab es nur eine Handvoll 100-Meilen-Rennen im ganzen Land (mit Stand 2017 gibt es 17 100-Meilen-Läufe allein in Kalifornien). Ich hatte Glück, denn dieser UItratrail gilt als ein gutes Einsteigerrennen. Der Großteil des Laufes verläuft durch den Huntsville State Park, direkt im Norden von Houston. Nach fünf Runden durch Wald- und Sumpflandschaft hat man die 100 Meilen dann geschafft.
Für Neulinge im Ultrarunning ist diese Strecke besonders geeignet, denn sie geht nicht über Hügel oder Berge und nicht einmal über besonders felsiges Terrain, wie der Name vermuten lässt. Der Großteil der Strecke ist flach und breit und führt über weichen Boden. Ein holzig modriger Geruch hing in der feuchtschwangeren Luft, und es fühlte sich an, als wäre ich im Dampfbad. Die 20 Meilen lange Schleife schlängelte sich durch dichte, verwachsene Wälder, die die Sonne blockten, durch matschige Sümpfe und entlang von Seen voller Kreaturen, denen ich in Kalifornien nie zuvor begegnet war. Am Eingang zum Gelände wurde man von einem Schild begrüßt, auf dem stand: „In diesem Park gibt es Alligatoren.“ Großartig!
Ein weiterer Grund, warum diese Strecke bei Einsteigern so beliebt ist, ist das Rundenformat. Am Ende jeder Runde war da diese riesige Versorgungsstation in einem großen Zelt, so wie man es für spezielle Anlässe mieten kann. Dort konnten die Läufer essen und trinken, ihre Schuhe wechseln, sich umziehen, ihre wunden Stellen mit Vaseline behandeln und sich, natürlich, die kaputten und mit Blasen überzogenen Füße von einem Sanitäter mit Klebeband zusammenflicken lassen.
Wenn man das Zelt betrat, forderte ein Schild diejenigen, die sich übergeben mussten, auf, sich links zu halten. Ich gehörte nicht zu dieser Gruppe. Zumindest noch nicht.
Als ich aufstand und meine Füße wieder in die zu engen Schuhe zwängte, verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter den Hügeln. Im Dickicht der Bäume war es bereits dunkel. Den Rest des Rennens würde ich in der Nacht laufen. Ich schaltete meine schwache Taschenlampe ein und sah ihren blassen Lichtkegel um die Bäume tanzen. Das erinnerte mich auf sonderbare Weise an mein altes Leben. Das Einzige, was noch fehlte, war der tiefe Beat der Tanzmusik, der durch meine Brust vibriert.
„Viel Glück“, sagte der Sanitäter zu mir und versuchte dabei, seinen besorgten Blick zu verbergen. „Ich hoffe, das Klebeband hält.“
Warum sollte das Klebeband denn nicht halten? Verwendet man es nicht so gut wie für alle Reparaturen?
Nun, ich würde es sowieso bald herausfinden, und so machte ich mich auf meine nächste Runde.
Runden zu laufen ist eher ungewöhnlich für so ein Langstreckenrennen. Meist bist du ganz allein da draußen in der Wildnis, vor allem bei Ultramarathons. Du kannst dich verirrt haben, am Verdursten sein oder irgendwo verletzt herumliegen, und die nächste Person, die dir helfen könnte, ist vielleicht mehrere Kilometer weit entfernt. Deswegen passen die Organisatoren immer auf, wenn du an einer Versorgungsstelle vorbeikommst. Wenn sie deinen Namen nicht von der Liste gestrichen haben, wissen sie, dass sie vielleicht nach dir suchen lassen müssen. Gelegentlich – speziell, wenn man schon ziemlich kaputt aussieht – fragen sie dich auch nach deinem Namen oder wiegen dich, um sicherzugehen, dass du nicht zu viel Gewicht verloren hast.
Doch das hier waren 20-Meilen-Runden auf einem mit leuchtend orangen Schildern gut sichtbar markierten Kurs. Diese Schilder waren auch in der Dunkelheit gut zu erkennen und dienten als eine Art Sicherheitsnetz für Anfänger wie mich. Das bedeutete, dass Hilfe in der Nähe war oder dass es eine Raststelle gab, oder eine Wasserstation, bevor du dich wieder auf den Weg machst.
Trotzdem, ein 100-Meilen-Lauf ist nie einfach. Zwar war der Weg gut geräumt, doch überall ragten Baumwurzeln aus dem Boden, die nur darauf warteten, dich in einem unaufmerksamen Moment zu Fall zu bringen. Und es ist schwierig, sich Stunde um Stunde auf denselben verdammten Weg zu konzentrieren. Irgendwann beginnst du, dich in deinen Gedanken zu verlieren, eine Art Schutzmechanismus, der dich davon abhält, über die nächste Meile nachzudenken – oder die nächsten 40. Stürze und die blutigen Knie und Ellenbogen, die man sich dabei holte, waren unvermeidbar.
Das Klebeband wirkte als Dämpfung beim Auftreten für meine wunden Füße, und zum ersten Mal seit Stunden fühlte ich mich wieder besser. Ich konnte wieder laufen. Endlich fand ich Spaß daran. Ich hielt meine Taschenlampe vor mir, die ein fahles, gelbliches Licht abgab, doch es reichte gerade dazu aus, die Wurzeln und Steinbrocken zu erkennen, um nicht darüber zu stolpern.
Als die Nacht schließlich hereinbrach, wurden die üblichen Geräusche bei einem Rennen immer dumpfer. Ich konnte das sanfte Trommeln der Laufschuhe am Boden hören, begleitet von einer Sinfonie zirpender Grillen, quakender Ochsenfrösche und summender Insekten. Das schwere Atmen der anderen Läufer klang wie eine leichte Brise, die durch die Bäume wehte. Ihre Stimmen waren gedämpft, so, als ob sie die Stille der Nacht nicht stören wollten. „Gute Arbeit“, sagten sie immer wieder, wenn sie vorbeiliefen.
Zwei Läufer trabten an mir vorbei, die sich gegenseitig motivierten. Ich sah mich um und bemerkte überall kleine Gruppen von Läufern. Ich schien die Einzige hier zu sein, die niemanden hatte, der mit ihr lief.
„Das sind sogenannte Pacer“, lächelte ein Läufer mir zu, als er an mir vorbeikam.
Sein Pacer winkte mir zu.
Pacer? Man durfte Pacer verwenden? Ich hatte keine Ahnung, aber es stimmte, bei 100-Meilen-Rennen darf man andere Läufer mitbringen, die mit dir laufen und vorwiegend dazu da sind, auf dich aufzupassen und dich davon abzuhalten, komplett zu verzweifeln.
Ich bin ganz allein hier draußen, dachte ich mir.
Als die Nacht ihren Mantel über mich breitete und die dunkle Luft mir beinahe den Atem nahm, wurden auch die Geräusche unheimlicher. Ich dachte zurück an das Schild, das die Besucher des Parks vor Alligatoren warnt. In dieser rabenschwarzen, nächtlichen Finsternis musste ich unweigerlich bei jedem Geräusch aus dem Unterholz an ein mit spitzen Zähnen besetztes, schnappendes Maul denken – egal, ob es ein knackender Zweig oder ein Rascheln im Gebüsch war.
Diese Nervosität beschäftigte mich einige Zeit lang, während ich den dunklen Pfad entlanglief, und sie reichte aus, um mich von dem lose aus meinen Laufschuhen wehenden Klebeband abzulenken.
Aber leider nicht für den Rest des Rennens. Mist.
Ich war überzeugt davon gewesen, dass das Klebeband halten würde – wenn man Rohre damit reparieren konnte, dann musste es doch auch meine Füße zusammenhalten können –, doch nach 75 Meilen ertranken meine Füße dank der feuchten texanischen Luft wieder im Schweiß. Es fühlte sich an, als würde ich barfuß über Nadeln laufen, bei jedem Schritt spürte ich den Schmerz, den mir die Blasen verursachten. Es war einer der schrecklichsten Schmerzen, die ich je erlebt habe.
Und ich hatte noch immer einen ganzen Marathon vor mir.
Als ich nach 80 Meilen wieder an der Versorgungsstation war, brach ich vor dem gleichen Sanitäter wie zuvor nieder. Er sah nicht gerade erfreut aus, mich wiederzusehen.
„Sehen wir es uns einmal an“, sagte er und versuchte, meinem Blick auszuweichen, während ich meine Schuhe auszog. Es fühlte sich so unglaublich gut an, aus den Schuhen draußen zu sein.
Da ich mich nicht mit der Behandlung von Blasen auskannte, lehnte ich mich zurück und machte ein schmerzverzerrtes Gesicht, als er das restliche Klebeband von meinen Fersen entfernte. Dabei kam auch ein guter Teil Haut mit.
„FUUUUUUUUUUUUUCCKKKKKKKK“, schrie ich wie am Spieß.
Ich machte mich bereit, als er das Band auf der anderen Ferse ergriff. Dann zog er erneut daran, und die Haut kam genauso leicht mit, als würde er eine überreife Banane schälen. Diesmal schrie ich sogar noch lauter. Die wunden Flecken brannten höllisch, und die warme Mitternachtsluft war keine Erleichterung für meine aufgescheuerte Haut.
„Ich denke, du solltest aussteigen“, sagte der Sanitäter und sah mir dabei tief in die Augen.
Auch wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt nur ein paar Rennen beendet hatte, so wusste ich bereits, dass es bei Ultramarathons mindestens genauso viel ums Durchhalten geht wie ums Laufen. Um mich herum waren andere, die sich erbrachen, an Krämpfen litten und Schmerzen hatten oder sich in einem was weiß ich für erbärmlichen Zustand befanden. Mir also zu sagen, dass es besser wäre, aufzugeben, war deshalb nicht nur entmutigend, sondern machte mir Angst.
Doch Angst hin oder her, ich musste dieses verdammte Rennen zu Ende bringen. In meinem Kopf wäre ich keine Ultraläuferin, bevor ich nicht einen 100-Meilen-Lauf beendet hatte. Endlich hatte ich etwas gefunden, was mir, in meinen Augen, dabei helfen konnte, zu einem neuen Menschen zu werden. Zum ersten Mal seit Jahren war da etwas, das diese Leere füllte. Der Rat des Sanitäters schreckte mich, doch wie schon zuvor bei Kevin war ich auch darüber verärgert.
Ich erwiderte seinen Blick.
„Willst du mich verarschen?“, antwortete ich. „Ich bin hier, um beschissene 100 Meilen zu laufen. Ich gebe doch jetzt nicht auf.“
Der Sanitäter seufzte verzweifelt auf und begann damit, meine Füße mit frischem Klebeband zu umwickeln. Noch einmal zwängte ich meine armseligen, geschwollenen Füße in meine Schuhe, die nun bereits einer Folterkammer gleichkamen. Als ich aufstand, zitterten meine Beine wie die eines neugeborenen Rehkitzes. Ich ging einige Schritte, und es waren die schlimmsten Schmerzen, die ich jemals verspürt hatte.
Nun fühlten sich meine Laufschuhe an, als wären sie mit heißer Kohle gefüllt. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich ging noch ein paar Schritte und begann dann leicht zu joggen. Die Schmerzen würden mich noch die nächsten acht Stunden begleiten. Sie sollten mein Pacer sein.
Es lagen noch 20 Meilen vor mir. Das waren mehr, als die meisten Läufer bei einem Trainingslauf absolvieren. 20 Meilen, das sind gut 32 Kilometer, und meine Füße waren so weich und empfindlich wie ein Babypopo, und das auf einem Weg, der mit Wurzeln übersät war und den ich nur im schwachen Schein meiner Taschenlampe sah. Dazu kamen natürlich noch die Alligatoren, vor denen ich mich in Acht nehmen musste.
Inzwischen war es stockfinster. Die Schmerzen in meinen Füßen hatten ihren Höhepunkt erreicht, doch als ich plötzlich gähnen musste, dämmerte mir, dass meine Füße vielleicht nicht mein größtes Problem waren.
Noch nie zuvor war ich die Nacht hindurch gelaufen, und nun musste ich in regelmäßigen Abständen gähnen. Mein plötzlicher Wunsch, mich im Laubwerk einzurollen und ein Nickerchen zu machen, drohte meinem Vorhaben, das Rennen zu beenden, ein jähes Ende zu bereiten.
Ich durfte jetzt aber keinen Zwischenstopp einlegen, egal, wie sehr ich mich nach einer Pause sehnte, denn ich machte mir Sorgen, die Cutoff-Zeit nicht zu schaffen, das Zeitlimit, bei dem die Teilnehmer aus dem Rennen genommen werden, ungeachtet dessen, wie weit sie bereits gekommen sind. Selbst die schnellsten Läufer konnten sich nicht mehr als einen kurzen Powernap leisten, ohne Gefahr zu laufen, die Cutoff-Zeit zu verpassen, und ich gehörte zu den langsamsten. Ich musste weiter.
Wie ein betrunkener Autofahrer torkelte ich in Schlangenlinien den breiten Weg entlang und gab mein Bestes, nicht mit anderen Teilnehmern zusammenzustoßen.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte mich ein älterer Mann, der anscheinend nicht zum ersten Mal die 100 Meilen lief. Dieser Typ von Mann erinnerte mich irgendwie an meinen Vater. Er war verstorben, als ich 17 war, und so viele Jahre, nachdem sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, dachte ich, dass mein Vater genau einer dieser Typen hätte sein können, wäre er nicht schon so früh von uns gegangen.
„Ich bin nur so furchtbar müde“, murmelte ich.
Er nickte mitfühlend. Ich war nicht die Einzige, die zu diesem Zeitpunkt wie ein Zombie dahinschlurfte.
„Du brauchst Kaffee“, sagte er.
Kaffee. Ja, natürlich, dachte ich halb benommen. Ja. Kaffee.
„Viel Glück!“, rief er mir über seine Schulter zu, als er in der Dunkelheit vor mir verschwand.
Bis zum nächsten Versorgungsposten waren es nur mehr ein paar Meilen. Ich wusste, wenn ich es bis dorthin schaffte, würde alles wieder gut sein.
Kaffee. Kaffee. Kaffee. Es war wie ein Mantra, das ich bei jedem schmerzenden Schritt vor mich hersagte. Alles, was ich wollte, war, mich niederzulegen. Ich konnte kaum noch meine Taschenlampe hochhalten, und ihr Lichtkegel schwankte langsam über den Weg und verwirrte mich. Meine Augenlider schlossen sich, während ich weiter nach vorne stapfte. Plötzlich riss ich sie wieder weit auf, als ich mit einem dumpfen Geräusch am Boden aufschlug. Ich rappelte mich hoch und streifte mir den Dreck von den Händen.
Es kann schon einmal passieren, dass Ultraläufer auf den Beinen einschlafen, weil sie so müde sind. Wir können sogar einnicken, während wir laufen. Ich hatte Glück, dass ich mich nicht verletzt hatte, doch ich war noch immer erschöpft, als ich weiterwankte. Ich war in ernsthaften Schwierigkeiten.
An diesem Punkt spürte ich auch dieses Gemeinschaftsgefühl, das mich im Endeffekt zum Ultralaufsport gebracht hatte.
Ultraläuferinnen und Ultraläufer sehen so wie alle Menschen aus, denen man auf der Straße begegnet, doch es gibt einen wichtigen Unterschied: Sie alle erbringen diese unglaublichen körperlichen Heldentaten. Während die anderen Läufer mich überholten und das Delirium sahen, in dem ich mich aufgrund der Schmerzen und Erschöpfung befand – etwas, das sie selbst bereits viele Male durchgemacht hatten oder sogar selbst gerade durchmachten –, lächelten sie mir zu und motivierten mich, oder sie fragten, ob dies mein erstes 100-Meilen-Rennen sei (ich hatte gehofft, dass es nicht gar so offensichtlich war, doch ich denke, das war es).
Das war die Art von Unterstützung, die mir bis dahin in meinem Leben immer gefehlt hatte, seit ich mich von meinen Freunden trennen musste. Damals war meine Mutter die Einzige, die auf meiner Seite zu stehen schien. Selbst Kevin zweifelte gelegentlich an mir, so wie in diesem Rennen.
Doch Ultraläufer sind füreinander da. Es schien fast so, als ob jeder auf diesem Trail wusste, was der andere durchmachte, und deswegen verstanden sie mich auch, ohne meine Lebensgeschichte zu kennen. Da hörte ich plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit.
„Möchtest du irgendwas?“
Der Versorgungsposten! Ich hatte es verdammt nochmal geschafft.
„Ich brauche Kaffee“, sagte ich.
„Ist leider aus“, sagte die freiwillige Helferin mit mitfühlendem Gesichtsausdruck.
Das waren schlechte Neuigkeiten. Ich war erledigt. Ich könnte zwar mit den Schmerzen weiterlaufen, aber ich konnte nicht länger wach bleiben.
„Wir könnten vielleicht noch welchen machen. Denke ich zumindest“, meinte sie.
„Wie lange würde das dauern?“, fragte ich.
„Hmm … so etwa 20 Minuten?“
Ich hatte keine 20 Minuten. In 20 Minuten wäre mein Körper ganz steif, und meine Füße würden sich wie Zementblöcke anfühlen, und ich würde wahrscheinlich einschlafen. Damit war das Rennen für mich zu Ende. Doch in diesem Moment hörte ich Kims Stimme hinter mir.
„Ist das dein erster Hunderter? Ich habe dich nämlich noch nie zuvor gesehen. Übrigens, ich bin Kim“, sagte eine Läuferin hinter mir in einem warmen texanischen Akzent und mit leuchtend rot geschminkten Lippen.
Sie hatte wohl schon öfters an diesem Rennen teilgenommen.
„Wie geht’s dir?“
„Ich brauche Kaffee“, antwortete ich.
Kim schüttelte den Kopf. Sie trug Make-up, und das bei einem solchen Wettbewerb. Das fand ich unheimlich lustig.
„Was du brauchst, ist NoDoz“, sagte sie. „Hier, meine Liebe. Ich hab welche.“
Dann kramte sie in dem kleinen Rucksack, den sie trug, und holte ein paar rote Pillen hervor.
Als sie mir die Tabletten hinhielt, durchzuckte es mich. Das Angebot war sehr verlockend, doch ich wusste, dass ich besser nicht zugreifen sollte. Schließlich brachte ich mich hier draußen gerade bei einem 100-Meilen-Rennen um, weil ich endgültig mit meiner Drogenabhängigkeit abschließen wollte.
XXX
Meine älteste Schwester Patty war immer gemein zu mir. Im Gegensatz dazu war Peggy immer nett zu mir, obwohl sie an einer bipolaren Störung litt und etwas reserviert wirkte. Ich bin das jüngste der drei Mädchen in unserer Familie. Patty ist neun Jahre älter als ich und Peggy sieben Jahre. Wir haben auch einen Bruder, Jay, der knapp zwei Jahre jünger ist als ich.
Als Peggy 16 war, nahm sie – wahrscheinlich aufgrund ihrer Krankheit – regelmäßig Drogen und trank Alkohol. Im zarten Alter von neun Jahren war ich damals noch zu jung, um das zu verstehen, aber sie war bereits drogenabhängig.
Peggy war bei allen meiner frühen Experimente mit Alkohol und Drogen dabei. Das erste Mal, als ich mich mit ihr betrank, war bei einem Konzert der Band Journey, als ich 13 war.
Bevor ich das erste Mal Marihuana ausprobierte, warnte sie mich: „Wenn du Marihuana rauchen willst, dann muss ich dabei sein.“
Es war ihre Art, auf mich aufzupassen.
Am Ende wurde Peggy dann sogar heroinabhängig und landete, trotz aller verzweifelten Versuche meiner Mutter, sie zu retten, auf der Straße. Sie fand nie das, was ihr hätte helfen können, über die Drogen hinwegzukommen.
Als meine Freunde mich dann dazu drängten, einmal Meth zu probieren, war Peggy nicht mehr da, um auf mich achtzugeben. Wie sich herausstellen sollte, fielen ohne sie alle Schranken bei mir.
Als ich Mitte 20 war, arbeitete ich in einem Friseursalon und hatte neue Freunde gefunden. Wir gingen gerne in Goth-Clubs tanzen. Alle meine Freunde nahmen Meth (Speed), denn es gab ihnen die Energie zu tanzen. Obwohl ich auch ohne Drogen schon immer eine gewisse Ausdauer hatte – wie viel genau sollte ich erst später herausfinden –, überredeten mich meine Freunde, es trotzdem zu probieren. Als ich das Meth zum ersten Mal sah, ekelte mir davor, und ich traute mich nicht, es zu nehmen. Das reichte einmal eine Zeit lang, um mich davon fernzuhalten. Doch nach einigen Monaten ließ ich mich dann doch breitschlagen.
Eines Nachts trafen wir uns im Haus eines Freundes, mit der Absicht, später einen Goth-Club zu besuchen. Ich war mit meinem damaligen Freund Jason, der in einer Band spielte, dort. Mit einem Musiker zusammen zu sein war für mich das Coolste überhaupt damals.
In jener Nacht wollte ich bis Sonnenaufgang im Club bleiben. Zwar hatte ich Mühe, wach zu bleiben, aber ich liebte es zu tanzen, und ich liebte die Goth-Szene. Meine Freunde sprachen alle über diese Wahnsinnsenergie, die ihnen das Meth gab. Damit war auch für mich klar, dass ich mit etwas Meth bis zum Morgengrauen durchtanzen könnte.
Jeder nahm eine Prise. Dann war ich an der Reihe.
Jason reichte mir eine durchsichtige Kugelschreiberhülle, die er in zwei Teile gebrochen hatte, und zeigte damit auf die Straße mit dem weißen Pulver vor mir. Das Pulver war fahl, beinahe wie gelber Schnee. Meine Hände zitterten, als ich das Röhrchen nahm.
Ich zog das Pulver durch die Nase auf, und es fühlte sich an, als hätte ich Schwarzpulver eingeatmet.
Die Droge bahnte sich ihren Weg in meinen Rachen und begann weiter hinunterzurinnen, so als hätte ich eine üble Verkühlung. Es schmeckte nach Lackentferner. Ich griff mir Jasons Softdrink und nahm einen großen Schluck, um diesen scheußlichen Geschmack loszuwerden.
Innerhalb weniger Minuten fühlte sich mein Kopf an, als wäre da diese warme, wuschelige, pulsierende Energie. Es fühlte sich an, als betrachtete ich die Welt vom Fenster einer fahrenden U-Bahn aus, nur dass ich die Energie hätte, mit der Geschwindigkeit mitzuhalten.
Das Pulsieren empfand ich als unangenehm. Dadurch fühlte sich mein Kopf wie eine elektrische Insektenfalle an. Doch die Energie war unglaublich. Es war fantastisch, ich konnte die Nacht durchtanzen, ohne dabei müde zu werden. Ich fühlte mich, als könnte ich ewig weitermachen.
Die nächsten sechs Monate verwendeten wir Meth nur als Aufputschmittel. Es war eine nette Gelegenheitsdroge. Sich Speed in die Nase ziehen war, als ob man fünf Tassen starken Kaffee hintereinander getrunken hätte. Wir nahmen das Zeug, wenn wir in das wenige Stunden entfernte L.A. fahren und dort durch die Clubs ziehen wollten. Es gab uns die Energie, die ganze Nacht über wach zu bleiben. Es war eine Wunderdroge, ehrlich.
Allerdings zahlst du auch den Preis dafür. Von dem High wieder herunterzukommen, fühlte sich an wie eine Grippe. Es war eine Krankheit, die mich nicht schlafen ließ. Es fühlte sich an, als würde mein Gehirn permanent gegen einen elektrischen Draht laufen. Ich hatte unglaublichen Hunger, doch keinen Appetit.
Meistens konnte ich diese Nebenwirkungen vermeiden, indem ich einfach schlief. Normalerweise war ich an diesem Punkt so müde, dass ich für gut zwölf Stunden und länger hätte schlafen können. Wenn ich dann aufwachte, fühlte ich mich wieder prächtig.
Doch eines schönen Abends im Jahr 1991 kam ich gerade wieder von einem High runter, sollte aber bereits am nächsten Morgen zum ersten Lollapalooza-Festival fahren.
Bei allen Süchtigen gibt es diesen entscheidenden Moment, und meiner kam an jenem Tag. Das Programm für das erste Lollapalooza war ein Traum, bestehend aus Punk, Alternative, Dance, Electronic und Metal. Es war toll und genau meins. Ich hatte mit einer guten Freundin ausgemacht, zum Festival zu fahren, und wollte es auf keinen Fall verpassen. Allerdings befand ich mich auch in diesem furchtbaren, beschissenen, grippeartigen Zustand, und so schlug mir meine Freundin vor, noch etwas von dem Zeug zu nehmen.
„Wenn du dir jetzt etwas Speed reinziehst, fühlst du dich wieder besser“, sagte sie.
Es hörte sich ekelhaft an, so wie ein Martini am Morgen nach einem Kater. Andererseits wollte ich die Show um nichts in der Welt verpassen. So nahm ich mehr Meth und verspürte wieder diesen Brechreiz aufgrund des metallenen Geschmacks, doch nach ein paar Minuten ging es mir wider Erwarten besser. Das war der Punkt, an dem ich feststellte, dass ich diesen scheußlichen Effekt, wenn man von einem High wieder runterkommt, gar nicht durchmachen musste. Und das war dann auch jener Tag, an dem Meth für mich nicht mehr nur eine Gelegenheitsdroge war. Nun wurde es zu einer Droge, die ich nahm, um mich normal zu fühlen. Ich musste diese unangenehmen Nebenwirkungen nicht mehr durchmachen. Ich musste einfach nur etwas mehr Meth nehmen. Und so dachte ich, dass ich die Lösung gegen diese Tiefs gefunden hätte.
Wie falsch ich damit lag.
Zwei Jahre später hasste ich mein Leben. Wenn du drogenabhängig bist, dann geben dir die Drogen nicht mehr diese Wahnsinnsenergie. Sie saugen dir die Energie ab. Der einzige Grund, warum du sie überhaupt noch nimmst, ist, dass du dich noch viel schlimmer fühlst, wenn du sie nicht nimmst.
Zwar schaffte ich es, meinen Job im Frisiersalon zu behalten, doch ich mied meine Familie. Ich hatte immer eine enge Beziehung zu meinen Eltern gehabt, doch als ich süchtig wurde, sah ich meine Mutter vielleicht einmal im Monat. Ich schämte mich für das, was aus mir geworden war. Peggy hatte unsere Mutter bereits so viele Male enttäuscht.
Und nun ich. Immer wieder fasste ich in guter Absicht den Plan, meine Mutter zu besuchen, oder verabredete mich mit ihr, doch dann kreuzte ich einfach nicht auf.
Nach einer Weile, als mir die Drogen nicht mehr die Energie gaben, nach der ich mich so sehnte, färbte das Meth meine Welt grau. Alles war dumpf, leblos und hoffnungslos.
In den seltenen nüchternen Momenten öffnete sich dann der Vorhang, und die Welt kam wieder zurück, und ich sah aus meinem Zugfenster und war ganz erstaunt, wie bunt sie war und wie hell und lebendig alles um mich herum war.
Mein Leben war scheiße. Die Droge war alles, was ich hatte.
Ich konnte nicht mehr in den Clubs abtanzen oder mit meinen Freunden rumhängen oder eine gute Tochter oder Schwester sein. Ich wollte nicht mehr die Person sein, zu der ich geworden war, doch ich wusste nicht, wie ich mein Leben ändern sollte. Und dann standen auf einmal die Cops in der Wohnung.
XXX
Ich blickte auf die kleine Koffeinpille in meiner Hand. Nun wusste ich bereits, dass es auch zwei entscheidende Momente im Leben einer Süchtigen geben konnte: den Punkt, an dem du süchtig wirst, und, wenn du Glück und den Willen hast, den Punkt, an dem du dich entscheidest, aufzuhören. Die Nacht im Gefängnis, nachdem die Polizei in meine Wohnung gekommen war, hatte mich so verängstigt, dass ich erkannte, dass ich mit den Drogen aufhören musste.
Bis zu diesem Moment hatte ich mich erfolgreich vor einem Rückfall in die Sucht gewehrt – ich war weggezogen, hatte meine Freunde aufgegeben, und ich zog nicht mehr durch die Clubs und hatte sogar dem Alkohol Lebewohl gesagt.
Ich befolgte die mir im Diversionsverfahren auferlegten Maßnahmen und besuchte täglich meine Narcotics-Anonymous-Treffen. Ich fand eine Anstellung in einem Bagel-Shop, doch es war trotzdem eine harte Zeit für mich. Ich vermisste meine Freunde, die ohrenbetäubende Musik der Clubs und den Kick nach einer Dosis Speed, speziell jetzt, da noch die letzten 20 Meilen vor mir lagen.
Ich wollte nichts nehmen, was Drogen nur im Entferntesten ähnlich war. Schließlich lief ich hier, um sie zu vergessen. Ich hoffte, dass Ultrarunning genau das war, was mir helfen würde, die Drogen zu vergessen. Für mich sollte Ultrarunning diese eine Sache sein, die Peggy leider niemals gefunden hatte. Aus diesem Grund machte mich nach meiner Abhängigkeit alles, was mich an Drogen erinnerte, nervös. Ich nahm nicht einmal mehr Schmerztabletten, obwohl dir gerade solche Mittel bei einem 100-Meilen-Lauf wirklich helfen können.
Ich drehte die kleine Koffeintablette in meiner Hand herum. Sie ähnelte dem Speed, das mich in der Vergangenheit stundenlang wachgehalten hatte. Diese Tablette würde mir ähnlich viel Energie geben. Egal, wie nötig ich diesen Koffeinschub hatte, ich hatte furchtbare Angst davor, die Tablette zu nehmen.
„Das ist genauso wie Kaffee“, erklärte Kim, die mein Zögern bemerkt hatte. „Da ist genauso viel Koffein drinnen.“
Sie konnte sehen, dass ich noch immer Zweifel hatte.
„Dann nimm einfach nur eine halbe“, schlug sie vor.
Ich nahm die Pille in den Mund, biss sie entzwei und steckte die andere Hälfte weg. Nur 15 Minuten später war ich hellwach.
Die anderen Läufer schienen nur da draußen zu sein, um mich anzufeuern. Das war diese Art von Unterstützung, die einfach süchtig macht. Ich kam wieder in die Gänge und folgte Kim, bis ich sie aus den Augen verlor. Jetzt, wo ich wusste, dass sie und ihr lächelnder, mit rotem Lippenstift geschminkter Mund hier draußen mit mir auf der Strecke waren, fühlte ich mich besser.
Als ich auf die letzten 20 Meilen ging, flehten meine Füße mich an, aufzuhören. Ich ging und lief durch das Brennen meiner wundgescheuerten Zehen und die Kälte meiner zerfetzten Fersen. Ein Schleier der Erschöpfung umgab mich, und einzig der Rausch des Koffeins hielt mich auf noch den Beinen. Es war wie in einem Traum. Einem Albtraum. Nur meine Tränen und die stechenden Schmerzen erinnerten mich daran, dass ich noch auf der Strecke war und versuchte, eine Ultraläuferin zu sein.
Die Geräusche der Nacht, die surrenden Insekten und das Flüstern der anderen Läufer verstummten allmählich, als die ersten Lichtstrahlen versuchten, sich ihren Weg durch die Baumkronen zu bahnen. Doch das zarte Morgenlicht war noch immer zu schwach, um gegen das dichte Geäst anzukommen. In diesem gedämpften Zwielicht erschien alles um mich herum bizarr. Büsche und Bäume sahen aus wie Menschen. Die Baumwurzeln am Boden verwandelten sich plötzlich in Schlangen, die aus dem Sumpf gekrochen kamen. Mehrere Male erschreckte ich mich vor imaginären Fangzähnen und sprang in die Luft, nur um mit einem schmerzverzerrten Ächzen wieder hart auf meinen wunden Füßen zu landen.
Ich war von Schmerzen gepeinigt und fühlte mich miserabel. Aber ich gab nicht auf, obwohl mir meine Zweifel dicht auf den Fersen waren, während die Schmerzen mir weiter die Geschwindigkeit vorgaben.
Das NoDoz hörte langsam auf zu wirken, und ich begann erneut zu gähnen. Inzwischen war auch das Zirpen der Grillen verstummt, und ich konnte die Vögel zwitschern hören. Nun sah ich auch, wie der Himmel immer heller wurde, und packte meine Taschenlampe weg.
Als ich aus dem Wald kam, brach das morgendliche Sonnenlicht wie eine Welle über mich herein. Es war warm und hell, und ich konnte die frische Energie durch meinen Körper fließen spüren. Das Vogelgezwitscher wurde immer lauter. Immer mehr Zuseher standen an der Strecke. Das Ziel kam näher.
Während ich die letzten Meilen vor mich hin stolperte, musste ich unentwegt an meinen Vater denken. Voller Stolz sprach ich zu ihm in meinem Kopf. Sieh doch, was ich hier tue, Paps, sagte ich zu ihm und taumelte heulend Richtung Ziel.
Du musst nur ankommen, dachte ich. Es sind nur noch ein paar Meilen. Nur ins Ziel kommen.
Das entfernte Jubeln, das ich schon die letzten paar Meilen hören konnte, wurde nun langsam immer lauter, und ich begann, etwas schneller zu laufen.
Meine Füße schmerzten, und meine Beine brachten mich beinahe um, doch sie funktionierten noch. Ich musste an meinen Vater denken, an Peggy, an all die Drogenabhängigen, die ich hinter mir gelassen hatte, an die Läufer, deren Körper zu kaputt waren, um jemals wieder zu laufen. Ich lief für all jene, die selbst nicht laufen konnten.
Ich bog um eine Ecke, an der ich bereits viermal vorbeikommen war. Der Jubel wurde immer lauter. Nun war mir bewusst, dass nur noch weniger als eine Meile vor mir lag, und dann sah ich das Ziel.
Als ich nach diesem letzten Energieanfall endlich die Ziellinie überquerte, dachte ich, mich hätte der Blitz getroffen, um es etwas pathetisch zu sagen. Doch es war weit weniger dramatisch. Ich überquerte die Ziellinie, schlüpfte aus den Schuhen – das Klebeband hing noch an meinen wunden Füßen – und fiel lächelnd zu Boden.
Das ganze Rennen über war ich keinem einzigen Alligator begegnet.
XXX
Im Hotel nahm ich ein heißes Bad, musste aber danach noch einmal kurz zurück zum Ziel, da ich vergessen hatte, den Preis, den man für die 100 Meilen bekommt, mitzunehmen. Zurück im Hotelzimmer rief ich dann Jim Boyd an.
Jim, oder Jimbo, wie ich ihn nannte, war einer dieser älteren Herren, die mich an meinen Vater erinnerten. Ich hatte ihn bei einem Trailmarathon getroffen. Es war für uns beide der erste gewesen. Wir hatten uns verlaufen und fanden zusammen den Weg zurück auf die Strecke. Er war das erste Beispiel für die Freundlichkeit und die Kameraderie, das mir in der Ultrarunning-Community untergekommen war.
Wir hätten den Rocky Raccoon zusammen laufen sollen, doch er hatte sich kurz davor verletzt.
„Ich hab’s geschafft“, rief ich enthusiastisch ins Telefon.
„Fantastisch! Toll gemacht, Catra!“, antwortete er, und seine warmherzige Stimme erfüllte mich voll Stolz. „Wie sieht es jetzt mit dem 24-Stunden-Lauf aus, von dem ich gesprochen habe?“
Jim hatte mir eine Woche zuvor von diesem Rennen erzählt. Die Idee dahinter war, innerhalb von 24 Stunden eine möglichst weite Strecke zurückzulegen. Auf einer Laufbahn und mit Schuhen, die eine halbe Nummer größer waren, könnte ich vielleicht 100 Meilen in 24 Stunden schaffen.
Dann blickte ich auf meine wundgescheuerten, blutigen Füße. Mein Körper tat mir mehr weh als jemals zuvor. Ganz ehrlich, ich wusste nicht einmal, wie lange es dauern würde, überhaupt wieder normal gehen zu können. Alles, was ich jetzt wollte, war schlafen, doch der Gedanke daran, wie ich die Ziellinie überquert hatte, hielt mich wach.
Ich lächelte. Warum nicht?
Wenn du versuchst, von Dingen wie Drogen, die dich eisern im Griff haben, loszukommen, dann musst du etwas finden, das du mit großer Leidenschaft betreiben kannst. Du musst etwas finden, das dir dabei hilft, dich gut zu fühlen. Die Süchtigen bei den NA-Treffen leisteten oft ehrenamtliche Arbeit, halfen anderen oder fanden einen guten Job. Ich hatte während jener Zeit nichts gefunden, was mir helfen konnte, aufzuhören.
Doch nun hatte ich endlich das gefunden, was mich von Drogen fernhalten würde. Zugegeben, es war eine recht schmerzhafte Leidenschaft, doch der Drogenentzug war auch schmerzvoll.
Nun war ich eine Ultraläuferin.