Читать книгу Das Internat am Schlossberg - Cécile Tourin - Страница 6
Auf Entdeckungstour
ОглавлениеFelix ging auf den breiten hölzernen Treppen in den zweiten Stock voran und öffnete eine Tür am Ende des Ganges. „Das ist eines der besten Zimmer hier, mit Seeblick. Ich habe zuerst woanders gewohnt, aber als das hier frei wurde, bin ich schnell umgezogen.“ „Wie lange bist du schon hier?“ „Ein Jahr, ich komme jetzt in die Zehnte.“ „Und?“ „Was und?“ „Wie ist das hier so?“ „Ganz o.k. soweit.“ Gino sah sich neugierig um. Das gemeinsame Zimmer bestand aus einem großen Raum, der durch Kleiderschränke in zwei Einheiten aufgeteilt wurde. In jeder Hälfte standen ein Schreibtisch vor einem Fenster und ein Bett an der Wand. Über den Fußenden der Betten waren moderne Flachbildfernseher angebracht. Sideboards und zahlreiche Regale sind ebenso vorhanden wie ein bequemer Sessel. „Internet?“ „WLAN.“ Gino nickte zufrieden. Er zeigte auf das große Plakat des Hamburger Sportvereins HSV, das mit Tesafilm an der Wand befestigt war. „Bist du nur Fan oder kommst du auch von da?“ „Aus der Nähe von Hamburg, ja. Und du?“
„Ich wohne eigentlich hier schräg gegenüber, in der Schweiz.“ Gino zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung des Sees. „Und wieso eigentlich?“ „Na ja, ab jetzt wohne ich eben hier.“ „Darüber scheinst du ja nicht gerade begeistert zu sein, oder?“ „Warst du es denn, als du hier her kamst?“ Felix zuckte lässig mit den Schultern. „Also bei mir herrschte ein ziemliches Chaos zu Hause und ich war froh, von da weg zu kommen.“ Gino nickt nachdenklich. „Spielst du auch Fußball?“ „Na klar, es gibt hier zwei Mannschaften, Allerdings mit nur jeweils acht Leuten. Mehr kriegen wir leider nicht zusammen. Und dann sind auch noch einige Mädchen mit dabei, aber die spielen gar nicht mal so schlecht. Andere sind in der Segel AG, spielen Volleyball oder Tennis. Und ein paar Leute machen gar nichts, außer im Internet zu surfen.“ „Wenn ich auch mit Fußball spielen will, brauchen wir ja noch einen.“ „Wieso?“ „Ja, ungleiche Zahl halt, denn dann wären wir 17.“ „Es kommen ja heute noch 5 andere Neue. Da wird schon noch einer dabei sein oder du kommst auf die Bank.“ Felix lachte. „Auf die Bank gehe ich nicht!“, protestierte Gino. „Na ja, schau‘n wir mal.“ „Ja genau, ich räum‘ erst mal ein.“
Auf seinem Schreibtisch lag eine lederne Mappe. Gino schlug sie auf und las: „Willkommen im „Gymnasium am Schlossberg“. Felix rief ihm zu: „Das ist die Hausordnung, kannste lesen, kannst mich aber auch fragen. Der nächste Programmpunkt heute Nachmittag ist, dass wir uns um 3 Uhr Kuchen und Obst von unten holen können. Wenn ab morgen wieder der Unterricht beginnt, ist um 3 allgemeiner Schulschluss und eine halbe Stunde Kaffeepause. Natürlich gehen die AG‘s danach meist noch weiter, aber um halb 6 ist auch damit Schluss und um 6 gibt es Abendessen. Kaltes und warmes, was das Herz begehrt sozusagen. Um 8 Uhr müssen die, die noch keine sechzehn sind, im Haus - zumindest aber hier auf dem Grundstück - sein. Die 16- und 17-jährigen um 10 und wer 18 ist, muss spätestens um Mitternacht die Haustür von innen zu machen.“
Die Jungen gingen hinunter in das Casino und bedienten sich ausgiebig am Kuchenbüffet. Der Kaffee, der in großen Thermoskannen bereitsteht, ist zwar koffeinfrei, schmeckt aber trotzdem ziemlich gut, erklärte Felix. Außerdem zeigte er, wo und wie man sich Kakao und verschiedene Tees zubereiten kann, ebenso auch den Kühlschrank mit den reichlich vorhanden kalten Getränken.
Der Raum erschien zwar nicht gerade gemütlich, aber solide und zweckmäßig eingerichtet. Viele bodentiefe Fenster ließen das Tageslicht herein und dadurch war es hier angenehm hell. Wie im ganzen Gebäude war Parkett verlegt und die Wände waren in warmen, mediterranen Tönen gestrichen. Moderne Bilder, Plakate und dreidimensionale Phantasiewerke verbreiteten eine frische und moderne Atmosphäre. Felix bemerkte Ginos interessierte Blicke, deutete auf die Deko und sagte: „Von den Kreativ-AG Leuten.“ Gino nickte anerkennend. Sie setzten sich an einen der Tische. Es gab welche mit vier und einige mit sechs Stühlen Drumherum. Alles war aus massivem hellem Holz gefertigt. „Gibt es eine Sitzordnung?“ „Nein, alles ist frei wählbar. Du wirst es morgen früh auch bei der Ansprache von Frau Kern zu hören bekommen. ‚Hier herrscht der Geist der Freiheit‘. Aber es ist wirklich so, nur das Allerwichtigste ist streng geregelt.“
Heute waren nur wenige Schüler hier unten, es ist ja auch der letzte Ferientag. Als sie wieder auf ihrem Zimmer waren, setzte sich Felix an seinen Computer und Gino räumte weiter seine Sachen ein. Als er damit fertig war, half ihm Felix sein Notebook am WLAN-Netz anzumelden. Im Posteingang war bereits sogar eine E-Mail, aber ausgerechnet eine von seinem Vater: „Hallo Gino, ich hoffe, dass du gut in der neuen Schule angekommen bist. Morgen geht der Unterricht los und deshalb wünsche ich dir viel Erfolg und Spaß dabei. Sobald ich einmal in der Nähe bin, werde ich dich besuchen. Für alle Fälle ist ja Opa Clemens in der Nähe. Natürlich kannst du auch Mama oder mich jederzeit anrufen. Mach`s gut mein Junge, bis bald!“
Gino klappte lautstark den Deckel des Notebooks zu und nach einer kurzen Denkpause sagte er zu Felix: „Du ich gehe mal alleine durchs Haus, ja? Ich will mich ein wenig umschauen.“ „Sei kurz vor sechs wieder hier, wir können dann zusammen zum Abendessen runter gehen.“
Gino ging über den Flur und öffnete die Tür zu den Toiletten. Es sah alles sehr modern und sauber aus. Dann betrat er den dahinter liegenden Duschraum. Er hatte natürlich eine Vorstellung von Gemeinschaftsduschen und kannte die aus seiner Schule, aber hier wurde er angenehm überrascht. Es gibt 6 abgeteilte Kabinen. Wie bei manchen Umkleiden in den Klamottenläden sind davor Pendeltüren vom Knie an aufwärts als Sichtschutze angebracht. Das ist Gino sehr recht, denn er mag sich nicht so gerne vor aller Augen ausziehen, geschweige denn duschen.
Zurück auf dem Gang sah er, dass neben jeder Tür der Wohnräume zwei Schilder angebracht sind. Sie zeigten die Vornamen und meist sehr individuell gestaltete Fotos, manchmal sogar gezeichnete Porträts der beiden Bewohner. Er stellte staunend fest, dass auf dem gleichen Flur Jungen und Mädchen wohnen, aber sogleich fiel ihm ein, dass ja auch getrennte Duschräume und Toiletten auf jedem Gang vorhanden sind. Im Treppenhaus stieg er hinauf in die 3. Etage. Auf den ersten Blick sah es hier genauso aus, wie auf seinem Flur. Zwei Mädchen kamen ihm entgegen. Sie waren älter als er, zumindest sahen die beiden so aus. Sie riefen ihm im Vorbeigehen ein freundliches ‚Hallo‘ zu.
‚Ist ja vielleicht gar nicht so schlecht hier‘, dachte Gino und machte sich wieder auf den Weg nach unten. In der ersten Etage sind Unterrichtsräume, das Lehrerzimmer und eine Art Teeküche. Im Erdgeschoss befinden sich außer dem Casino noch die Küche und weitere Klassenräume. In die kleine, an das Hauptgebäude angebaute Turnhalle kommt man durch einen kurzen Laubengang. Der Pausenhof hat eine spezielle Bodenbeschichtung und kann auch als Sportplatz genutzt werden. Rund um das Gebäude befinden sich Gärten, vorne eher mit Blumen, einer Wiese und alten Bäumen. Weiter hinten jedoch ist der für ihn interessantere Teil, dort liegen die Obst- und Gemüsegärten sowie einige Gewächshäuser. Er war begeistert von den Tomatenpflanzen und staunte über die vielen verschieden Sorten, die hier wuchsen. Er probierte hier eine runde gelbe und dort eine längliche grüne und natürlich die kleinen roten Datteltomaten und war mit dem vollen Geschmack der Strauchgemüse sehr zufrieden. Angebaut wurden auch noch allerlei Gurken, grüne und gelbe Zucchini, verschiedene Sorten Kürbisse, Kohlrabi, Möhren, Radieschen, Spinat, viele Salatsorten und eine Menge Küchenkräuter in extra angelegten Beeten. Er entdeckte sogar noch eine späte Sorte Erdbeeren, die er gleich probierte und bereits abgeerntete Johannisbeeren- und Stachelbeerbüsche. Erschrocken fuhr er zusammen, als hinter ihm eine Stimme ertönte, denn er hatte niemanden kommen hören.
„Toll was, gefällt es dir?“ Als er sich umdrehte, sah er, dass es Michael, der zugleich Hausmeister und Gärtner war. Gino nickte sichtlich beeindruckt, denn die Vielfalt in dem großen Garten gefiel ihm sehr. „Kann man hier mittun?“, fragte er vorsichtig. „Ja klar, du kannst dich z.B. für die Garten-AG melden. Das wäre das Beste. Ich glaube da sind so vier, fünf Leute drin, die helfen mir ganz gut. Einmal die Woche kommt auch ein richtiger Bio-Bauer zu uns, gibt Tipps und manchmal bringt er auch neue Pflanzen für einen versuchsweisen Anbau mit.“ Michael führte ihn dann noch durch die Gewächshäuser, dort wo viele junge Gewächse erst einmal keimen und aufwachsen. Und dort waren auch die kälteempfindlichen Gemüse wie Auberginen, Paprika, Gurken und einige neue Tomatensorten, die ihm unbekannt waren. „Ich würde mich freuen, wenn du hier mitmachst, ich denke, dass du echtes Interesse hast.“ Der Hausmeister nickte ihm aufmunternd zu. „Ja und das nicht nur am Gärtnern, auch am Kochen und Essen, natürlich.“ Michael musste lachen. „Wo kommst du her?“ „Von drüben aus dem Thurgau.“ Gino verabschiedete sich dann aber, denn es wurde höchste Zeit, sich zum Abendessen zu begeben.
„Na, wie ist es?“, fragte sein Mitbewohner, als er wieder ins Zimmer kam. „Och, ganz gut so weit, also das was ich bis jetzt gesehen habe, gefällt mir, besonders die Gärten.“ „Dann bist du wohl ganz gut in Bio, oder?“ „Ist mein Lieblingsfach, ja.“ „Meins eher nicht, aber wir können uns ja gegenseitig helfen. Mathe zum Beispiel kann ich gut und auch Physik, Deutsch und Sprachen wieder nicht, wie ist denn das bei dir?“ „Das passt schon“, antwortete Gino, „schön, dass wir uns einig sind.“
Dann gingen sie hinunter in das Casino. Ein munteres Stimmengewirr kam ihnen bereits im Treppenhaus entgegen. Ungefähr die Hälfte der Schüler hatte sich bereits zum Essen eingefunden. Heute gibt es allerdings nur kalte Küche, warme Gerichte werden ab morgen serviert, mit dem Schulbeginn. Aber auch heute schmeckte es Gino schon sehr gut. Eine große Auswahl wurde präsentiert. Es gab viele verschiedene Brotsorten, Schinken, Käse auch aus Ziegen- und Schafsmilch, Lachsforelle, Räucherfelchen sowie schmackhafte vegetarische Aufstriche. Frische Salate standen auch bereit.
Zunächst saßen Felix und Gino alleine an einem Vierertisch. Kurze Zeit später kamen noch zwei Schüler hinzu. „Charlotte und Robin - Gino.“ Felix übernahm das Vorstellen mit den entsprechenden Gesten. Die beiden Hinzugekommenen sagten ‚Hallo‘ und Gino sein schweizerisches ‚Grüezi‘ und gab damit gleich kund, wo er herkommt. Er erfuhr, dass die beiden mit Felix in dieselbe Klasse gehen und auch schon 1 Jahr hier sind. Dann berichteten sie von ihren Ferienerlebnissen. Charlotte war mit ihrem Vater an der italienischen Riviera und Robin in einem Ferienlager auf Spiekeroog, einer Nordseeinsel. Seine Eltern sind vor zwei Jahren bei einer Bergtour in Österreich ums Leben gekommen. Das Sorgerecht haben dann seine Tante und deren Mann bekommen. Allerdings kann er nicht bei ihnen wohnen, da die beiden oft beruflich unterwegs sind. Charlottes Eltern leben getrennt und ihre Ferien verbringt sie abwechselnd bei ihrer Mutter und ihrem Vater. Beide wohnen in München.
Felix versteht sich mit seinen Halbgeschwistern und dem neuen Mann seiner Mutter überhaupt nicht, deshalb war er nur eine Woche zuhause in Hamburg. Er hatte sich im letzten Herbst mit dem Schwiegersohn eines Winzers bei Hagnau angefreundet und in den Sommerferien dort einige Wochen in den Weinbergen mitgearbeitet. Das machte ihm Spaß und er hatte sich auch noch zusätzliches Taschengeld verdient.
Auch Gino erzählte, was ihn hierher verschlagen hat und so haben sich die vier an diesem Abend ein wenig näher kennenglernt. Es herrschte allgemein ein ziemlich munteres Stimmengewirr im Casino und Gino gewann den Eindruck, dass viele Schüler gar nicht mal so traurig sind, nach den Ferien wieder hier zu sein.
Nach dem Essen brachte er zusammen mit Felix die Tabletts zum Förderband, auf dem das gebrauchte Geschirr in die Küche gleitet. Plötzlich krachte es hinter ihnen. Einem Mädchen waren offenbar die Teller und das Besteck heruntergerutscht und auf dem Fußboden gelandet. Der hinter ihr stehende Schüler lächelt sie hämisch an. „Oh, das tut mir jetzt aber leid, ich konnte leider nicht wissen, dass du plötzlich stehen bleibst.“ Das Mädchen drehte sich um und funkelte ihn aus dunklen Augen an. „Das machst du nicht noch einmal, hörst du!“ Es war jetzt sehr still geworden in dem Casino und die meisten Anwesenden schauten herüber. Der Junge hob abwehrend die Hände und rief gespielt weinerlich: „Nicht schlagen, bitte nicht schlagen.“ Einige der Schüler lachten. Gino ging hinüber, bückte sich und hob die größeren Scherben auf, während Felix auf den rempelnden Schüler zuging, ihn am Arm fasste und beiseite zog. „Es reicht, Carlo, deine Scherze sind uns hier ja leidlich bekannt.“ „Spiel dich nicht so auf, Felix. Es ist doch nichts passiert, oder?“ „Ja eben“, antwortete Felix ruhig, zog den weitaus größeren Schüler aber trotzdem weiter hinaus auf den Gang vor dem Speiseraum.
Das Mädchen dankte Gino für seine Hilfe und gab ihm ihre schmale Hand. „Ich bin Leyla.“ „Und ich Gino, bist du auch neu hier?“ „Ja, heute ist mein erster Tag.“ Das Mädchen lächelte ihn freundlich an. Sie trug eine rote Bluse, grüne Jeans und rote Turnschuhe. Sehr dunkle, lange Haare umrahmten ihr Gesicht und fielen in lockeren Wellen über ihre Schultern. „Wir sehen uns“, sagte Gino und wandte sich ab, „ich muss dann mal zu Felix.“ Leyla nickte und verließ dann zusammen mit einem anderen Mädchen den Saal.
Sein Mitbewohner war bereits oben auf dem Zimmer, als Gino hineinkommt. „Was war das denn da unten mit diesem Carlo?“ Felix erzählt ihm, dass der Junge gerne andere provoziert. Nicht deswegen, weil er böse Absichten hat, sondern weil er beweisen möchte, dass er hier gerne das Sagen hätte, oder einfach nur Aufmerksamkeit erringen will. „Und warum ist er dann so friedlich mit dir mitgekommen?“
„Er weiß eben, was er an mir hat.“ Felix lächelte listig und erzählt dann, dass er Carlo im letzten Herbst beigestanden hatte, als dieser sich auf dem Weinfest mit einer Gruppe von auswärtigen Jugendlichen angelegt hatte. „Er hat so eine angeborene Arroganz und fällt dadurch leider immer wieder negativ auf.“ „Aha, übrigens - wie geht es denn morgen früh hier für mich los?“ „Ihr Neuen geht um 8 Uhr in das Zimmer von Frau Kern. Dort sagt sie euch ein paar Worte zur Schulordnung und so hochgestochenes vom „Geist der Freiheit und der Eigenverantwortung“ und so weiter. Wahrscheinlich ist der Vertrauenslehrer der Schule, Herr Ferber, auch mit dabei. Der zeigt euch dann euren Klassenraum. Ihr seid ja nur zu sechst, denn Sitzenbleiber gibt’s hier nicht. Jeder wird während des Schuljahres so getrimmt, dass er versetzt wird. Das soll das skandinavische System sein. Aber es ist schon gut so, wie es ist, finde ich.“